FRONTPAGE

Editorial Nr. 72

Editorial Nr. 72

 

01/2018 Januar/Februar

 

Liebe Kunst- und Literaturinteressierte,
liebe Freunde, herzlich willkommen!

Ein neues gutes Jahr wünschen wir Ihnen allen mit Literatur & Kunst!

 

 

Zum Jahresanfang ein Rückblick und ein Ausblick, unser Kultur-Webmagazin erfreut sich regen Interesses, seit dem Beginn im März 2011 sind etwa 25 Mio. Klicks zu verzeichnen, allein im Dezember waren es etwa 459.000 Klicks! Das freut uns sehr, empfehlen Sie uns weiter!

 

 

Ein Rückblick gilt auch der stilvollen Kunstzeitschrift «Parkett», die nach 33 Jahren ein letztes Mal erschienen ist. 1984 in Zürich von Bice Curiger, Jacqueline Burckhardt, Dieter von Graffenried und Walter Keller als Herausgeber gegründet, mischte sie die internationale Kunstszene nachhaltig auf. Doch sie lebt weiter, auf der Website können 1500 Texte der letzten Jahre heruntergeladen werden. Zudem werden die Künstlereditionen in Museumsausstellungen weltweit zu sehen sein. Im Parkett-Exhibition-Space im Löwenbräuareal in Zürich hat die schweizerisch-iranische Künstlerin Shirana Shabazi eine Rauminstallation als Feuerwerk kreiert. Zahlreiche Künstler haben ein Goodbye für die letzte Edition 100/101 beigesteuert, wenngleich der Abschied vom «Parkett» doch schwerfällt.

 

 

Das vergangene Jahr wirbelte gehörig Staub auf mit der «MeToo-Kampagne», plötzlich werden Ereignisse sexueller Belästigung publik, die man eigentlich für überholt hielt. Dass es das mitnichten ist, hat die Hashtag-Kampagne bewiesen.
Gut, dass solche Übergriffe nicht länger als „Kavaliersdelikt“ definiert werden, sondern ernsthafte Konsequenzen nach sich ziehen. Das sollte ernsthaft zu denken geben.
In dem ersten Jahr seiner Präsidentschaft 2017 hat Donald Trump alles versucht, die Errungenschaften seines Vorgängers Barack Obama rückgängig zu machen, wie die Obamacare-Krankenversicherung. Gesellenstück ist seine Steuerreform, die unklausuliert Reiche erheblich bevorzugt und Arme noch ärmer werden lässt.
Der Mittelstand in Amerika steht schon seit längerem auf dem Prüfstand, doch was kümmerts die sog. Elite, die Trump mit Worten verschmäht, bei der er sich (siehe Steuergeschenke) unablässig anbiedert. Eine verkehrte Welt! Seine Anhänger halten (noch) zu ihm, Amerika geht es wirtschaftlich sehr gut, was aber nicht Trump anzurechnen ist, das zeichnete sich schon vorher gemäss Börsenspezialisten ab. Was kann ich Gutes an Trump finden? Wenig, ich denke, mit seinem Kriegsgeschrei Richtung Nordkorea etc. und seinem affenartigen Auf-die-Brust-klopfen ist es nicht getan. Für den Weltfrieden ist Trump eher eine Bedrohung. Aber man darf die Hoffnung nicht aufgeben, dass Menschen dazulernen können.

 

 

Farewell to Christa de Carouge

Sie war eine markante Figur in der Zürcher Szene, die Modeschöpferin Christa de Carouge, die im Januar 81-jährig verstorben ist. Es gibt einige Erinnerungen an sie, die eigenwillige Tibet-Liebhaberin, nicht zuletzt mein Mantel von ihr, schwarz, unverwüstlich, Jerseytuch mit einem grossen Perlmuttknopf, etwas für die Ewigkeit. Ein Mantel wie eine Behausung (siehe auch Archiv Literatur & Kunst, 09/2013).

