FRONTPAGE

«Eisige Zeiten, totalitäre Visionen»

Von Rolf Breiner

 

Krisen, Kriege, Katastrophen – davon lebt das Kino, solche Szenarien malt es aus, immer magischer, monumentaler, monströser. Drei aktuelle Beispiele, in denen Wirklichkeit zur Vision und umgekehrt wird: Der biblische Stoff «Noah», der apokalyptische Actionthriller «Snowpiercer» und die Hightech-Vision über künstliche Intelligenz «Transcendence».

 

Spektakuläres Ökodrama mit biblischen Anleihen

Noah ist in der 130-Millionen-Dollar Produktion (3D) von Darren Aronofsky («Pi», «Black Swan») ein naturverbundener und naturbewusster «Grüner», gottesfürchtig und blind gehorsam, Gottes Wille bis zur letzten Konsequenz zu erfüllen, die zerstörerische Menschheit total auszurotten. Also darf es keine Nachkommen mehr geben. Im Kinodrama hat Noah drei Söhne, doch nur einer bringt eine (unfruchtbare) Frau, Ila (Emma Watson) auf die Arche. Diese erwartet dank magischer Kraft Methusalems (Anthony Hopkins), Noahs Vater, Zwillinge. Russell Crowe als starrköpfiger, brutal-gläubiger Noah und Jennifer Connely als seine Frau stampfen und kämpfen sich durch eine düstere, ausgebeutete Welt. Das Monumentalwerk entpuppt sich als spektakuläres Ökodrama und biblische Apokalypse – ein wuchtiges Fantasyabenteuer mit alttestamentarischen Anleihen als düstere Actionunterhaltung (siehe auch Literatur & Kunst Filmtipps April 2014).

 

Schneekreuzer in der Eiszeit

Die Erde ist verwüstet, sprich vereist infolge einer Klimakatastrophe. Ein paar tausend Menschen haben überlebt, prassen, feiern oder vegetieren, je nach Klasse, in einem schier endlosen Zug auf einer endlosen Fahrt durch tödliche Polarlandschaften. «Und in diesem Zug spielt sich das ab, was die Menschen auch sonst einander antun: Sie kämpfen rücksichtslos um die besten Plätze, verteidigen einmal errungene Privilegien mit Waffengewalt und scheuen dabei vor keinem Verbrechen zurück. Aber inmitten allen Schreckens zeigt sich auch die andere Seite dessen, was Menschsein ausmacht: Selbstlosigkeit, Tapferkeit und bedingungslose Liebe. Der Schneekreuzer wird so zum Gleichnis für die condition humaine», liest man im Vorwort zur Graphic Novel «Schneekreuzer» von Jacques Lob (Texte), Jean-Marc Rochette (Zeichnungen) und Benjamin Legrand (Texte). Lob ist der Vater dieses Comicwerks. Teil 1 «Der Entflohene» erschien 1983, Nach Lobs Tod schufen Rochette und Legrand die Teile 2 («Der Landvermesser») und 3 («Die Überquerung»), kompakt als ein Band im Verlagshaus Jacoby Stuart, Berlin 2013, erschienen.

 

Ein klassisches Werk der Comic-Kunst in schwarzweissen packenden Bildern. Jean-Marc Rochette, der Zeichner aller drei Romane, hatte mit dem Filmer Bong Joon-Ho nur losen Kontakt. «Joon-Ho hat mich nicht um Rat gefragt. Ich habe ihm eher gesagt: Du darfst machen, was du willst, und je freier du bist, desto besser wird es sein! Er hat es gemacht, und für mich hat er unsere Geschichte verbessert, er hat sie zum Meisterwerk umgestaltet», erzählt Rochette in einem Interview. Er selbst hat ein paar Zeichnungen für den Film gemacht.
Der südkoreanische Filmer Bong Joon-Ho entdeckte 2005 die französische Graphic Novel und sicherte sich 2006 die Filmrechte. Die Grundsituation des Films «Snowpiercer» basiert auf der Novel: Der Polarzug frässt sich seit 17 Jahren in einer schier endlosen Schlaufe durch eine erkalte Welt. Der überlebende Rest der Menschheit hat in 1000 Waggons Zuflucht gefunden. Am Schluss des Zuges vegetieren mehr schlecht als recht die Rechtlosen, Armen, der Plebs. An der Spitze hütet Wilford (Ed Harris) die Heilige Lok, diese Maschine, die sich quasi selbst «ernährt» und wie ein perpetuum mobile durch die Eislandschaften donnert. Ein Trupp aus der niedrigsten Kaste, mit Anführer Curtis (Chris Evans, «Captain America») und Stellvertreter Edgar (Jamie Bell), bricht aus und auf, um an die Spitze des Zuges zu gelangen. Curtis ist Proloff, «Der Entflohene» aus dem «Schneekreuzer». Er und der Wächter, im Film der besessene Industriemogul und Zugdiktator Wilford, sind die einzigen Figuren aus der Novel, die auch im Film auftauchen. Dann gibt es (neu) einen alten Anführer des Proletariats, das wie in einem KZ vegetiert: Gilliam (John Hurt) hat Curtis zum Nachfolger und Rebellenführer bestimmt. Und der wiederum bekommt es mit Mason (Tilda Swinton) zu tun, der schrill-schrägen Sprecherin des Zug-Gurus.

