FRONTPAGE

«Fake News und Online-Mobbing werden vergessen gehen, wie andere mediale Schreckgespenster auch»

Von Rainer Stadler

 

Die Sorge um Hass und Lügen in den öffentlichen Foren prägt derzeit die medienkritischen Diskussionen. Wer in die Geschichte zurückblickt, stellt verwundert fest, wie schnell Angstbilder verblassen.

Wer erinnert sich an Neil Postman? Wohl nur ältere Zeitgenossen. Der amerikanische Medienprofessor prägte in den achtziger und neunziger Jahren die zeitkritischen Diskussionen. Mit seinem Werk «Wir amüsieren uns zu Tode» stellte er sich in die Tradition des grossen Pessimisten Theodor W. Adorno und artikulierte öffentlichkeitswirksam das Unbehagen an den neuen Entwicklungen im Mediensektor.
Der Motor der Umwälzungen war damals das Fernsehen. In Europa öffneten die Staaten den Fernsehmarkt und setzten die bisher unangefochtenen öffentlichen Sendeanstalten der Konkurrenz aus. Die Zahl der Fernsehsender explodierte. Die Kabelnetze und neue Fernsehsatelliten brachen die weitgehend abgeschotteten Ländermärkte auf. Es war der Beginn einer Medienrevolution, welche seit dem Durchbruch des Internets totaler wurde und zusehends alle Lebensbereiche erfasst.
 
 

Schreckbild Privatfernsehen
Der bildungsbürgerliche Geist orientierte sich damals klar an der textorientierten Kommunikation. Die Zeitungsverlage – oft in der Hand von Verlegerfamilien – setzten den Massstab. Die Bildmedien stellten eine Provokation dar. In diesem Sinn kritisierte Neil Postman, dass das Fernsehen aus der Information eine Show mache und das Wesentliche banalisiere. Der Negativbegriff Infotainment machte die Runde.
Selbst mancher Vorkämpfer eines freien Fernsehmarkts musste angesichts der realen Entwicklungen leer schlucken. Man hatte gehofft, den politischen Diskurs bereichern zu können. Stattdessen proliferierten vor allem leichtgewichtige Unterhaltungsangebote. Der RTL-Pionier Helmut Thoma setzte die Gegenthese zu Postmans Kritik. Eines seiner sarkastischen Bonmots lautete: «Im Seichten kann man nicht ertrinken.» Was heisst: Unbeschwerte Unterhaltung hat keine Nebenwirkungen und letalen Spätfolgen.
Die Diskussionen um die Errungenschaften des Privatfernsehens waren teilweise heftig. Mancher Zeitgenosse erkannte eine Verletzung der Menschenwürde, wenn die Veranstalter einfache Leute und kamerasüchtige Personen in Casting-Shows oder in Reality-TV-Shows wie «Big Brother» zur Schau stellten oder wenn sie Esswettbewerbe um eklige Nahrung inszenierten. Zuweilen intervenierten die staatlichen Medienwächter.

 

 

Verstummte Kritik
Die Kritiker sind längst leise geworden, wie auch die einst zahllosen Diskussionen um die Schädlichkeit von Gewaltdarstellungen in den audiovisuellen Medien verstummten. Allenfalls flammen sie noch kurz auf im Zusammenhang mit Gewalt in Computerspielen. Die beanstandeten Erzeugnisse sind in Variationen zwar noch im Angebot, doch das Empörungspotenzial scheint erschöpft.
Haben die Warner damals übertrieben? Teilweise. Doch ihre berechtigten Einwände scheiterten an der Macht des Faktischen. Die Shows mit rüden, plebejischen Sitten fanden eine Nachfrage. Entsprechend verschoben die realen Marktverhältnisse die Koordinaten der gesellschaftlichen Weltwahrnehmung. Die Macht der Gewohnheit nivellierte die Gegensätze. Hinzu kommt, dass der medientechnische Fortschritt die Aufmerksamkeit der Zeitdiagnostiker auf neue Felder lenkte.