 
Start-up «Republik»

Am 15. Januar ist sie gestartet, die Online-«Republik». Die Crew um Ex-TA-Journalist Constantin Seibt will eine verschworene Gemeinschaft ansprechen, versprochen wird ein investigativer, engagierter Journalismus mit Aktualitätsbezug. Das Unternehmen der verschworenen Gemeinschaft als Geschäftsmodell (Crowdfunding) setzt auch auf Pathos und Nähe zur Leserin, zum Leser, die hier „Verleger“ genannt werden und explizit zum Mittun, Kritik und feedback, aufgefordert werden. Eine demokratische Online-Zeitung? Mehrere Artikel täglich können sehr nahrhaft sein. Kommt man eher auf den Punkt, wenn der Artikel lang ist oder ist er bloss langatmig? (“Demokratie unter Irrationalen“). Das ist die Frage zur Länge der Beiträge. Fast Food ist es definitiv nicht, doch mitunter liegt in der Kürze eher doch die Würze. Vielleicht wäre ein Wochenmagazin für gehaltvolle Texte die bessere Variante? On verra! Doch es lohnt sich, u.a. die „Amerika-Reportage“ zu lesen, übersichtlich aufgegliedert, mit Fotos bestückt, vermittelt sie beunruhigende Eindrücke in Amerikas abgehängte untere Mittelschicht, die Trump wählte. Atemberaubend! www.republik.ch. 21.01.2018.
Viel Glück & Erfolg wünscht Literatur & Kunst.

 
Theater Neumarkt: Robert Menasses «Die Hauptstadt» – choreographiert als filmisches Bühnenspektakel von Regisseur Tom Kühnel

Die dreistündige Uraufführung des Stückes mit 24 Rollen fand am 18. Januar 2018 in Zürich in Anwesenheit von Robert Menasse im Theater Neumarkt statt. Eine ovale Ellipse bildet die Mitte des Theaterraumes, links und rechts sitzen alle in der ersten Reihe und im oberen Stock ebenfalls. Mit einem Knall beginnt das Stück, und auf der ovalen Ellipse wechseln sich Videobotschaften und Häuserszenen ab, der Auftakt zu einer höchst spektakulären Inszenierung des deutschen Buchpreisgewinners 2017 «Die Hauptstadt» von Robert Menasse. Auf regennassem Kopfsteinpflaster treffen sich die verschiedenen Protagonisten, Expats, Experten und Karrieristen, die den Regulierungswahn Brüsseler Bürokraten beklagen; durch die Szene geistert immer wieder ein (Phantom)-Schwein, das als Metapher für das Stück steht: Es gibt in Europa zuviele Schweine. Und immer mehr Wachstum: more of the same. Die Choreograpie ist die halbe Miete, um den vielfältigen Text zu transportieren, und das Ovale transportiert u.a. den Meeresstrand, ein Tennisfeld, die Europaflagge, Schweine im Schlachthaus und die Frauenquote in der EU-Hauptstadt. Die geniale Choreographie hält den divergierenden Text zusammen. Zum 50-jährigen EU-Jubiläum soll Auschwitz zur Hauptstadt Europas werden, denn Auschwitz liegt in Europa. Eine Mordsgeschichte mit Ironie, Satire und tieferer Bedeutung. Mit Marie Bonnet, Simon Brusis, Martin Butzke, Hanns Eichel, Maximilian Kraus, Miro Maurer, Sarah Sandeh.
Weitere Vorstellungen 26., 27. Januar bis 19. Februar 2018. theaterneumarktch

 

 

 

Zum Ersten:

No No No zu No-Billag!

Ignoranz als Konsens? Ist die Schweiz des Wahnsinns?
Biedermann, Brandstifter & Co. wollen die SRG, das
öffentlich-rechtliche Fernsehen und Radio, abschaffen
und die Meinungsfreiheit und -vielfalt auf dem Jahrmarkt
des beliebigen Wettbewerbs an den Meistbietenden
verhökern. Keine „idée suisse“! Die Pressefreiheit ist
bedroht, nicht nur in der Türkei und Russland,
sondern auch hier in der Schweiz! Über Gebühren kann man
reden. Über Programme auch. Die Schweiz, das Kleinod
mit vier Landessprachen mitten in Europa, ist ein Land
der Versicherungen, Auto, Haftpflicht, Haushalt, Leben.
Versichern Sie sich, dass die Presse- und Meinungsfreiheit
gewahrt bleiben. Keinen Sinn für Unsinn:
Nein zur Nonsense-Initiative No-Billag am 4. März 2018!

 

 

Zum Zweiten:

 

Cocktail für eine Leiche – oder warum No Billag Nonsense ist.

In Hitchcocks Klassiker «Cocktail für eine Leiche» (1948) wollen Studenten ausprobieren, wie ein Mord mitten unter Leuten unentdeckt bleiben kann. Sie legen den toten Kollegen in eine Holztruhe, auf der später ein Apéro serviert wird. Keiner entdeckt die Leiche, alle vermissen den Toten. Das makabre Spiel hat erst ein Ende, als der Professor (James Stewart) den beiden Tätern auf die Schliche kommt, durch seine empathische Logik.