Bong Joon-Ho lässt seinen Filmfantasien freien Lauf, basierend auf der Novel «Schneekreuzer», verwandt im Sinn, aber von der Novel entfernt. Die bizarre SF-Katastrophenidee und apokalyptische Mission werden von ihm und Kameramann Hong Kyung-Pyo genial umgesetzt – in düsteren Impressionen, gnadenlos harten Actionszenen und skurrilen Begegnungen, wobei besonders die gouvernantenhafte Oberlehrerin Mason alias Swinton arg überzeichnet wirkt und zur Thatcher-Karikatur verkommt.
Die eisige klaustrophobische Reise zum «Eisbären» dauert 125 Minuten und ist das Beste, was im SF-Kino seit «Gravity» zu sehen war. «Snowpiercer» ist eine hochstilisierte apokalyptische Vision, eine politische Parabel auf totalitäre Herrschaft und Unterdrückung, eine comichafte Sezierung der Gesellschaftsklassen und ein schockierender Actiontrip. Da kann es einem tatsächlich kalt ums Herz werden.

 

 

Superhirn mit Gefühlen
rbr. Er ist ein Genie, der Wissenschaftler Dr. Will Caster (Johnny Depp), Spezialist auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz. Sein von ihm kreierter Superrechner ist in der Lage nicht nur Wissen total, sondern auch Emotionen zu speichern. Dieses Elektrohirn kann selbständig reflektieren und kommunizieren – und soll nach Überzeugung kritischer Extremisten verhindert werden. Bree (Kate Mara), eine Wissenschaftlerin, die um die Gefahren solcher totalitären Computersysteme weiss, führt die Gruppe an und verübt einen Anschlag auf Caster. Der wird tödlich verletzt: Seine Frau Evelyn (Rebecca Hall) und der engste Mitarbeiter und Freund Max Waters (Paul Bettany) beschliessen nach einigem Zögern, Casters Gehirn zu retten und dem Supercomputer quasi einzuspeisen. Erhebt sich Will Caster nun zum Gott und will via Internet die Menschheit verführen, führen, manipulieren?
Der brisante SF-Thriller «Transcendence», von Wally Pfister («Dark Knight») in Hightech-Szene gesetzt, beschwört so etwas wie eine hochintelligente Techno-Apokalypse. Mit viel modischem Computer-Firlefanz, kompliziertem Exposé, Fantasy-Anleihen und Action-Schüben erweist sich die Zweistunden-Fiktion als künstliches Vehikel für Johnny Depp, der freilich nicht mehr tun muss, als sein Gesicht hinzuhalten. Der kritische Ansatz – die Technik evolutioniert zur Menschenmaschine (siehe HAL in Stanley Kubricks Klassiker «2001: A Space Odyssey») und dominiert seine Schöpfer – verkommt zu einem knalligen Thriller mit IT-Spezialeffekten. Nebenbei ist «Transcendence» auch ein Liebesfilm. Denn das Superhirn wird am Ende doch Mensch. Wer glaubt’s, selbst wenn er’s sieht?