 

 

Streit um die Wahrheit
Die Internetrevolution rückte die Information ins Zentrum des Interesses. Der Streit um die Wahrheit in den Medien ist wieder entbrannt, nicht zuletzt wegen der sozialen Netzwerke. Sie senkten im vergangenen Jahrzehnt die Schwellen zu den Foren der öffentlichen Auseinandersetzung. Die herkömmlichen Informationsanbieter gerieten zusehends unter Druck. Die Kritik des Publikums an der Verlässlichkeit der Nachrichten wurde sichtbar wie nie zuvor. Diesen Widerspruch formuliert zwar zumeist nur eine kleine Minderheit. Doch diese Wortführer vermögen dank den alternativen Plattformen Unzufriedene zu versammeln, deren Zahl angesichts der ökonomischen und politischen Verwerfungen wächst. Die Klüfte in der Mediengesellschaft vergrössern sich.

Die rüderen Verhaltensweisen, die auf den Fernsehplätzen eingeübt wurden, bekamen in den interaktiven Online-Arenen ideale Entfaltungsmöglichkeiten. Seither widerhallt in den Massenmedien die Kritik an den verbalen Hooligans und an der Unfähigkeit der sozialen Netzwerke, die Problembären konsequent zu vertreiben. Zuweilen beschleicht einen der Eindruck, hier wehre sich eine ökonomisch in die Defensive geratene Medienbranche gegen die erfolgreichen Aufsteiger – ein verzweifelter Versuch, die Eindringlinge zu verscheuchen.
Ohnehin bleibt die Frage, ob die Redaktionen der immer noch wirkungsmächtigen Massenmedien mit ihren Publikationen dem unschönen Zeitgeist zu viel Gewicht geben und damit die Aggressiven zu weiteren Aktionen stimulieren. Es scheint im Weiteren zweifelhaft, ob eine Zivilisierung der digitalen Kommunikation gelingen kann, ohne dass die sozialen Netzwerke ihre Offenheit massiv einschränken – was wiederum nur die Entstehung alternativer Plattformen fördern würde. Der Geist ist aus der Flasche. Dennoch: Wird man in zwanzig Jahren ebenfalls schulterzuckend auf diese Auswüchse zurückblicken, weil man zur Einsicht gelangte: Die allgemeinen gesellschaftlichen Umgangsformen wurden trotz allem nicht beschädigt?

 

 

Zäher Voyeurismus
Eine weitere Problemzone hält sich hartnäckig: die massenmediale Ausschlachtung der Privatsphäre. Dafür gibt es ökonomische Gründe. Entsprechender Stoff ist im Kampf um Aufmerksamkeit ein sicheres Lockmittel. Eine missbräuchliche Interpretation des öffentlichen Interesses dient als billige Legitimation. Das damit verbundene Risiko ist allerdings beträchtlich.
Die Skandale ziehen sich durch die jüngere Mediengeschichte. Und endeten öfters mit einer Blamage für die redaktionellen Regisseure – wobei die abschliessenden Entschuldigungsrituale ein Teil des Geschäftsmodells geworden sind. Erinnert sei etwa an die Fälle Thomas Borer, Carl Hirschmann, Max Mosley, Geri Müller, Jörg Kachelmann oder Jolanda Spiess-Hegglin.
Die Ausbeutung von Privatem zählte lange zur Kerntätigkeit von Boulevardmedien. Inzwischen sind die Grenzen durchlässiger. Moderne Skandale sind gekennzeichnet durch eine hohe Geschwindigkeit und eine Unmenge an parallelen Interaktionen auf zahlreichen Plattformen, die innert Kürze einen für den durchschnittlichen Konsumenten schwer durchschaubaren Brei aus Gerüchten, Behauptungen und Gegenbehauptungen anrichten. Allein die atemlose Repetition von Nachrichten vermag einen trügerischen Schein von Wahrheit zu erzeugen. Das Mediengeschäft gerät zur Desinformationsindustrie. Deren Objekte sind damit einem fatalen Effekt ausgeliefert.
Für die Medien bleibt der Schaden hingegen überschaubar. Dass ein Organ wegen eines Übergriffs eingestellt werden müsste, geschieht höchst selten. Beim britischen Revolverblatt «News of the World» war dies vor neun Jahren der Fall. Doch der Verleger führte das Blatt sogleich unter einem neuen Titel weiter. Was letztlich heisst: Auch mit einem schlechten Ruf lebt man ganz gut. Die vielbeschworene Medienqualität ist ein folgenloser Marketingbegriff für Symposien und sonstige besinnliche Veranstaltungen.

