FRONTPAGE

«Erinnerungen erzählen»

Von Hedi Wyss

«Und damals», sagt er über die Bekannte, deren unerwarteter Tod sie für uns wieder ins Blickfeld gerückt hat, «damals» hat sie doch ihren Mann verlassen. Du weisst doch, wie er war!» Und ich erstaunt: «Ach ja?“ Und ich erinnere mich an eine ganz andere Geschichte. «Das war doch so und so, jeder wusste doch … », fährt er weiter. Was er sagt, macht Sinn, wirkt folgerichtig. «Eine Frau wie sie», sagt er, «ein Mann wie er.» Das Ganze hat einen Anfang, eine Mitte, ein Ende. Eine Geschichte eben, die logisch scheint, nur dass sie nicht mit der Geschichte übereinstimmt, die ich im Kopf habe. Die äusseren Fakten sind dieselben. Die Zeiträume, die Namen. Aber sonst nichts. «Er war doch so … », sagt er. Und nun folgen Eigenschaftswörter, Erklärungen über Zusammenhänge, Deutungen. Ich nicke nicht, ich habe ein ganz anderes Bild von den Hauptpersonen dieser Begebenheiten … Aber ich sage nichts. Er hat sie, das weiss ich, so gut gekannt wie ich.
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Geschichten, Lebensgeschichten. Kinder fragen einem in einem gewissen Alter immer: «Ist das wahr? Hat es sich genauso zugetragen?»
Wenn es um klare äussere Ereignisse geht, darum, an welchem Tag eine Brücke eingestürzt, ein Kind geboren wurde, kann ich sagen: «Ja bestimmt, genau so.» Aber das ist auch alles. Dann aber, wenn es um Gefühle geht, um subtile Zusammenhänge, wird alles schwierig, unsicher, mehrdeutig.

Dies ist wahr und jenes auch. Es ist wahr, dass sie ihn verlassen wollte, es ist wahr, dass er ein unmöglicher Mensch war. Es ist aber auch wahr, dass sie an ihm gehangen hat, dass sie ihn liebte. Und es ist wahr, dass er sich Mühe gab. Sie hat aufgelebt, nachdem er weg war, sie hat um ihn getrauert, sie fühlte sich befreit, sie fühlte sich einsam. Aussagen, die alle zutreffen, je nachdem, wie man die Geschichte erzählt.

Haben Sie sich auch schon ertappt, wie unter ihren Worten die eigene Lebensgeschichte sich ändert, je nachdem, wem Sie sie erzählen, wie sie damit begonnen haben, in welcher Stimmung sie sich befinden? Nicht die nackten Fakten ändern sich, aber das, was dazwischen die Chronologie erst zur Geschichte macht.

«Weisst Du», habe ich an einem warmen Sommerabend einer Freundin erzählt, «mein Vater war ein gefühlvoller Mensch, einer mit Sinn für Kunst, einer, der mir die Augen für vieles geöffnet hat, was sich im Leben lohnt.» Wir tranken einen guten Wein, wir waren in versöhnlicher, etwas wehmütiger Stimmung. Ein Sommerabend. Wir hatten über andere Menschen geredet, die längst tot sind, über die Eltern meiner Freundin, über eine Lehrerin, an die wir uns mit Wärme erinnerten … Es stimmte alles. Ich ging nach Hause, und mein Vater war ein wundervoller, so ganz und gar nicht herrschsüchtiger, so aussergewöhnlich verständnisvoller Mann. Aber dann, einige Wochen später, kam ich wieder auf ihn zu sprechen. Nach einem Nachtessen mit anderen Freunden entwickelte sich eine heftige Diskussion über die Jahre während und nach dem Krieg, über unsere Erinnerungen an diese vom Faschismus überschattete Zeit. Diese Zeit der Männer in Uniform hüben und drüben. Wir kamen auf unsere Eltern zu sprechen, diese Generation, geprägt von Krieg und Krise. Ja, auch mein Vater war einer dieser Kleinbürger gewesen, dem man das einzige Stück Fleisch zuschob am Familientisch, der auf seine Macht über Frau und Kinder pochte. Ich hatte mich gefürchtet vor ihm, ich litt, wenn er das Gespräch verweigerte, mich mit kurzen Befehlen abspeiste. Und wie er immer darauf bedacht war, dass wir mit unserem Kinderlärm die Nachbarn nicht störten!

