Cindy Sherman. Untitled #466. 2008. Chromogenic color print. The Museum of Modern Art, New York. © 2011 Cindy Sherman
«Eine für alle»
Von Sacha Verna
Das Museum of Modern Art (MoMA) ehrt Cindy Sherman mit einer monumentalen Retrospektive. Die Fotokünstlerin demonstriert Durchschaubarkeit als Erfolgsrezept.
Cindy Sherman hat sich in den 35 Jahren ihrer Karriere in unzähligen Rollen selber inszeniert: als Märchenprinzessin und als Clown, als Moorleiche und Pin-up Girl, als Madonna mit Kind und biedere Hausfrau. Ein Star war die heute in New York lebende Fotokünstlerin fast von Anfang an. Erstmals erregte sie Ende der 1970er Jahre mit der inzwischen legendären Serie der «Untitled Film Stills» Aufmerksamkeit, jenen fiktiven Filmszenen in schwarz-weiss und Kleinformat mit Sherman als Landei und Marilyn Monroe.
Die Retrospektive im Museum of Modern Art sichert der 58-Jährigen nun endgültig einen Platz im Olymp der amerikanischen Gegenwartskunst. Die monumentale Schau wird als Grossereignis gefeiert. Die Kritik überschlägt sich vor Lob, die New York Times vergleicht Cindy Shermans Status mit dem von Pablo Picasso, Jasper Johns und Bruce Nauman. Und das Publikum steht sich für Eintrittskarten bereits die Beine in den Bauch.
Gezeigt werden über 170 Werke, hauptsächlich Cindy Shermans Bestseller. Das ist durchaus wörtlich gemeint: Im vergangenen Jahr wurde eine von Shermans Arbeiten aus dem «Centerfold-Zyklus» an einer Auktion für 3,89 Millionen Dollar verkauft – der damals höchste je erzielte Preis für eine Fotografie. Darauf posiert Sherman in lolitahafter Unschuld als auf dem Rücken liegendes Schulmädchen, ein Augenschmaus für Playboy-Leser und kulturelle Durchblicker gleichermassen. Zu sehen sind mehrere dieser Werke von 1981.
Ausserdem: Die «History Portraits» mit den nachgestellten Motiven Alter Meister und einige von Shermans Auftragsarbeiten für Modezeitschriften wie Harper’s Bazaar, sowie die «Society Portraits», auf denen Cindy Sherman als Dame der Gesellschaft auftritt, als grotesker Inbegriff von Menopausendepression in der Upper Class.
Jede Menge Mrs. Sherman also. Die Tatsache, dass Cindy Sherman fast ausnahmslos sich selber in sämtlichen Posen der Lächerlichkeit ablichtet, lässt sich als sympathische Selbstironie deuten. Oder als Kommentar zur Wandelbarkeit von Identität. Oder als Verweis auf den Narzissmus unserer von You-tube-Berühmtheit und sozialem Status besessenen Gesellschaft an sich. Die Feministinnen fassen Shermans Arbeit als Kritik an der Rolle der Frau auf, und für die Postmodernisten thematisiert Cindy Sherman das Problem von Darstellung und Wirklichkeit in unserer Welt der neuen Medien.
Eines wird in dieser Retrospektive jedenfalls deutlich: Cindy Shermans Werk ist wunderbar leicht lesbar. Shermans Spiel mit Stereotypen und Klischees ist so offensichtlich, dass es selbst theoretisch Unbewanderte zum Wühlen in der Interpretationskiste animiert. «One Size Fits All» heisst es oft bei Socken. Cindy Sherman Fits All: Sie passt in jede Existenzphilosophie.
Zusätzliche Attraktivität verleiht dem Werk die glänzende Oberfläche. Egal, ob Cindy Sherman vergewaltigte Prothesen oder Erbrochenes fotografiert, wie sie es Ende der 1980er und während der 1990er Jahre eine Weile lang tat, egal ob sie zentimeterdickes Make-up und Requisiten oder die moderne Fototechnik verwendet: Nie fehlt den Bildern das dekorative Element. Sherman hat eine Kunstform perfektioniert, deren Künstlichkeit auf die Metaebene verführt. Ein bisschen weibliche Opfersymbolik gepaart mit wohlkalkulierter Hässlichkeit, und schon ist die Überhöhung vollbracht.
Die Ausstellung beginnt und endet mit Cindy Shermans jüngstem Werk. Dabei handelt es sich um ein fotografisches Fresko von 2010, das sich über mehrere Wände und Ecken erstreckt. Eine überdimensionierte Sherman präsentiert sich darauf als Vogelfrau, Artistin und Tante Emma, deren Gesichtszüge mittels Photoshop leicht verzerrt wurden. Bei der einen ist die Nase zu schmal, bei der anderen sind die Augen zu klein. Damit ist Cindy Sherman aus dem Bilderrahmen ausgebrochen und ins Reich der standortspezifischen Arbeiten vorgedrungen. Das kann ihren zahlreichen Sammlern nur recht sein. Die dürfen sich künftig auf Massgeschneidertes freuen.
Die Besucher der Retrospektive haben, so scheint es, schon jetzt ihre Freude. Sie zücken, dicht gedrängt und den Audio-Guide fest ans Ohr gepresst, begeistert ihre Handys und fotografieren die Fotografien. Cindy Shermans Bedeutung wird einem souffliert, und statt hinzuschauen, wird gespeichert. So funktioniert Kunstgenuss im 21. Jahrhundert.
Erstveröffentlichung 9. März 2012 Tages-Anzeiger.
Museum of Modern Art:
Cindy Sherman
Bis 11. Juni 2012.
Katalog Cindy Sherman
Eva Respini
Hardcover, US $ 60.
Schirmer & Mosel, CHF 81.90.
Cindy Sherman, geboren am 19. Januar 1954 in Glen Ridge, New Jersey, ist eine US-amerikanische Künstlerin und Fotografin, die für ihre Fotoserien, in denen sie sich konzeptuell mit Fragen der Identität, Rollenbildern, Körperlichkeit und Sexualität beschäftigt, bekannt ist. Cindy Sherman wurde als Cynthia Morris geboren und wuchs in Huntington (New York) als jüngstes von fünf Kindern auf. Ihr Vater, ein passionierter Kamerasammler, arbeitete als Ingenieur und die Mutter als Lehrerin. Mit zehn Jahren bekam sie ihren ersten Fotoapparat. Im Herbst 1972 begann sie ein Studium am Art Departement der State University of New York in Buffalo. Anfangs interessierte sie sich für Malen, Zeichnen und Skulptur, sie entdeckte jedoch schnell die Fotografie als ihr künstlerisches Medium. Ein Werkverzeichnis der an der Universität entstandenen fotografischen Arbeiten erschien 2012. Während ihrer Studienzeit initiierte sie zusammen mit ihren Freunden Charles Clough und Robert Longo die unabhängige Künstlergalerie „Hallwalls”, die heute noch existiert und in der sie selbst 1979 erstmals ausstellte.
In Verbindung mit der Ausstellung, hat Sherman Filme aus MoMA-Sammlung, die in der MoMA-Theater im Laufe der Ausstellung zu sehen sein wird ausgewählt. Eine wichtige Publikation begleitet die Ausstellung. Die Ausstellung wird von Eva Respini, Associate Curator organisiert, mit Lucy Gallun, kuratorische Assistentin, Abteilung