 

 

Machtmissbrauch
Das Thema Machtmissbrauch ist ein Klassiker auf der medienpolitischen Agenda. Zur Wahrung der Medienfreiheit beschränken sich demokratische Staaten zumeist auf die Regulation der Rahmenbedingungen. Dazu gehört vor allem die Sicherstellung von Wettbewerb und damit die Verhinderung von monopolartigen Gebilden. Deutschland führte einst zur Zähmung des Privatfernsehens eine Obergrenze auf dem Zuschauermarkt ein – keine Sendergruppe durfte mehr als 30 Prozent Zuschaueranteil erreichen. In der Schweiz limitierte das Gesetz den Besitz von lokalen Radio- und Fernsehstationen, was inzwischen aufgehoben wurde. Denn die wirtschaftlichen und technischen Entwicklungen haben die Koordinaten längst verschoben.
Das Internet hat die klassischen Märkte aufgebrochen und Chancen für neue Akteure geschaffen. In den neunziger Jahren erklärten Medienkritiker den deutschen Unternehmer Leo Kirch zum grossen Dunkelmann, der die Fernsehmacht an sich reissen wolle. Sein Imperium ist längst untergegangen, seinen Namen kennen bloss noch Experten. Längst vergessen sind ebenso die Debatten um die Übermacht des Kabelnetzbetreibers Cablecom (heute: UPC), wo einst die Politik sogar dabei mitredete, welche Fernsehsender auf welchen Platz zu setzen seien. Diesen einstigen Flaschenhals des Medienmarkts hat die weitere Entwicklung längst zerstört.
Ferner: Wer erinnert sich noch an den vor sechs Jahren untergegangenen Werbeverkäufer PubliGroupe, dessen Einfluss auf den hiesigen Medienmarkt einst beargwöhnt wurde? Oder an die Befürchtungen, Microsoft könnte mit seinem Browser eine allzu dominante Rolle im Internet einnehmen?

 

 

Brüchige Herrschaft
Regelmässig werden Rufe laut, die zum jeweiligen Zeitpunkt erfolgreichen Akteure müssten zerschlagen oder zumindest beschnitten werden, damit sie keinen schädlichen Einfluss ausüben könnten. Jetzt stehen Internetgiganten wie Google und Facebook im Fokus. Wie die jüngste Mediengeschichte zeigt, mögen gewisse Akteure eine Zeitlang eine für die Allgemeinheit «ungesunde» Macht entfalten. Doch zumeist sind es nicht staatliche Eingriffe, sondern schlicht die quasi natürliche Marktdynamik und der technologische Fortschritt, welche wirtschaftliche Imperien kollabieren lassen oder diese zumindest zurückdrängen.
Wer also ein bisschen in den Archiven stöbert, lernt umso einfacher die Kunst der Entspannung. Die digitalisierten, auf Effizienz getrimmten Medienapparate mögen inzwischen in der Lage sein, im Sekundentakt schreckliche Szenarien multimedial zu inszenieren. Je schneller das mediale Hamsterrad dreht, umso mehr kann sich der Gelassene an eine alte Lebensregel halten: abwarten und Tee trinken. Erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt.

 

NZZ 5.10.2020 mit freundlicher Genehmigung des Autors

 

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