 

 

Filmtipps

Grace of Monaco

rbr. Sie spielte die Rolle ihres Lebens – nach der Hollywood-Karriere. Der Film beginnt mit einer Frau am Set – Realität oder Fiktion, Show oder Film im Film? Hitch taucht auf, der Master des Suspense und Ziehvater der Schauspielerin Grace Kelly. Alfred Hitchcock ist eine wichtige Beziehungsperson für die Frau, die 1956 Fürst Rainier III. von Monaco heiratete und von Hollywood Abschied nehmen musste. Auch fünf Jahre danach fühlt sich die Fürstin und Mutter im Fürstentum nicht heimisch, von der Aristokratie und Bevölkerung kaum anerkannt, fremd und einsam. Man schreibt das Jahr 1961. Da kommt ihr Hitchcocks Angebot gerade recht, die Hauptrolle in seinem Film «Marnie» zu übernehmen. Sie will nur zu gern, aber Monaco trudelt in eine politische Krise, weil der monegassische Ministaat von Frankreich massiv unter Druck gesetzt wird – wegen Steuern.
Die Souveränität des Kleinstaates am Mittelmeer ist existentiell gefährdet. «Grace von Monaco» muss sich entscheiden und nimmt eine neue staatstragende Rolle an – mit Herz und Verstand. Geschickt erobert sie die Sympathie des Volkes und trickst am Rosenball fürs Rote Kreuz Frankreichs Premier Charles de Gaulle aus, erzählt dieser Hollywood-Film. Ein entscheidender Punkt in dieser Grace-Fiktion und Dramaturgie: Regisseur Oliver Dahan spitzt das Staats- und Ehedrama auf diese politisch heikle Situation zu. Die Schlenker zu Hitch und Hollywood, die Publicity-Aktionen, amüsantes Etiketten-Training und subversive Machtmachenschaften sind unterhaltsame Garnitur für eine melodramatische Märchengeschichte mit viel Glamour und Gefühl. Ohne Zweifel, Nicole Kidman brilliert – äusserlich und innerlich. Sie spielt die Rolle ihres, also Grace Kellys, Lebens perfekt. Klar ist aber auch, dass sich Regisseur Dahan einige schöpferische Freiheiten herausgenommen hat. Den Versuch, den Fürsten zu stürzen, die Rede der Fürstin am internationalen IRK-Ball und die Anwesenheit de Gaulles hat es so nicht gegeben. Dahan hatte auch gar nicht im Sinn, ein historisches Biopic zu schaffen, sondern Kino, also Fiktion. Trotz Glamour und grossen Gefühlen versinkt sein Film nicht im Schmalz und Schmerz Hollywoodscher Provenienz. Das aber hätte Verleiher Harvey Weinstein gern gehabt und hat so selbst eine Schnittfassung hergestellt, die dem Regisseur gegen den Strich ging. Zur Eröffnung des Filmfestivals in Cannes wird die autorisierte Fassung aufgeführt. Gleichwohl ist es nicht ersichtlich, weswegen der Fürstenclan zu Monaco auf Distanz zum Film geht und einen Premierenbesuch abgesagt hat. Fürst Rainier III. kommt alles in allem gut weg und Grace mutiert zur edlen fürstlichen Landesmutter – mit Glorien-, wenn nicht gar mit Heiligenschein.
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Sein letztes Rennen
rbr. Durchhalten mit eisernem Willen wie ein Marathonläufer: Paul Averhoff, Olympiasieger von Melbourne 1956, will’s nochmals wissen auch im hohen Seniorenalter. Zusammen mit seiner Frau ins Altenheim verpflanzt, fühlt er sich gegängelt, gebunden, entmündigt und probt den Ausbruch. Er trainiert wieder für den Berliner Marathon – aller Häme und Unkenrufen zum Trotz. Der Widerstand der Heimleitung ist gross, aber die Alten lassen sich von seinem Willen, seiner Lust am Laufen und Leben anstecken und proben den Aufstand. – Die Tragikomödie, inszeniert von Kilian Riedhof, wird getragen vom Komödianten, Kabarettisten und Theaterretter Dieter «Didi» Hallervorden. Er hat das Berliner Schlossparktheater am Leben erhalten und ruft sich jetzt sportlich auf der Leinwand in Erinnerung. Der Mann, der jahrzehntelang am Fernsehen für Spass und Satire sorgte, wurde immer wieder kritisch angemacht und unterschätzt. Jetzt gelang ihm eine spassig-hintergründige Kinoperformance, die ihm niemand zugetraut hat. «Sein letztes Rennen», ein herzhaftes Plädoyer für Selbstbestimmung im Alter und Selbstachtung, wurde zum Triumph. Dieter Hallervorden ist jüngst mit der «Lola», dem Deutschen Filmpreis, als bester Schauspieler ausgezeichnet worden. In der Schweiz waren die üblichen Verleiher, die sonst allen Leinwandmist einführen wie etwa «Wrong Cops», nicht bereit, seine Alterskomödie (auch für Junge) ins Kino zu bringen. Die Arthouse Commercio AG hatte sich bereits vor dem «Lola»-Segen engagiert, an «Didi» geglaubt und den Kinoweg für seinen Marathon geebnet.
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Godzilla

