September/Oktober 2021
Liebe Kulturinteressierte, Freundinnen und Freunde
Herzlich willkommen auf Literatur & Kunst!
Die Ampel-Koalition steht vor der Verwirklichung.
Auf einen Nenner gebracht, könnte man die drei Parteien so definieren: Die FDP will ein gutes Leben, die Grünen eine gute Umwelt, die SPD ein gerechtes Leben. Das miteinander in Einklang zu bringen, dürfte nicht nur möglich, sondern auch nötig sein. Und so ist zu hoffen, dass Deutschland den Aufschwung mit den jungen Parteien und der traditonsreichen SPD schafft, auf Augenhöhe und mit Europa im Blick.
Angela Merkel führte die CDU/CSU 16 Jahre lang, den Rückhalt in ihrer Partei hatte sie nie richtig, denn ihr lag nicht eine Parteipolitik am Herzen, sondern das Land. Deutschland. Und so hat sie in der Grossen Koalition mit der SPD sehr viele Anregungen und Ideen dieser Partei in die CDU/CSU übernommen, die das Land weitergebracht haben. Und die ohne die Grosse Koalition nicht möglich gewesen wären. Die alten Konservativen murrten zwar, aber solange sie Erfolg hatte, und den hatte sie, hielten sie die Füsse still, mehr oder weniger.
Es scheint eine Ironie der Geschichte zu sein, dass ihr alter Kontrahent Friedrich Merz heute noch die Lichtfigur der jungen CDU sein soll, die sich nach ihrem konservativen «Kerngeschäft» zurücksehnt. Doch was soll das bedeuten? Nahe an die AfD heran? Das ist keine konservative Partei, das ist eine nationalistische Ansammlung, die die EU in Frage stellt, wie auch die NATO und die hauptsächlich von fremdenfeindlichen Impulsen getrieben ist.
Dahin könnte sich die CDU heute kaum wenden, wie wollen sie ihre Wähler:innen zurückholen, die in den letzten Wahlen zur SPD, den Grünen und der FDP übergelaufen sind. Nicht ohne Grund, denn hier erwarten sie Aufschwung, Modernisierung und neue Ideen. Die CDU/CSU hat sich zu lange auf ihren Lorbeeren ausgeruht, die sie Angela Merkel verdankt, die sie nie richtig akzeptiert hat und insofern ist es die CDU/CSU selbst, die Nachholbedarf hat in Sachen Realitätsfindung. Und vielleicht auch Dankbarkeit gegenüber Angela Merkel. Sonst hätte die «Entkernung» schon viel früher stattgefunden.
Ingrid Isermann, 16. Oktober 2021
Deutschland hat gewählt – nach der Wahl ist vor der Wahl
Die SPD liegt mit 25.7 % vor der CDU/CSU mit 24.1 % Stimmenanteil. Olaf Scholz ist demzufolge der Wahlsieger, wenn auch weniger deutlich als vorausgesagt, die CDU hat auf der letzten Strecke noch aufgeholt, indem man ein rot-grün-rotes Bündnis als Schreckgespinst an die Wand gemalt hat. Die Linke hat nur knapp die 5%-Hürde geschafft und kommt als Koalitionspartner der SPD nicht in Frage, was nun als «Erfolg» der CDU gefeiert wird, das Bündnis verhindert zu haben. Denn sonst gibt es nicht viel zu feiern, doch Armin Laschet hält an seiner Kanzler-Vision fest und will trotz seiner Wahlniederlage eine Koalition mit den Grünen und der FDP bilden, die Prozentpunkte hinzugewonnen haben, anders als die geschlagene CDU/CSU. Die beiden kleineren Parteien haben angekündigt, zuerst miteinander Koalitionsgespräche zu führen, was ein Novum darstellt. Doch die wiedererstarkte SPD hat gute Chancen, mit ihrem verlässlichen Kandidaten Scholz den Bundeskanzler zu stellen. Das Wählervotum, das seit einiger Zeit für die SPD spricht, besonders für ihren Kanzlerkandidaten, zu missachten, käme einer korrupten Entscheidung gleich. Die Verhandlungen möchte die SPD schnell und effizient führen, um eine neue Bundesregierung noch vor Jahresende vorstellen zu können.
27. September 2021
Der September macht’s spannend: es stehen am 26. September Bundestagswahlen in Deutschland an, nach 16 Jahren verlässt Angela Merkel, die erste Frau der wiedervereinigten Bundesrepublik als Kanzlerin, das Schiff. Es ist völlig offen, wer das Rennen machen und wer Kanzler oder Kanzlerin wird. Und man wird sehen, ob man Angela Merkel vermissen wird und was ihre Regierungszeit bewirkt hat. Europa lag ihr am Herzen. Bon voyage!
Nach dem Abzug der Amerikaner aus Afghanistan ist die Lage desoleter denn je. Taliban und IS kämpfen um die Macht eines islamistischen Staats. Wie sich die Lage für die weibliche Bevölkerung zukünftig gestaltet, ist eine bange Frage. Afghanistan kann nun die Geschicke des Landes selbst in die Hand nehmen. Ein Armutszeugnis sondergleichen bleibt jedoch, dass Hunderttausende von Menschen das Land lieber verlassen als unter der Herrschaft der Taliban zu leben, somit ein grösseres Versagen als das der Amerikaner, die den Krieg beendet haben.
