FRONTPAGE

«Eine Etikette am Zeh»

Von Hedi Wyss

Zwei nackte Füsse. Die Zehen emporgestreckt, die Fusssohlen blassrosa bis gelblich. Füsse wie alle Füsse, fünf Zehen, leicht hervorstehende Knochen, schlanker werdende Fesseln. Eine Etikette an einer Schnur an einer der Zehen befestigt. Sah ich das wirklich, oder war es wie eine Erinnerung? Leichenfüsse. So sehen sie, etikettiert und nummeriert, unter weissen Laken hervor. Wenn sie aus Schubladen in Kühlräumen herausgefahren werden zur Identifikation. Solche Bilder kenne ich gut, eine solche Szene habe ich aber eigentlich nie wirklich erlebt.

 

Das Bild von den etikettierten Füssen habe ich aus Filmen und Fernsehkrimis. Wie das der verdrehten Leiche mit offenen Augen, die quer übers Bett hingeworfen liegt, oder verschmutzt halbnackt im Wald. Frauenleichen mit langen, zu beiden Seiten des Kopfes hin fliessenden Haaren. Oder ein Mann, vornübergesunken am Schreibtisch und hinter ihm ein Fotograf und andere Männer in Regenmänteln, die mit professioneller Gleichgültigkeit zusehen, wie Beamte in weissen Ueberzügen Fingerabdrücke sichern und seltsame Messungen am Boden vornehmen. Krimis. Krimileichen sind vertraut. Auch denen, die nie eine wirkliche Leiche gesehen haben. Sie schocken uns nicht. Sie gehören zur Geschichte. Und die Geschichte gehört zur Unterhaltung. Die Leiche ist eigentlich Nebensache. Sie ist soviel wie ein Rätselwort, das es zu deuten, dessen Buchstaben es umzustellen gilt, bis der Aha-Effekt eintritt. Wer ist es gewesen? lautet die Frage. Warum hat er oder sie das getan? Dass diese Fragen nie unbeantwortet bleiben, lässt einen gelassen im Stuhl sitzen.

Auch wenn beim Showdown am Schluss oft fast noch eine Katastrophe eintritt und das Gute zu unterliegen scheint, wird doch die Ordnung dann wieder hergestellt. Die «Ordnungshüter» (nomen est omen) kommen nie wirklich zu spät. Sie sind – auch wenn sie menschliche Schwächen haben – schlussendlich doch allen überlegen. Sie finden den Mörder. Auch wenn sie den Toten oder die Toten nicht wieder lebendig machen.

Seltsam eigentlich, dass Mord und Unterhaltung so gut zusammengehen. Nicht Tod, nicht Unglück, nicht Massenkatastrophe, selten Krieg. Aber Mord von Unbekannt und das Aufspüren des Täters. Warum eigentlich? Und warum ist der Schrecken des Todes bei all dem so unfühlbar, so fern?
Wenn die Leiche gefunden ist, macht sich der Kommissar meist sofort daran, die Beteiligten zu befragen. Sogar junge Geliebte des Toten, Eltern, Witwen zerdrücken dann oft nur eine leise Träne oder nicht mal das und geben Auskunft, als wäre nichts geschehen. Keine Zusammenbrüche, keine Heulkrämpfe. Und auch die Fahnder bleiben seltsam unberührt. Ein leichtes Zucken mit dem Mundwinkel vielleicht. Ein kurzes Schweigen. Die ernste Miene, die sie zur Schau tragen, gilt nicht so sehr der Tatsache des Todes als den Zeugen, die einvernommen, den Verdächtigen, die verhört werden. Es ist die Miene einer Oberlehrerin, die einen unartigen Jungen überführt. Oder eines Pfarrers, der ein bisschen bekümmert ist über die Sünden seiner Schäfchen. Die Hände, vergraben in den Manteltaschen, die Krawatten, die, auch wenn einer im Laufschritt verfolgt wird, nur dezent hinterher flattern, betonen die Korrektheit und Wichtigkeit der Kriminalbeamten. Dass immer öfter auch Frauen als Fahnder auftreten, ist zwar etwas verwirrlich, löst sich aber dadurch, dass diese Frauen meist aussergewöhnliches Format haben. Sie bestätigen mit Schnelligkeit und Durchsetzungskraft die Regel, dass dies die Domäne der starken Persönlichkeiten ist.

Wer also bei Nüsschen, Bier und Cola zur Entspannung sich einen Krimi ansieht, hat den Schrecken des Todes, trotz Leichen und – nur manchmal auch – Blut, nicht im Nacken. Der fürchtet sich fast nur zum Spass, um gleich wieder getröstet zu werden. Von der Fahnderfigur, die einem – handelt es sich um Serien – ohnehin so vertraut ist wie ein alter Freund. Sie ist zur Stelle, wenn das Unheil einbricht, sie hebt den Zeigefinger und sagt, wo es durchgeht. Auch denen, die, wie so oft im Krimi und so selten im Leben, in den teuersten Villen und den glänzendsten Autos sitzen und sich nun plötzlich einer solchen Untat gegenübersehen.

Da gibt es nur Abstecher in die Sümpfe und Unterwelten. Niemand, wie in der Realität sonst meistens, muss darin verharren. Und wenn der Fall gelöst ist, ist auch die Trauer um einen Toten verschwunden.

Warum eigentlich bin ich so erschrocken, als ich die nackten Füsse in meinem eigenen Schlafzimmer als Füsse einer Leiche sah und fantasierte? So sehr, dass mir das noch tagelang nachging? Weil im wirklichen Leben der Tod immer ein schreckliches, unlösbares Rätsel bleibt. Auch ein ganz gewöhnlicher Tod.

Sogar der Tod eines sehr alten Menschen, von dem alle sagen, es sei «ihm gut gegangen». Das Verschwinden, das absolute Weg-Sein ist so unerhört!

Viel mehr noch ist ein Mord etwas, das als Rätsel nie zu lösen ist. Auch wenn der Täter gar bekannt, das Motiv klar ist. Genauso ist es mit Unfall und Selbstmord. Oder mit dem massenhaften qualvollen und sinnlosen Sterben von Menschen in Kriegen und Konflikten oder als Folgen von Armut und Ungerechtigkeit in Ländern der Dritten Welt. Das alles kann man nur bewältigen, wenn man verdrängt und vergisst.

Könnte es sein, dass die Fahnderfiguren im Krimi uns mit ihrer Sicherheit und scheinbaren Fürsorge ein wenig beim Selbstbetrug helfen? Dass sie – wie der Pfarrer, der für uns ein tröstendes Jenseits erfindet – für uns eine gesellschaftliche Wirklichkeit fingieren, in der alles seine Ordnung hat? In der sogar der gewaltsame Tod nur ein Rätsel ist, das man mit ein bisschen List und Cleverness lösen kann?

Sogar, wenn jemand eine Leiche identifizieren muss und zwei nackte Füsse mit einer baumelnden Etikette von einem glänzenden Seziertisch aufragen…

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