rbr. Wie King Kong oder H.R. Gigers Alien gehört Godzilla zu den klassischen Monstern des Kinos, egal ob im Weltraum oder auf Erden. Die mörderische Space-Reptilie, vom Schweizer H.R.Giger kreiert, ist ein ausserirdisches Geschwür. Riesenaffe King Kong und Godzilla, die Nuklear-Geburt, sind jedoch anders, irdisch. Sie sind Ausgeburten der Menschheit oder besser Produkte menschlicher Fehlleistungen. Der Ur-Godzilla entstand aufgrund eines Vorfalls in den Fünfzigerjahren: Ein japanisches Fischer war in den «Dunstkreis» eines amerikanischen Nukleartests geraten und wurde verseucht. Dieses tragische Ereignis animierte Produzent Shogo Tomiyama 1954 zu Godzilla. Das Monster wurde in Tokioter Studios geboren, ein riesiges Ungeheuer (infolge Strahlenschäden) stieg aus dem Meer und suchte Tokio heim. Rund drei Dutzend Godzilla-Filme sind seither gedreht worden. Der Name Godzilla ist ein Wort, das sich aus den japanischen Begriffen Gorira (Gorilla) und Kujira (Wal) zusammensetzt.
60 Jahre danach ist Godzilla wieder erwacht. Das jüngste Horrorprodukt stammt aus der US-Kinoküche, gebraut vom Briten Gareth Edwards. Der Film (3D) kehrt zu den Wurzeln zurück und macht den Riesendrachen zum Opfer, Täter und Retter. Eine Naturgewalt, die New York heimsucht und in einem gigantischen Kampf monströse Bestien ausser Gefecht setzt. Denn Godzilla ist kein Dämon, kein Rächer menschlicher Nuklearschändungen, sondern ein mächtiges Ur-Saurier, der gefrässige Atomfresser niederringt. Menschen spielen natürlich auch eine Rolle. Der US-Wissenschafter Joe (Bryan Cranston) versucht zusammen mit seinem Sohn (Aaron Taylor-Johnson), ein Army-Sprengexperte, dem Phänomen auf die Spur zu kommen. Frauen wie die Gattinnen (Elizabeth Olsen und Juliette Binoche) sowie eine Assistentin (Sally Hawkins) spielen nur (emotionelle) Nebenrollen. Überhaupt sind die Menschen meistens staunende flüchtende Zeugen oder Militärköpfe. Regisseur Edwards nimmt Wissenschafts- und Naturkatastrophen samt Folgen wie Godzilla ernst. Natürlich gehen Skycrapers und Militärgerät (Panzer, Kampfjets etc.) reihenweise zu Bruch, natürlich röhren die Urbiester, fletschen die Zähne, fegen mit ihren gezackten Schwänzen Gebäude weg nichts und speien Feuer (Godzilla) wie zu Drachenzeiten – aber über Zerstörungsorgien hinaus setzt das Monstermovie auf Familiensinn und auf das Gute im Menschen und Monster.
Das Ende weist daraufhin, dass es kein Ende gibt und die Menschen immer wieder neu Monster wecken, die sie selbst in ihrer Hybris und Vermessenheit kreiert haben. Mehr als ein apokalyptisches Schauermärchen – «Godzilla», made 2014, ist Mahnmal, Schreckensvision in 3D und Kino pur. Fortsetzung folgt – wahrscheinlich.
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One Chance
rbr. Man kennt die Geschichte nur zu gut, sie ging weltweit um die Welt. Ein Mann aus Port Talbot (Wales) kam, sang und siegte – 2007 bei der TV-Show «Britain’s Got Talent». Der pummelige Sänger Paul Potts eroberte die Herzen der Juroren und des Publikums. Die Aufsteigergeschichte eines Arbeiters, der sich als Handy-Verkäufer durchs Leben schlug und zum gefeierten Arien-Schmetterer wurde, hat David Frankel («The Devil Wears Prada») gefühlvoll und dramatisch-schmalzig wie eine Oper verfilmt. «One Chance» kann man als Liebesschnulze mit Opern-Touch abtun, aber auch als Romanze, die das Show-Leben schrieb und ans Herz geht, genüsslich geniessen. Denn dies Aschenputtel-Sängermärchen mit realem Hintergrund hat nicht nur Witz, sondern auch überzeugende Darsteller – mit James Corden als Tenor Paul Potts und Alexandra Roach als Freundin Julz, die an den Prügelknaben glaubt und dem Möchtegern-Opersänger den Rücken stärkt. Zu erwähnen ist noch der Kurzauftritt Stanley Townsend als Opernstar Pavarotti, der Paul abkanzelt, und die Tatsache, dass ein Grossteil des Gesangs im Film «One Chance» von Paul Potts stammt. Gefühlskino hoch drei.
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Beltracchi – Die Kunst der Fälschung

