FRONTPAGE

Editorial Nr. 49

Editorial Nr. 49

April 2015

 

Liebe Literatur- und Kunstinteressierte, herzlich willkommen!

 

«Was ist die Schweiz und wofür steht sie? Ein Alpenland, dessen Bevölkerungsmehrheit stets im Mittelland lebte und dort die Voraussetzungen seines Reichtums schuf; ein Hirtenvolk, das nie Schafe gehütet und seinen Bauernstand inzwischen auf drei Prozent der Werktätigen reduziert hat; eine Selbstdarstellung als Kleinstaat mit Armbrust, Kühen und Käse, nicht zuletzt für Touristen aus den vielen Ländern, in denen Niederlassungen und Investitionen von Schweizern ihre Heimat zu einem der mächtigsten Wirtschaftsakteure haben werden lassen; eine leise Nostalgie nach der Industriegesellschaft, die auch schon seit zwei Jahrzehnten überholt ist von einem Dienstleistungssektor, der drei Viertel der Werktätigen beschäftigt; eine auch für EU-Verhältnisse ausserordentlich enge Vernetzung mit den Nachbarländern, die sich zugleich mit historischen Feindbildern dargestellt und zurückgewiesen sehen; eine kriegerische Rhetorik zur Verteidigung der Unabhängigkeit gegen die Freunde, welche die Schweiz umzingelt haben; reflexartige Appelle an Souveränität und Neutralität, ohne dass ihre völkerrechtlichen und realpolitischen Voraussetzungen und ihre Relevanz überdacht werden; der Stolz auf vier Landessprachen, obwohl das Englische deren Alltagspraxis verdrängt und viele Sprachgemeinschaften von Einwanderern weit mehr Angehörige haben als das Rätoromanische; die Gemeindeautonomie als Ideal, das durch Kooperationen und Fusionen sowie den Mangel an Verantwortung im Milizsystem dauernd unterlaufen wird; die Verklärung des Sonderfalls, als ob es nicht andere Alpenkammstaaten gäbe, andere Neutrale, andere Länder mit langen Friedensphasen oder direktdemokratischen Institutionen, als ob mehrsprachiges interkulturelles Zusammenleben nicht an vielen Orten alltäglich wäre, die Liste liesse sich verlängern…».

©  NZZaS, 15. März 2015.
Thomas Maissen «Schweizer Heldengeschichten – und was dahintersteckt», 15 Mythen vom Rütli bis zum Reduit. Verlag Hier und Jetzt, Baden 2015.

 

Einen gab es, der kein Mitläufer wie Millionen andere war, Georg Elser, ein Schreiner aus dem schwäbischen Königsbronn, der erkannt hatte, dass Hitler ins Verderben führt und den Tyrannen am 8. November 1939 im Münchner Bierbräukeller beseitigen wollte. Es misslang, weil Hitler 13 Minuten früher den Saal verlasse hatte. Elser war auf dem Weg in die Schweiz und wurde an der Grenze festgehalten, weil er Materialien mit sich führte, die den Beamten verdächtig vorkamen. Sie schickten ihn nach München zur Gestapo und dort erfuhr er, dass das Attentat misslungen war. Elser wurde gefoltert und man konnte nicht glauben, dass es keine Hintermänner gab. Dass er nur seinem Gewissen folgte. Er hätte die Welt verändert und Millionen von Toten verhindert.  

 

 

Der Literatur-Nobelpreisträger Tomas Tranströmer (siehe auch Literatur & Kunst, Archiv Nr. 9, 11/2011) ist im Alter von 83 Jahren gestorben. Seit seinem 1990 erlittenen Schlaganfall konnte Tranströmer nicht mehr auftreten, setzte sich seither intensiv mit dem Tod auseinander, der als einer auftritt, der auf die Meeresfläche schreibt: «Grosser und langsamer Wind / aus der Bibliothek des Meeres. / Hier darf ich ruhen».

 
Günter Grass (1927-2015), Autor der «Blechtrommel» und literarische Instanz von Weltrang, ist tot. Der Literaturnobelpreisträger starb am 13. April 2015  im Alter von 87 Jahren in Lübeck im Kreise seiner Familie, wie der Steidl Verlag in Göttingen mitteilte. Grass war der weltweit wohl bekannteste deutsche Schriftsteller der Gegenwart. Lebenslang schaltete er sich leidenschaftlich in gesellschaftspolitische Debatten ein. Gleich sein erster, 1959 erschienener Roman «Die Blechtrommel» (1979 auch verfilmt) wurde ein Welterfolg. 40 Jahre danach wurde Grass 1999 für sein Gesamtwerk mit dem Literaturnobelpreis geehrt. Unvergessen sind auch seine freundschaftlichen Beziehungen, zuletzt als Widerpart, mit dem kürzlich verstorbenen Fritz J. Raddatz (1931-2015) als damaliger Chefredaktor der Zeit.

