FRONTPAGE

«F.C. Delius: Als die Bücher noch geholfen haben»

Von Ingrid Isermann

Welches war der verrückteste Moment in der Literaturgeschichte seit 1945? Warum verliebte sich ein junger Autor in Susan Sontag? Warum klagte ein Konzern wie Siemens gegen eine Satireschrift? Wie wurde Literatur durch die Berliner Mauer geschmuggelt? Ein Traum von Europa 1988. Die bedeutsamen biografischen Skizzen von F.C. Delius, Büchner-Preisträger 2011, spiegeln die Zeitgeschichte.

«Nichts kann so falsch sein wie die Erinnerung. Jahrzehnte später sieht alles so einfach aus und glatt: der kleine Schritt von der Schulbank unter das literarische Zirkuszelt, die Kurzstrecken vom ersten zum zweiten, dritten oder fünften Buch, die Übungen im politischen Speerwerfen, die Weitsprünge mit drei Gedichtzeilen in die Gerichtssäle und wieder zurück, die Stabhochsprünge über Berliner Mauern, die Hindernisrennen zum Entdeckerglück, der Zehnkampf der Verlegerei. Also, noch einmal von vorn: ein paar Nahaufnahmen literarischer Lebenskapitel aus den Zeiten, als die Bücher noch geholfen haben», schreibt F.C. Delius in seinem Vorwort zum neu erschienenen Band.

 

Seine Motivation, die Erinnerungen jetzt herauszubringen, sei, «bevor es zu spät ist», wie er auf dem Podium seiner Lesung an den Solothurner Literaturtagen am 19. Mai 2012 launig bemerkte.

Der agile und alerte Beobachter, 1943 in Rom geboren und in Hessen aufgewachsen, der Vater ein westfälischer Pfarrer, die Mutter eine Mecklenburgerin, ist einer der bedeutendsten deutschen Schriftsteller, Romanist und Lyriker. Seit fünf Jahrzehnten ist Delius Akteur und Beobachter des deutschen Geisteslebens. Mit seinen Romanen wurde er zum poetischen Chronisten deutscher Befindlichkeiten und Zustände, wobei er die Kunst und die Poesie vor allem stets vehement gegen die Politik verteidigte.

Schon mit 21 Jahren las er vor der berühmten Gruppe 47 und wurde wenige Jahre später Lektor bei Wagenbach, später bei Rotbuch, wie er auf dem Podium erzählte, und erlebte Sternstunden und Tiefpunkte der Linken, aber auch ihre Zerrissenheit angesichts des beginnenden Terrors der RAF.

 

Die Waffen der Literatur: Aufklärung

Ein streitbarer Geist und Büchner-Preisträger war da an den Solothurner Literaturtagen zu Gast, der ohne Umschweife aus seinem bewegten und engagierten Leben berichtete. Wie es zu einem Brief an den Kaufhaus-Besitzer Helmut Horten kam, der als Steuerflüchtling in die Schweiz abtauchte, wie er eine nicht erbetene satirische Festschrift zum 125jährigen Jubiläum der Firma Siemens verfasste, worauf der Grosskonzern die Anwälte einschaltete und ein dreijähriger Juristenstreit begann, der zu Gunsten von Delius ausging sowie ihm einige Berühmtheit verschaffte.

In diesem spektakulären und von der Presse viel kommentierten Verfahren, das bis 1976 dauerte, bündelten sich mehrere Fragen und Streitfragen: Die Freiheit der Kunst ebenso wie die historische Forschung über die Zusammenarbeit grosser Firmen mit den Nationalsozialisten, und das vor dem Hintergrund der hysterischen Jahre der RAF-Prozesse in Stammheim und der Politisierung der Literatur. Die Feinheiten der Satire wurden ebenso behandelt wie die Deutungshoheit der Konzerne über ihre eigene Geschichte. Die Grenzen der Justiz bei der Beurteilung von Literatur wurden ausgelotet, Details von Arbeitsbedingungen bei Siemens, die Sorgfaltspflicht von Publizisten, die Rolle der Rüstungsindustrie.

 

Ethik und Ästhetik

Das alles liest sich amüsant und unterhaltsam, obwohl es das zu jener Zeit absolut nicht war, nur die Erinnerung an diese Zeiten ist ein Spaziergang. Den Mut zur Zivilcourage besass Delius allerdings schon früh, wie auch sein Talent zum Schreiben. Nicht zum Reden, wie er meinte, doch davon war in Solothurn nichts zu spüren, denn der befragte Autor gab schlagfertig und witzig Auskunft, was seine Freude am Denken und dem Florettfechten mittels Sprache untermalte. Seine Liebe zur Sprache sei es, die er über alles stelle. Delius betonte die Bedeutung der Poesie wie auch der Ethik und Ästhetik und wer das nicht begreife, denke auch zu kurz bei politischen Fragen und durchschaue nicht die Zusammenhänge der Historie und der Aktualität.

 

Porträts der Weggefährten

In seinem Erinnerungsband liefert Delius bestechende Deutungen der tiefen politischen Spaltungen von den Sechzigern bis zur Wendezeit, zeichnet Porträts von Weggefährten und Autoren wie Wolf Biermann, Heiner Müller, Günter Kunert, Nicolas Born, Thomas Brasch oder Herta Müller und spricht über das Glück der Literatur.

 

«Einen Startvorteil hatte ich: sehr genau zu wissen, was ich nicht wollte, wogegen ich war. Gegen fertige Begriffe, Floskeln, Sprüche, gegen Dogmen, Ideologie, starre Übereinkünfte, normierte Tradition. Ich setzte auf das, was ich als ideale Sprache verstand: die fragende, die infragestellende, die nachdenkliche, die originelle, die witzige, die widersprüchliche, die literarische Sprache.

 ‚Sprache ist, wo sie da ist, für mich das Engagement selbst, weil sie kontern muss, die bestehende Sprache kontern muss’, sagte Ilse Aichinger in jener Zeit. Da mir als Kind schon die Religion als Ideologie begegnet war, ahnte ich sehr deutlich, lange bevor ich das mit dürftigem Verstand begriff: dass die literarische Sprache der beste Schutz gegen Ideologie war. Selbst Nietzsche mit seinem protestantischen Pathos schien mir durch und durch Ideologe. Wirklich subversiv war nicht die Philosophie, nicht die Theorie, sondern die Poesie».
Die biografischen Skizzen von Delius sind ein literarisches Kleinod und authentisches Zeugnis einer Zeitepoche.

 

Friedrich Christian Delius
Als die Bücher noch geholfen haben
Biografische Skizzen
Rowohlt Berlin 2012
304 Seiten, mit 25 s/w-Abbildungen, gebunden
CHF 29.90 € 18,95 (D) / 19.50 (A)
ISBN 978-3-87134-735 1

 

Friedrich Christian Delius, geboren 1943 in Rom, in Hessen aufgewachsen, lebt heute in Berlin und Rom. Seine Erzählungen und Romane machen ihn zu einem der bedeutendsten deutschen Autoren der Gegenwart. Bereits vielfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Fontane-Preis und dem Joseph-Breitbach-Preis, wurde er im Herbst 2011 mit dem Büchner-Preis geehrt.

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