rbr. Eines ist klar und unmissverständlich: Wolfgang Beltracci ist ein hochkarätiger Fälscher und Betrüger, aber auch ein Künstler. Er wurde 2011 zu sechs Jahren Haft verurteilt, seine Frau Helene, Komplizin und Teilhaberin, zu vier Jahren. Die Verurteilten können die Strafen in offenem Vollzug abbüssen. Helene Beltracci ist indes auf Bewährung frei. Ihren Besitz, etwa ein spektakuläres Haus in Freiburg i.Br., mussten sie verkaufen, zur Tilgung von zwei Millionen Euro Entschädigung an das Kölner Kunsthaus Lempertz, das ein vermeintliches Heinrich-Campendonk-Werk («Rotes Bild mit Pferden», made by Beltracci) für 2,9 Millionen verkauft hatte und nun vom Käufer belangt wurde. Gut 30 Jahre hat der Fälscher aus dem Rheinland gewirkt und nach eigenen Angaben rund 300 Bilder und Zeichnungen unter falschen Namen geschaffen. Seine Spezialität waren Vertreter der modernen Kunst wie Max Ernst, Max Pechstein oder eben Heinrich Campendonk. Und ein Campendonk-Bild wurde ihm zum Verhängnis. Aus Faulheit hätte er Titanweiss aus der Tube genommen und nicht selber angemischt, erzählt er. Genauere Expertisen und technische Untersuchungen hatten dann festgestellt, dass es dieses Weiss zur vermeintlichen Entstehungszeit 1914 noch gar nicht gab. Der Skandal war perfekt. Das ist alles bekannt, wurde aufgebauscht und in den Medien ausgeschlachtet. Die Wut der Experten, Auktionshäuser und Käufer war gross. Der Kunstmarkt war desavouiert, auf die Knochen blamiert worden. Denn eines brachte der Fälscherskandal an den Tag: Der Markt ist gierig und liess sich nur zu gern an der Nase herumführen, solange die Fälschungen nicht aufflogen. Einige Beltracci-Werke hängen heute noch unerkannt in Museen und Sammlungen. Ein Schmunzeln und eine gewisse Schadenfreude kann man sich nicht verkneifen, wenn man den Dokumentarfilm «Beltracci – Die Kunst der Fälschung» ansieht. Dieser Mann hat nicht nur eine gewisse kriminelle Energie, sondern auch künstlerische Begabung – von der Malerei bis zur Inszenierung. Das zeigt der Flower-Power-Film von Arne Birkenstock, Sohn des Anwalts, welcher die Beltraccis verteidigt hat. Nein, dies ist kein kritisches Porträt, keine knallharte Analyse und Verteidigung des Kunstmarkts, sondern ein spitzbübisches Gaunerstück, eine schelmische Hommage an einen begnadeten Maler, aber auch das ironische Abbild einer Wirklichkeit, die auf Namen und Äusserlichkeit setzt, statt auf Qualität und Gehalt.
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Grand Central

rbr. Schauplatz ist ein Kernkraftwerk in der französischen Region Rhône-Alpes, gedreht wurde freilich in einem Atomkraftwerk bei Wien, das nie in Betrieb genommen wurde. Ein Mann heuert an: Gary (Tahar Rahim) ist ein unsteter Mensch, der nach einer Reihe von Gelegenheitsjobs hier so etwas wie eine verschworenen Gemeinschaft unter Leitwolf Gilles (Olivier Gourmet) findet. Gary freundet sich mit Toni (Denis Menochet) an und verguckt sich in dessen Verlobte Karole (Léa Sedoux). Und die erwidert seine Gefühle, seine Begierde. Im bedrohlichen radioaktiven Umfeld keimt eine Liebe, die in Frage gestellt und bedroht ist. Karole kann sich nicht entscheiden. – Rebecca Zlotowski, 1980 in Paris geboren, entwickelte diese Dreiecksgeschichte zusammen mit Drehbuchautorin Gaëlle Macé nach dem Roman «Grand Central» von Elisabeth Filhol. Sie siedelt eine Liebesgeschichte in diesem fragilen, eher düsteren Arbeitermilieu an. Ungewöhnlich, eine abgeschottete AKW-Welt, die man als Aussenstehender nicht kennt. Die Arbeit, das Klima, das permanente Prozedere der Reinigung, der Schutzmassnahmen scheinen bedrückend. Lichte Momente der Liebe, der Liebesbezeugungen wirken desto stärker. Und im Mittelpunkt wie ein Licht, eine Hoffnung steht eben Karole. Das ist vor allem der Schauspielerin Léa Seydoux (28) zu verdanken («Inglourious Basterds», «The Grand Budapest Hotel», «La Belle et la Bête»). Ungemein sinnlich, verletztlich und doch stark.
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Floating Skycrapers