 

 

Wir begrüssen Bernhard Gravenkamp als Verstärkung und Webmaster für unser Kultur-Webmagazin und freuen uns über seine Mitarbeit.

 

Was können Sie im April auf Literatur & Kunst entdecken?

«Das Geräusch der Dinge beim Fallen» von Juan Gabriel Vásquez. Leopold Federmair stellt den uns bisher eher unbekannten Schriftsteller vor. In manchen Aspekten ähnelt der mehrfach preisgekrönte Roman des Kolumbianers Juan Gabriel Vásquez dem reifen Werk von Mario Vargas Llosa, an dem sich der Jüngere offensichtlich geschult hat. Andererseits erinnert «Das Geräusch der Dinge beim Fallen» auch an Gabriel García Márquez. Verlag Schöffling & Co, 2015.

 

«Lob des Wildtiers im Winter» – soeben erschienene brandneue Gedichte aus der Slowakei. Ein aufregender Querschnitt, zeitgenössisch, engagiert und nachdenklich. Wunderhorn Verlag, Heidelberg, 2015.
Als Buchtipp empfehlen wir Ihnen das wichtigste Buch zur Ukraine-Krise: «Testfall Ukraine», Suhrkamp Verlag, 2015.

 

«Paul Klee in Bern» – Eine Ausstellung im Zentrum Paul Klee. Alexander Sury begibt sich auf Spurensuche. Buchtipp: «Paul Klee. Sonderklasse unverkäuflich».

 

«Paul Strand: Als die Bilder sprechen lernten» im Fotomuseum Winterthur: Daniele Muscionico zur fulminanten Foto-Ausstellung. Ferner: Interview von Rolf Breiner mit Joel Basman «Als wir träumten». Aktuelle Filmtipps, u.a. «Er hätte die Welt verändert. ELSER», ein Film von Oliver Hirschbiegel über den Hitler-Attentäter Georg Elser, der am 8. November 1939 im Münchner Bürgerbräukeller eine von ihm selbst gebaute Bombe zündete, die Hitler nicht traf, weil er 13 Minuten früher unvorhergesehen den Ort verliess.

 

«Neue Silhouetten» – Projekte von Marcel Meili, Markus Peter Architekten in City West Zürich, Park Books, 2015. Zwei Monografien russischer Architekten in Kooperation mit dem Moskauer Museum für Architektur, DOM publishers, 2015.

 

Widescreen: Joan Miro. Ausstellung im Bucerius Forum Hamburg.

 

Buchtipps: «Montecristo» von Martin Suter: Ein Videojournalist recherchiert hinter den Kulissen der schillernden Bankenwelt über Schein und Sein. Diogenes Verlag, 2015.
«Die talentierte Miss Highsmith»: vor 20 Jahren starb Patricia Highsmith, nun ist über sie eine Biographie von Joan Schenkar erschienen, die die Krimiautorin des Suspense näherbringt. Highsmith wohnte die letzten Jahre ihres Lebens in Tegna im Tessin, wo sie sich einbürgern lassen wollte. Diogenes Verlag, 2015.

«Kloster Sion. Réserve» – Ein Wein und seine Geschichte, über den Pinot noir; was sich mit dem Widumhof im aargauischen Würenlingen vor über 550 Jahren anbahnte, der von der Familie Meier als Lehensherren und später als Besitzer geführt wurde, eine Geschichte, die unter anderem die Villmerger Kriege überstand. Andreas Meier (Hrsg)., Weingut zum Sternen, Würenlingen. Wolfbach Verlag, 2014.

 

Theater Neumarkt  «Iphigenie auf Tauris», Premiere 26. März 2015.

 

«Unbekanntes Laos»: Reportage von Rolf Breiner.

 

Wir wünschen Ihnen einen wunderschönen Frühling mit anregenden Inspirationen von Literatur & Kunst. Machen Sie’s gut.

Herzlich

Ihre Ingrid Isermann, Herausgeberin

Editorial