Mai/Juni 2018
Liebe Literatur- und Kunstinteressierte, liebe Freunde,
herzlich willkommen!
Digital Natives als Tools?
Professor Markus Gross von der ETH Zürich jubiliert: Die digitale Parallelgesellschaft schreitet voran. Zürich bietet sich als neues Silicon Valley an. Internetfirmen wie Google mit 2500 Mitarbeitenden wollen sich in Zürich verdoppeln. Sie ziehen die IT-Talente an, zahlen aber keine Steuern. Die versickern irgendwo im Niemandsland, etwa 50 Millionen gehen der Schweiz so verloren. Die EU will europaweilt dagegen angehen. Davon könnte auch Zürich profitieren. Die Roboter kommen, Digitalisierung feiert Urständ. Doch schon jetzt schauen sich Menschen nicht mehr in die Augen, sie gucken aufs Smartphone, sind mit Apps, Influencer & Co, beschäftigt. Von Kindesbeinen an. Der Mensch als Konsumgut. (Nach-)Denken als letztes Abenteuer?
Dass eine zu intensive Nutzung digitaler Geräte negative gesellschaftspolitische Auswirkungen hat, unterstreicht auch Michael Sandel, Professor für Philosophie an der amerikanischen Harvard-Universität: «Wir sind zu Tode abgelenkt, soziale Netzwerke zerstören unser gesellschaftliches Leben». Der Aufstieg des Populismus sei eine Reaktion auf die Verarmung des öffentlichen Diskurses. Die Fähigkeit, aufmerksam zu sein, wird untergraben durch die digitalen Geräte und die dazugehörige Technologie. (NZZ, 24. April 2018).
Frieden? Frieden!
Der Krieg in Syrien nimmt kein Ende. Diktator Bashar al-Assad plant eine Enteignung und Neustrukturierung des Besitzes syrischer Flüchtlinge, die sich dagegen kaum wehren können. Damit will er auch die Rückkehr von Flüchtlingen verhindern. Das ist an Grausamkeit und Zynismus nicht zu überbieten. Man sollte Assad vor das Kriegsgericht in Den Haag stellen, wie seinerzeit die Balkan-Kriegsverbrecher. Warum unterstützt Putin Assad? Der Iran lauert im Hintergrund um die Vormachtstellung im Nahen Osten. Wenn Trump das Atomabkommen mit dem Iran kündigt, erweist er Israel einen Bärendienst. Da hilft es nicht, die amerikanische Botschaft nach Jerusalem zu verlegen. Solange Ost-Jerusalem auch die Hauptstadt der Palästinenser ist, ist dagegen nichts einzuwenden. Wohl aber gegen Israels Siedlungspolitik. Jede neue Siedlung in den besetzten Gebieten sollte ebenfalls eine zweite neue Siedlung für die Palästinenser garantieren. Wenn eine Zwei-Staatenlösung für das zerrissene Land überhaupt noch vorgesehen ist? Das sollte Trump sich vornehmen, um Frieden in dieser umkämpften Region zu schaffen.Vielleicht sollte Israel sich auch einen neuen Bündnispartner suchen, vielleicht Saudi-Arabien, das das Existenzrecht des Staates unterstützen will. 70 Jahre Israel: Shalom!
Ihre Ingrid Isermann
Theater Neumarkt: «Café Populaire» – Vom Klassenkampf zum Populismus
Die Bühne sieht aus wie eine Puppenkiste, in der vier Figuren über Herkunft und Klassenzugehörigkeit schnöden, bitterböse Zitate fallen lassen und sich über Arme lustig machen. Geht das? Klar, man ist ja unter sich im Theater, «denn das können sich Arme nicht leisten». Die 35-jährige, in München geborene Autorin und Regisseurin Nora Abdel-Maksoud führt mit Satire, Ironie und tieferer Bedeutung die aktuelle Lage über soziale Gerechtigkeit, Armut und Klassenbewusstsein vor. Svenja (Eva Bay), aus kleinbürgerlichen Kreisen mit Kunststudium, arbeitet als Clownin in einem Sterbehospiz im Dorf Blinden und möchte das Gasthaus Zur Goldenen Möwe übernehmen, das der Hospiz-Bewohnerin Püppi (Simon Brusis) gehört, die genug hat vom «zynischen Oberschicht-Zirkus». Aram (Maximilian Kraus) tritt als Page auf und ist im Prekariat-Dienstleistungsektor tätig, putzen, massieren, bedienen, Uber-und Pizza-Fahrer. Svenja kämpft mit Don (Marie Bonnet), ihrer inneren Stimme, die dem vulgären Kapitalismus Ausdruck verleiht: «Es gibt Hochkultur und Tiefkultur. Punkt. Die populären Klassen lieben Boulevard, Shakira, Richard David Precht». Abdel-Maksoud, Beste Nachwuchsregisseurin 2017 und Hübner-Preisträgerin, hält dem neoliberalen Klassensystem den Spiegel vor, in dem Lohnarbeit zum Privileg wird.