rbr. Er hat das Talent zu einem Spitzenschwimmer, trainiert aber eher freudlos, lebt bei seiner Mutter und Lebenspartnerin Sylwia zusammen. Polnischer Alltag. Jüngling Kuba (Mateusz Banasluk) entdeckt seine homosexuellen Neigungen und verliebt sich in den Schönling Michal. Der ungehobelte Crawl-Schwimmer schmeisst alles über den Haufen und überwirft sich mit seiner Freundin Sylwia (Marta Nieradkiewicz). Scheinbar hat er seine Freiheit gewonnen, hat sich frei geschwommen. – Tomasz Wasilewski hat für polnische Verhältnisse einen offenen ungeschminkten Film über Selbstfindung, Sehnsüchte und Liebe inszeniert – eher grau, denn optimistisch, eher trist denn hoffnungsvoll, aber sehr realistisch. «Im Film wie auch im wahren Leben ist es nicht so sehr der Endeffekt, das Ziel, sondern die Prozess davor, der uns bereichert. Es ist der Prozess, der uns etwas lehrt», meint Regisseur Wasilewski («In a Bedroom»). Das Alltagsdrama «Floating Skycrapers» ist eine kleine Studie über menschliches Versagen, Selbsttäuschungen, Missverständnissen, Wünsche und mangelnde Liebe.