Noch ist die SRG keine Medienleiche, doch wollen sogenannt libertäre Kräfte ihre Mutprobe, wie weit sie gehen können, die SRG mittels Publikumsbefragung! abzuschaffen, durchsetzen, indem sie vage Zukunftsaussichten der SRG prognostizieren, die keiner fachlichen Überprüfung standhalten. Eine Nonsense-Idee sondergleichen, die medienpolitisch ins Absurdum führt. Die Schweiz schafft sich als viersprachige Willensnation praktisch ab. Erfüllt sich damit nun Friedrich Dürrenmatts Diktum, dass sich die Schweiz eines Tages wie ein Würfelzucker im Tee selbst auflöst? Denn einen Plan B ausser vagen Proposals, die Info- und Sportsendungen per Abo zu beziehen, haben die Initianten nicht. Info + Sport, Kultur überflüssig, wer schaut schon sowas? Sternstunden – die gibt’s eh nur im Sport! Quote! Markt! Nachfrage! Ehtik? Fehlanzeige. Aufklärung? Wozu? Der Markt regelt doch alles… Das Volk als Souverän ist mitnichten ein Garant, Millionen können irren. Zuletzt siegt das Gute?

Aber nur mit «a little help from my friends», Alliierte sind wir nun selbst, das öffentlich-rechtliche Radio und Fernsehen zu retten. Jede/r einzelne von uns. Für die kostbare Willensnation Schweiz mit unabhängiger Berichterstattung, die nicht nach der Windfahne des Marktes tanzen muss.

Darum: Nein zur Nonsense-Initiative No Billag!

 

 

Zum Dritten:

 

Eigentlich, ja eigentlich sollte man sich über die No Billag-Initiative nicht gross aufregen, gar nicht drum kümmern… das erledigt sich doch von selbst. Dieser Unsinn und Schwachsinn, ausgesprochener Nonsense, den sich einige Witzbolde beim Bier ausgedacht haben, die am liebsten den Staat (also uns alle) abschaffen würden, warum konnte das bloss so viele Leute auf Trab bringen? Aber: es steht einfach zuviel auf dem Spiel. Dass einige Spielverderber, die Roulette mit der Freiheit spielen und mit dem Portemonnaie winken, einige Spielverderber zu viel sein könnten. Denn ganz ohne Gebühren geht die Chose nicht, das ist wohl allen klar. Dass es qualifizierte Medien
für die demokratische Meinungsbildung und Freiheit (sic!) braucht, scheint im globalisierten Markt nicht allen klar zu sein. In totalitären Staaten gibt es keine Demokratie, keine freiheitliche Meinungsbildung. Ob Marktregulierung oder totalitäres bzw. libertäres Programm, hier sind sie auf dem falschen Dampfer, wie der Direktor des Gewerbeverbandes Hans-Ulrich Bigler (FDP), der uns ein X für ein U vormachen will. Plötzlich sollen nämlich Subventionen vom Bund für einige Sendungen doch erlaubt sein und im übrigen könne die SRG sich ja auf dem freien Markt mit der Werbung finanzieren! Da hat man noch Töne… die Werbung auch im Radio wie bei den Privaten, als ob die dann noch zum Zug kämen. Dabei ist gerade die Werbung ein Knackpunkt und vielen ein Dorn im Auge. Besser wäre die SRG mit weniger Werbung, aber Gebühren, auch für die privaten Radio- und TV-Programme. Eine Reduktion auf 365 Franken ist schon beschlossene Sache, spät, aber nicht zu spät. Und eine neue Gestaltung des SRG-Programms wäre wünschenswert. Warum hört man nichts darüber?

Mit allen guten Wünschen für die SRG –NEIN ZUM NO BILLAG-NONSENSE!

Ihre Ingrid Isermann

 

 

Was können Sie im Januar auf Literatur & Kunst entdecken?

 

Wir stellen Ihnen illustre Gedächtnisliteratur vor: «Die Jahre» von Annie Ernaux, die ihre vergangenen Jahre Revue passieren lässt und sich als «Ehtnologin ihrer selbst» bezeichnet. Suhrkamp Verlag, 2017. Der Bestseller aus Frankreich. Lesenswert!
Ingeborg Bachmann – ihre divenhaften Auftritte und frühe Berühmtheit faszinieren
noch heute. Ina Hartwig schaut hinter die Kulissen und entdeckt in zahlreichen Gesprächen mit Zeitzeugen wie u.a. Hans Magnus Enzensberger oder Henry Kissinger eine andere Persönlichkeit, die als Dichterin mit Witz und lebenspraktischer Klugheit überrrascht. Ina Hartwig: «Wer war Ingeborg Bachmann?». Eine Biographie in Bruchstücken. S. Fischer Verlag, 2017.