Uraufführung 27. April 2018, weitere Veranstaltungen siehe www.theaterneumarkt.ch
Bohème und Avantgarde: Bacon – Giacometti in der Fondation Beyeler
Mit Alberto Giacometti (1901-1966) und Francis Bacon (1909-1992) präsentiert die Fondation Beyeler zwei Jahrhundertkünstler der Moderne, deren Vision die Kunst bis heute beeinflusst hat. Zum erstenmal widmet sich eine Museumsausstellung den beiden Künstlerpersönlichkeiten und beleuchtet ihre Beziehung zueinander. Die Fondation Beyeler hat das Wagnis unternommen, die beiden gegensätzlichen Künstler näherzubringen. In einer Video-Installation erhält man einen Einblick in das Atelier von Giacometti und Bacon, Der Schweizer Bildhauer und der irische Maler lernten sich 1963 anlässlich einer Ausstellung von Giacometti in der Tate Gallery, London kennen. Die Ausdruckskraft der Skulpturen Giacomettis korrespondiert mit den Gemälden von Francis Bacon, der die existentiellen Befindlichkeiten der menschlichen Figur meisterhaft auf die Leinwand bannte. 29.4.-2.9.2018. (siehe auch Juni-Ausgabe Literatur & Kunst).
www.fondationbeyeler.ch
Was können Sie im Mai/Juni auf Literatur & Kunst entdecken?
«Die Tagesordnung» – Der französische Autor Éric Vuillard seziert virtuos die unheilvollen Mechanismen des Aufstiegs der Nationalsozialisten 1933, Matthes & Seitz, Berlin 2018. Das Buch wurde mit dem renommierten Prix Goncourt ausgezeichnet.
Die Hamburger Autorin Lotte Schwarz berichtet über Emigration und das Gastland Schweiz «Die Brille des Nassim Nachtgeist», Limmat Verlag 2018.
Kaum bekannt sind hierzulande Lyriker aus Syrien: «Deine Angst – Dein Paradies», Wunderhorn Verlag 2018. Was sie zu sagen haben, lesen Sie hier auf Literatur & Kunst.
Ausserdem stellen wir Ihnen die Lyriker Ilma Rakusa «Impressum: Langsames Licht», Droschl Verlag 2017 und Pietro DeMarchi «Das Orangenpapier/La carta delle arance», Limmat Verlag 2018, vor.
Eine sagenhafte Retrospektive von Bruce Nauman im Schaulager Basel, die man nicht verpassen sollte! Simon Baur war für uns vor Ort. Kunst-Buchtipp: «Museum der Obsessionen», Harald Szeemann, Scheidegger & Spiess, 2018.
Rolf Breiner interviewte den Shootingstar des deutschen Kinos Franz Rogowski mit seinen beiden Filmen «Transit» und «In den Gängen». Aktuelle Filmtipps.
Valerio Olgiati. Der Name ist Programm. Neue Monografie über die Architektur-Strukturen 60er und 70er Jahre, Verlag Simonett & Baer,
2018. Fabrizio Brentini verfasste die Rezension.
Architektur-Buchtipps: «Der Glaube an das grosse in der Architektur der Moderne der 60er und 70er Jahre», Park Books 2018. «Artec Architekten», Park Books 2018.
Eugen Gomriger: «poema» – Gedichte und Essays, Nimbus Verlag, 2018. Gomringers Gedicht «avenides» erregte in den Medien viel Aufsehen; hier schreiben verschiedene Autoren Essays über das konkrete Gedicht und über die Wortkunst von Eugen Gomringer. Das Gute ist, dass man Konkrete Poesie und die Kommentare dazu mehrmals lesen und immer wieder etwas Neues darin entdecken kann. Mit Beiträgen von u.a. Max Bill, Bernhard Echte, Zsuzsanna Gahse, Nora Gomringer, Ingrid Isermann, Walter Jens, Sibylle Lewitscharoff, Kurt Marti, Peter von Matt, Oskar Pastior, Ilma Rakusa. Rezension von Andreas Kohm über den lesenswerten Essay-Band. Nimbus-Verlag, Wädenswil 2018.
Ein spezieller Kunst-Tipp: Jürgen Partenheimer! Wer ihn noch nicht kannte, sollte ihn kennenlernen. Einen so poetischen Maler, der sich den Lyrikerinnen und Lyrikern verbunden fühlt, findet man selten. Zurzeit Ausstellung in der Galerie Häusler Contemporary Zürich, bis 19. Mai 2018.
Reportage Städtetrip: Praha – wunderbar! Kaffeehauskultur, Kafka und Kubismus – Prag aus ungewohnter Perspektive… Lassen Sie sich überraschen, viele Reisetipps und Anregungen für Sie …
Wir wünschen Ihnen einen schönen Frühling mit Literatur & Kunst.
Machen Sie’s gut!
Herzlich
Ihre Ingrid Isermann, Herausgeberin