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Tempo Girl

rbr. Ganz direkt, unverblümt und frech erzählt sie ihre Geschichte – in einem Prolog und fünf Kapiteln. Dominique Pipermann ist das«Tempo Girl» und sie will nichts anderes als «Die Geschichte einer Generation» verkörpern. Die Hipster-Heldin aus Berlin, die im Wallis ihr Heil und Stoff für ihr Buch sucht, ist eine oberflächliche Tussi, die nach schriftstellerischem Erfolg giert. Ihre Stationen heissen «Mein Türke», «Mein Baby», «Meine Karriere», «Mein Song» und «Mein Geständnis». Man kann sich die Geschichte schnell zusammenreimen: Frustrierte Möchtegernautorin haut mit dem Kebab-Türken Deniz (José Barros) ins Wallis ab, haust in einer verlotterten«Tanke» (Tankstelle), kriegt ein Baby, treibt ab und hat endlich Stoff für ein Buch. Und das scheint den Verleger (Anatole Taubman, wieder mal in einer seiner vielen Kurzauftritte) angekickt zu haben. «Alles kann man, nichts muss» ist die Devise der karrieregeilen Ausreisserin und befindet: «Wir sind die Generation Krise». So muss sie wohl aussehen, die Generation zwischen 20 und 30, will man das «Tempo Girl» ernst nehmen. Sie, die Super-Göre aus Berlin, wirkt unsympathisch, aber authentisch verkörpert von der Hamburger Jungschauspielerin Florentine Krafft. Man muss dem Schweizer Regisseur und Autor Dominik Locher zugute halten, dass er sich mit «Tempo Girl» erfrischend ausserhalb gängiger Filmproduktionen bewegt. Er hat ein Faible für durchgeknallte Aussenseiter und Rahmensprenger. Das macht sie nicht sympathischer, gibt dem geschönte Drama aber einen gewissen Pep. Dass dabei das Wallis als eine Art Schweizer Texas herhalten muss, macht den verschrobenen Film etwas vergnüglicher – samt Striplokal mit Puffmutter (Regula Imboden) und Zuhältersohn (Dani Mangisch).Wirklich gut in diesem Genremix ist vor allem die Musik von Nina Geiger.
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Henri
rbr. Sie bilden ein eingeschworenes Paar, Henri und Rita, bis sie eines Tages umkippt. Aus und vorbei. Der Wirt Henri (Pippo Delbono) steht in seiner Cantina alleine dar. Rosette (Candy Ming), eine junge Frau aus einem Heim mit geistig Behinderten, geht ihm tagsüber zur Hand. Sie ist mental leicht handikapiert, vielleicht etwas zurückgeblieben, aber liebenswert. Rosette sehnt sich nach Wärme, Zuneigung, Liebe und verliebt sich in den viel älteren Henri. Eines Nachts, er sturzbetrunken, hilft sie ihm ins Bett und behauptet, mit ihm geschlafen zu haben. Das ist unakzeptabel, finden Henris Freunde und die Heimleitung, aber was steckt dahinter? Yolanda Moreau, Komödiantin, Schauspielerin und Regisseurin, schuf mit «Henri», ihrem zweiten langen Spielfilm ein kleines inrimes Drama über Wünsche, Liebe und gesellschaftliche Schranken. Ein Liebesfilm der ganz anderen Art – ohne Sex, aber mit viel Sensibilität und unschuldiger Sinnlichkeit.
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Violette
rbr. Ein Leben wie eine Achterbahnfahrt. Winter 1942, ein düsterer Tag, eine finstere Nacht in der Normandie. Violette, die auf dem Schwarzmarkt Fleisch verhökert, lebt mit Maurice Sachs (Olivier Py) zusammen und nervt ihn. Er ermuntert sie zu schreiben. Eines Tages stiehlt er sich davon, geht nach Deutschland. Sie ist wieder allein, zieht nach Paris und hält sich weiter mit Schwarzmarktgeschäften über Wasser. Einmal kommt von ihm ein Hilferuf aus Deutschland: Sie solle doch bitte bekunden, dass sie von ihm schwanger sei, damit er nach Frankreich zurück kommen könne. Doch sie verweigert sich. So endet das erste Kapitel «Maurice» des Films «Violette» über jene provozierende Schriftstellerin, welche die (Frauen-)Literatur revolutionierte. Ein Leben in sieben Kapitel – bis «La Batârde», dem Roman, mit dem Violette Leduc 1964 endlich Anerkennung fand und triumphierte. Nun ist es nicht so, dass der Filmer und Autor Martin Provost eine Filmbiografie schuf, eher ein dezidiertes Biopic. Violette, ein uneheliches Kind, 1907 geboren, ist nicht auf Rosen gebettet. Sie sieht sich als hässliches Entchen, fühlt sich mal zu Männern, mal zu Frauen hingezogen, liess ein Kind abtreiben und verfiel dem Schreiben, das ihr zum Lebenselixier wurde. Dieses jahrzehnte lange vergebliche Anrennen gegen Widerstände und Kämpfen um Anerkennung, Erfolg und Liebe, kostete sie fast das Leben. Just zur rechten Zeit standen ihr «Schutzengel» zur Seite. Es war vor allem die prominente Schriftstellerin Simone de Beauvoir (Sandrine Kiberlain), zeitweise Lebensgefährtin Sartres. Sie machte Violette immer wieder Mut, unterstützte sie finanziell und schrieb das Vorwort zum ersten Erfolg «La Batârde». Martin Provost hat dieser fast vergessenen Frau, einer Pionierin der Literatur, ein eindrückliches Denkmal gesetzt, getragen von Emmanuelle Devos, ungeschminkt, entblösst und leidenschaftlich. Eine leidvolle Reise aus der Dunkelheit ans Licht, die Erfüllung einer Schriftstellerin und die Tragik einer Frau.
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Suzanne

rbr. Zwei Schwestern – eine Seele: Suzanne und Maria bilden seit dem Tod der Mutter Isabelle zusammen mit dem Vater Nicolas eine verschworene Gemeinschaft. Doch die bröckelt, als die ältere Suzanne (Sara Forestier) , labil und etwas leichtsinnig, schwanger wird – von irgendwem. Der kleine Charlie wird geliebt, aber dann im Stich gelassen von seiner Mutter Suzanne, die den windigen, aber liebenswerten Julien (Paul Hamy) kennen- und lieben lernt. Sie haut ab ohne Baby. Schwester und Vater sind überfordert. Charlie kommt bei Pflegeeltern unter, und Suzanne sehen wir erst im Knast wieder. Sie hat mit Julien Überfälle verübt und mehr. Kriegt sie die Kurve? – Die 34jährige Filmerin und Autorin Katell Quillévéré erzählt ellipsenartig-sprunghaft die Geschichte einer Liebe, einer Findung, einer Selbstfindung. Zuschauer sind gefordert, werden zu Begleiter und Zeugen einer Liebesgeschichte mit viel Verzögerungen, Verlusten, Verletzungen. Ein feiner Film, der aus der Reihe tanzt und am Schluss mit einer wunderbaren musikalischen Cohen-Version des Lieds «Suzanne» aufwartet, in der Gospelversion von Nina Simon.
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Words & Pictures