Das eine Wort gab das andere. Am lauen Sommerabend hatte ich versöhnlich begonnen, heute am Tisch in der Heftigkeit der Auseinandersetzung mich an die harte Stimme erinnert. Was stimmte? Beides. Diese zwei so verschiedenen Männer waren beide «typisch mein Vater!».

Wenn meine Schwester von ihrer Jugend erzählt, so sind die Ferien, die wir damals in den Bergen ver¬bracht haben, ganz andere Ferien als die, an die ich mich erinnere. Und wenn meine Mutter von mir als kleines Mädchen erzählte, dann schwieg ich meist, so erstaunt war ich. Es war, als erzählte sie von jemandem, der nichts mit mir zu tun hatte.
Erfahrungen sind subjektiv, das ist ein Gemeinplatz. Aber nicht nur daran liegt’s.

Nachdem über viele Jahre mit neuen Techniken im menschlichen Hirn nach der Lokalisation von Fertigkeiten, Emotionen, Gelerntem gesucht wurde, ist zwar einiges doch lokalisierbar.
Aber gerade für Erinnerungen zeigt sich kein Behälter, in dem sie gesichert sind. Da sind die verschiedensten Teile des Gehirns beteiligt und jedesmal, wenn erzählt, beschreiben, gedeutet wird, werden aus verschiedensten Bruchstücken die Bilder, die Abfolgen, die begleitenden Gefühle neu zusammengesetzt.
In dem Augenblick, in dem erinnert und erzählt wird, erschaffen wir die Erinnerung neu.
Und die Sprache mit ihren Wörtern und Sätzen ist zudem ein schwieriges Instrument. Sie lässt weg und wählt aus, setzt Akzente und schafft Verbindungen. Jede Beschreibung, jeder Bericht verändert, verkürzt, deutet.

Dazu kommt unser uraltes Bedürfnis nach Sinn. Warum ist das geschehen, was war die Folge davon, unter welchen Umständen hätte es anders werden können? Wo ist der Anfang, wo ist das Ende?

Die Wirklichkeit ist zu schwierig, wir erwehren uns ihr, indem wir sie mit unseren Erzählungen bändigen.
Ich erzähle meine Lebensgeschichte, und plötzlich glaube ich zu wissen, wer ich bin. Und dann, irgendwann später, erzähle ich sie wieder, und sie ist anders und ich bin anders und beides ist wahr, beides ist falsch.

Das Leben selbst erzählt keine Geschichten. Um das Leben zu fassen, um es ertragen zu können, um nicht darin zu versinken, in dieser Fülle von Widersprüchen und Gleichzeitigkeiten, zwingen wir es in Formen, die seiner Vielfalt nie gerecht werden können.
Doch jede Geschichte ist notwendig, ist eine Hilfe zur Orientierung im Chaos der Erscheinungen. Jedes In-Sprache-Fassen, jedes In-eine-Abfolge-Pressen, jedes Deuten ist aber auch eine Gefahr, sobald die Erzählung den Blick auf die Wirklichkeit verstellt, weil die Geschichte diese verwirrende Wirklichkeit dann verdeckt.
Seit es Sprache gibt, wird erzählt, immer wieder, immer anders. Und jedes Erzählen ist zugleich ein Gelingen und ein Scheitern. Erzählen ist eine Sisyphosarbeit. Immer muss man damit von neuem beginnen. Jede, die eine Geschichte erzählt, stösst den Stein noch einmal empor und sieht ihn wieder herunterrollen. Einen Augenblick, wenn der Felsblock oben scheinbar in Balance ist, glauben alle, die Erzählerin, die Zuhörerin, die Leserin, jetzt sei es gelungen. Einen Augenblick ist alles klar: So war es, ja gewiss. Weil jener das sagte und die andere so fühlte, geschah dies und das. Aber dann verwischt sich alles wieder, eine andere kommt und beginnt von neuem, setzt anderswo an, und Neues taucht auf, Altes verschwindet.

So ist die Literatur, so ist jeder Film, jede Geschichtsschreibung, jedes Werk der bildenden Kunst ein neuer, wichtiger und unzulänglicher Versuch, die Welt, das Erlebnis zu fassen. Unzulänglich, sinnlos und zugleich unentbehrlich.

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