«Die Republik Nizon» – Eine Biographie in Gesprächen, geführt mit Philippe Derivière, präsentiert den Solitär der deutschsprachigen Literatur und sein Denken. In intimen Gesprächen gibt Paul Nizon einen einzigartigen Einblick in seine Werkstatt und sein Leben als kompromissloser Schriftsteller in Paris. Haymon Verlag, 2017.

 

 

«Nur eine kleine Maulbeere. Aber sie wog schwer» Michiko Kaiserin von Japan gewährt seltene Einblicke in ihr Seelenleben und schlägt mit ihren Gedichten eine Brücke zwischen Ost und West. Herder Verlag, 2017.

 

 

In ihrem künstlerischen Schaffen als Grafikerin, Illustratorin, Zeichnerin und Malerin spiegelt sich fast ein ganzes Jahrhundert. Die Berlinerin Jeanne Mammen wurde jetzt wieder entdeckt. Ihre Arbeiten sind in der Berlinerischen Galerie zu besichtigen (bis 15. Januar 2018). Ein Bericht von Rolf Breiner vor Ort.

Georg Baselitz in der Fondation Beyeler, Riehen b. Basel. Ausstellung zum 80. Geburtstag. Ein Augenschein vor Ort von Niklaus Oberholzer.

 

 

«Lucky»:
Am Filmfestival Locarno stakste durch eine karge Westernlandschaft: Harry Dean als «Lucky» in seiner letzten Rolle. Wenige Wochen später verstarb der 91-jährige Altstar – am 15. September 20117 in Los Angeles. Regisseur John Carroll Lynch hatte ihm mit «Lucky» ein filmisches Denkmal gesetzt. Rolf Breiner traf den Mann aus Colorado in Zürich anlässlich des Kinostarts «Lucky». Interview mit Regisseur Christoph Schaub. Vorschau auf die 53. Solothurner Filmtage. Aktuelle Filmtipps.

 

 

Man musste lange auf die Fortsetzung des Inventars der Werke von Herzog & de Meuron warten. 2009 erschien der vierte Band, dessen Layout sich von demjenigen der ersten drei Bände abhob. Das für die Gestaltung verantwortliche Team betreute nun auch den jetzigen Band unter Beibehaltung des Aufbaus, der wie schon beim vierten Band nicht restlos zu überzeugen vermag. Gerhard Mack, Birkhäuser Basel, 2017. Rezension von Fabrizio Brentini.
Ferner Architektur-Buchtipps:
Christian Schittich. «Gebäude, die Zeichen setzen».
Ein Blick auf drei Jahrzehnte Architektur, Edition Detail, 2017
Architektur-Guide «Caracas», DOM publishers, 2017.

 

 

Georgien: Das Feuer des Prometheus.
Eindrücke und Begegnungen in einem vielschichtigen, kleinen Land im Aufbruch, das so leidenschaftlich in den Westen drängt, wie es Geschichten schreibt und erzählt. Eine Natur- und Kulturreise nach Georgien, die von der Vergangenheit ins heutige Georgien führt. Eindrückliche Reportage von Ingrid Schindler.

 

 

Fotogalerie Bildhalle Zürich:
Zwischen 1977 und 1985 lebte der Schweizer Fotograf Willy Spiller in New York und LA. Fasziniert durch Tempo und Energie der 70er und 80er Jahre liess er sich mit seiner Kamera durch die Strassen treiben und bannte die vergangene Welt in all ihren Facetten aufs Bild, eine eigentliche Commedia dell’arte. Die Ausstellung in der Fotogalerie Bildhalle zeigt seinen profunden Sinn für die Schönheit des Alltags.

 

 

Not Vital:
Lange wurde er als Geheimtipp gehandelt. Seit seinem Erwerb von Schloss Tarasp im Unterengadin und der kürzlichen grossen Werkschau im Bündner Kunstmuseum, Chur, ist damit Schluss. Not Vital gilt neben Alberto Giacometti und Giovanni Segantini als bekanntester Künstler des Engadins und dies zu Recht. Von Simon Baur.

 

Wir wünschen Ihnen allen ein gutes Neues Jahr, Glück und Gesundheit,
und bleiben Sie uns treu!

 

Herzlich
Ihre Ingrid Isermann, Herausgeberin

Editorial