rbr. Zwei Lehrkräfte bekriegen sich: Der Schriftsteller und Englischlehrer Jack Marcus (Clive Owen), eher aus Frust denn aus Lust dem Alkohol zugetan, und die barsche, durch eine rheumatische Krankheit handikapierte Malerin und Kunstpädagogin Dina «Eiszapfen» Delsanto (Juliette Binoche) haben verschiedene Schicksale, Lebensauffassungen und -philosophien. Sie führen mit ihren Studenten einen hochintellektuellen Krieg um Worte und Bilder. Das sollte man nicht beschreiben, sondern sehen, Anteil nehmen und goutieren. Der Filmtitel «Words and Pictures» sagt es und die Bilder/Texte belegen es auf eine amüsant-liebenswerte Weise. Liebe neckt sich, Liebe zickt, aber Liebe verbindet. Im smarten Liebesclinch von Fred Schwepisi wird gefightet, geflucht und am süsslichen Ende geliebt. Die Binoche ist trotz Hinkebein und garstigem Verhalten zum Anbeissen, und Owen ist tatsächlich wandlungsfähig. Ein malerischer Film mit treffenden Worten, also Wortspielen und viel Gefühl. Göttlich!

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Left Foot, Right Foot
rbr. Das kleine Liebes- und Beziehungsdrama des Lausanner Autors und Regisseurs Germinal Roaux überrascht positiv. Marie (Agathe Schlencker) liebt Vincent (Nahuel Perez Biscayart) und der liebt seinen autistischen Bruder Mika (Dimitri Stapfer). Das Liebespärchen jobt mal hier, mal dort. Eine Existenz auf wackeligen Füssen. Vinz treibt sich lieber auf Lausanner Skate-Plätzen herum, statt in der Pizzeria oder an anderen Arbeitsstätten. Marie schnuppert als Hostess beim windigen Clubmanager Olivier (Stanislas Merhar). Champagner und leichtes Geld, wenn man, also Marie, bereit ist, sich und ihren Körper anzubieten. Club-Kollegin Cynthia (Mathilde Bisson) warnt, aber Marie muss ihre bittere Erfahrungen selber machen. Es steht einiges auf dem Spiel, auch der labile, geistige behinderte Mika. – Der Film des ursprünglichen Fotografen Rouax aus Lausanne ist eine Entdeckung des neuen Schweizer Films wie «Der Goalie bin ig», «Traumland», «Milky Way» oder «Dawn» (die letztgenannte Filme haben den Weg ins Kino noch nicht gefunden). In schwarzweissen Bildern (Kamera: Denis Jutzeler, Schweizer Filmpreis) schildert er sensibel und zärtlich eine realistische Alltagsgeschichte – berührend, einsichtig, universell. Der Sound, teilweise hoch gelobt, wartet mit sehr unterschiedlicher Geräuschkulissen, etwas nervig wie auch treffenden Songs auf. Sehenswert dank überzeugender Darsteller und einem dramatischen Ende.

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Boyhood
I.I. Seit 2002 arbeitete Regisseur Richard Linklater an diesem Spielfilmprojekt, alljährlich die gleichen Darsteller vor die Kamera zu holen, um Menschen über einen Zeitraum von zehn Jahren bei ihren verschiedenen Lebensabschnitten zuzuschauen. Experimentierfreudig und berührend folgt Linklater dem Jungen Mason aus Austin von den schulischen Anfängen bis zum Eintritt ins College, seiner Geschichte mit einer anstrengenden Schwester und geschiedenen Eltern. Den freakigen Vater, der irgendwann später doch noch erwachsen wird, spielt Ethan Hawke, Patricia Arquette die alleinerziehende Mutter, die nebenbei ihr Studium erledigt, für die Kinder sorgt und nicht viel Glück mit Männern hat. Mitten in diesem Lebens- und Gefühlschaos steht Mason (Ellar Coltrane), dessen Aufwachsen und Kommentare den Film weitgehend mittragen. Mit erzählerischem Atem inszeniert, geht es hier um kleine und grosse Sehnsüchte und Sorgen, um die Bedürfnisse und Ängste eines Heranwachsenden, die sich zu einem hellsichtigen und kurzweiligen Panorama einer amerikanischen Kindheit und Jugend fügen.

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NACH OBEN

Photo/Film