Aufklärung – Objekt und Subjekt
Nach dem Abbruch des Rahmenvertrages mit der EU hüllt sich der Bundesrat in Schweigen. Da tut sich nichts. Ist das im Interesse der Schweiz, während sich die Nachteile des Abbruchs der Handelsbeziehungen mit der Europäischen Union bereits realisieren? Man greift sich an den Kopf, der bekanntlich rund ist, dass man die Richtung wechseln kann. Sind wir in Geiselhaft der SVP? Es braucht mutige und kreative Köpfe, auch im Bundesrat, und keine Scheintoten in der Politik. Erneut wettert Blocher gegen die EU. Die Schweiz in Europa isoliert hat er schon, was kommt demnächst? Eine «Hochfinanz-Singapur-Schweiz»? Mit systemischer Blindheit scheinen auch die Medien geschlagen, die eigentlich Aufklärung betreiben sollten…
Ihre Ingrid Isermann
Und was können Sie im September/Oktober auf Literatur & Kunst entdecken?
Adelheid Duvanel «Fern von hier». Der Zürcher Limmat Verlag hat erstmals anlässlich des 25. Todestages eine Gesamtausgabe ihrer Erzählungen und Kurzprosa herausgegeben. Zeit, diese grossartige Schweizer Autorin zu entdecken.
Mithu Sanyal «Identitti». Eine gnadenlos witzige Identitätssuche, die nichts und niemanden schont, voller Selbstironie ohne schwarz-weisse Klischees. Hanser Verlag, 2021.
Lyrik fliegt höher und in den Weltraum: «COSMOS». Die Texte der rumänischen Dichterin Dana Ranga nehmen Sie mit in luzide Welten. Leo Pinke ist ein neuer Name in der Lyrikwelt, er fährt hart am Kurs: «Schräg am Federbug». Verlag Matthes & Seitz, 2021.
Georg Sesslen orientiert Sie in seinem Essay über «Heimaten. Gefährliche Sehnsucht», eine sehenswerte Ausstellung im Museum für Kunst und Gewerbe, Hamburg.
Das Zurich Film Festival (ZFF) ist zurück! Viva! Die 17. Ausgabe findet vom 23. September bis 3. Oktober statt, auch im neuen Kongresshaus Zürich. Der Eröffnungsfilm «Und morgen seid ihr tot» des Regisseurs Michael Steiner über eine Geiselnahme Schweizer Touristen könnte aktueller nicht sein. Auch James Bond 007 meldet sich zurück, «No Time To Die» feiert am gleichen Tag in London wie am ZFF seine Schweizer Premiere. Die Schauspielerin Sharon Stone wird mit dem Golden Icon Award des ZFF ausgezeichnet. Aktuelle Filmtipps.
Architekturtipps: Monografie Roger Boltshauser. Sigurd Lewerentz. Architect of Death and Life. Sigurd Lewerentz. Pure Aesthetics. St. Mark’s Church. Archetypes. On and around architecture. Crafting Wood, Park Books 2021. Architekturführer Japan, Architectural Guide Peking, DOM publishers 2021.
Widescreen:
Museum Rietberg, Japan
«Liebe, Kriege, Festlichkeiten – Narrative Kunst aus Japan». Flow – Erzählen im Manga. Ausstellung und Veranstaltungen, Literatur und Teezeremonie. 10. September bis 5. Dezember 2021.
Marion Löhndorf lebt in London und kann einiges über England, Sitten und Gebräuche erzählen. Das macht sie vorzüglich in ihrem neuen Buch «Geschüttelt, aber ungerührt. Was England anders macht». Wenn Sie mehr wissen wollen, lesen Sie Ingrid Schindlers aufschlussreiche Rezension! Verlag Zu-Klampen, 2021.
Sie gehören zu England: Die «Beatles» schrieben Pop-Musikgeschichte, die Fab Four aus nächster Nähe fotografiert hat der renommierte Fotograf Harry Benson. Ikonische atmosphärische s/w-Aufnahmen aus den frühen 60er Jahren. Taschen Verlag.
Leben auf 2610 Metern über dem Meer als erste Hüttenwartin im Engadin? Für Irma Clavadetscher war das 40 Jahre lang zusammen mit ihrem Mann und den zwei
Kindern ihre Heimat. Der Autorin Irene Wirthlin hat sie in langen Gesprächen ihre
spannende Lebensgeschichte erzählt. Verlag hier und jetzt, 2021.
Paul Nizon trug sich ein Leben lang mit einem Projekt herum, dem «Nagel im Kopf».
Nun ist es der Titel seines neuesten Journal 2011-2020, Suhrkamp-Verlag, 2021.
Was es damit auf sich hat, erfahren Sie auf unserer Carte Blanche.
Donna Leons Commissario Brunetti ist die Konstante der Venedig-Krimis. «Gefährliches Begehren» lässt niemanden kalt, besonders wenn es dabei um Flüchtlinge und Menschenhandel geht. Diogenes, 2021.
Julieta Schildknecht hat den bekannten Schweizer Auktionar, Kurator und Fotografen Simon de Pury über sein fulminantes Wissen befragt. Für Szenekenner und solche, die es werden wollen.
Wir wünschen Ihnen gute Unterhaltung und einen wunderschönen Herbst mit Literatur & Kunst.
Ihre Ingrid Isermann, Herausgeberin