«Filmfestival Locarno 2014 mit starker Schweizer Präsenz»
Von Rolf Breiner
Im August blickt die Filmwelt nach Locarno, dann ruft das 67. Filmfestival vom 6. bis 16. August 2014 Tausende von Filmschaffenden und Filmfans an den Lago Maggiore. Das Kino lockt, in umfunktionierte Säle und vor allem auf die grandiose Piazza Grande, ins schönste Freiluftkino der Welt. Neben internationalen Premieren ist auch der Schweizer stark präsent – mit Filmen von Richard Dindo, Marcel Gisler, Paolo Poloni, Peter Luisi, Christian Frei, Andrea Štaka, Sabine Gisiger oder Sabine Boss.
Anfang bis Mitte August ist Leoparden-Zeit in Locarno. Dann wetteifern Filmer und Produzenten um die begehrte Trophäe. 17 Filme wurden für den Internationalen Wettbewerb nominiert. Sie stammen von Argentinien und Brasilien bis Südkorea und den Philippinen, von USA über Portugal bis Russland, aber auch aus Frankreich, Italien und der Schweiz. Die Luzernerin Andrea Štaka, Leoparden-Preisträgerin 2006 mit «Das Fräulein», stellt ihr neustes Werk «Cure – The Life of Another» vor. Ein Drama um zwei Teenager, die 1993 nach Dubrovnik zurückkehren, wobei die eine die Identität der anderen annimmt. Auch Fernand Melgar ist im Internationalen Wettbewerb dabei, und zwar mit seinem Dokumentarfilm «L’abi». Schauplatz ist die Notschlafstelle für Obdachlose in Lausanne, wo sich die «Armen» treffen und nur teilweise versorgt werden können.
Schweizer im Ausland
Eine wichtige und viel beachtete Sektion des mit zahlreichen Reihen gespickten Filmfestivals – Concorso Cineasti del presente, Pardi di domani, Fuori concorso, Premi speciali, Histoire(s) Cinéma, der Retrospektive u.a. – ist die Semaine de la critique, die heuer ihre 25. Ausgabe feiern kann. Sieben Dokumentarfilme wurden von einer Auswahl von Filmjournalisten und –innen ausgewählt. Der Schweizer Film ist in diesem Jahr mit drei Filmen ein bisschen sehr stark vertreten.
Marcel Gisler hat das Leben des professionellen Snowboarders, Models, Autors und Komponisten Florian Burkhardt dokumentiert: «Electroboy». Paolo Poloni ist weit gereist, er stellt sein Porträt eines pakistanischen Dorfes vor: «Mulhapar». Schliesslich haben Stéphanie Barbey und Luc Peter die amerikanisch-mexikanische Grenze beobachtet und ihren Fokus auf die US-Grenzbürger gerichtet: «Broken Land».
Dem Schweizer Film wird in Locarno eine spezielle Plattform geboten – mit dem Panorama Suisse. Solch ein Schaufenster ist nicht neu, wurde nun aber stärker lanciert, verantwortet von den Solothurner Filmtagen und Swiss Films. Filmtage-Direktorin Seraina Rohrer liess an der Locarno-Pressekonferenz kein Zweifel darüber, wie sehr ihr diese Sektion am Herzen liegt: «Diese Plattform ist auch ein Rendezvous für den Schweizer Film. Zusammen mit Swiss Films nutzen wie die vorhandenen Synergien, wobei Swiss Films vor allem für Vernetzungen prädestiniert ist.» Sieben Dok- und drei Spielfilme werden gezeigt – von solchen, die bereits im Kino liefen wie «Der Goalie bin ig» (Sabine Boss) und «Traumland» (Petra Volpe), oder solchen, die auf ihre Chance warten wie «Nebel» (Nicole Vögele), «Viktoria – A Tale of Grace and Greed» (Men Lareida), «Sleepless in New York» (Christian Frei) oder «Thuletuvala» (Matthias von Gunten).
Ausserhalb davon sind weitere vier Schweizer Filme in der Sektion Fuori Concorso zu sehen: «A propos de venise» von Jean-Marie Straub, «Homo Faber» von Richard Dindo, «Yalom’s Cure» von Sabine Gisiger und «Dialogue d’ombres» von Jean-Marie Straub und Danièle Huillet.
Kolossales Kino
Die grosse Attraktion Locarnos ist die Piazza Grande, wo sich bis 8000 Menschen zusammenfinden, um kolossales Kino zu erleben. Den Auftakt am 6. August macht Luc Bessons Thriller «Lucy» mit Scarlett Johansson und Morgan Freeman. Andere Highlights versprechen Lasse Hallströms exotisch-kulinarische Reise «The Hundred-Foot Journey» mit Helen Mirren, Peter Luisis komischer Beitrag über «Schweizer Helden» oder Olivier Assayas’ Drama «Sils Maria» mit Juliette Binoche zu werden.
Erwähnenswert ist wie immer die Retrospektive: «Titanus» über die älteste Produktions- und Verleihfirma Italiens. Gustavo Lombardo gründete Titanus vor 110 Jahren, also 1904. Annähernd 60 Filme sind zu sehen, u.a. «Il Gattopardo» (1963) mit Burt Lancaster auf der Piazza Grande (9. August).
Carlo Chatrian, Künstlerischer Leiter des Festivals, verspricht eine «aktualisierte Landkarte der Siebten Kunst und der Welt, die sie abbildet». Und er meint: «Doch wenn ein Atlas grössenteils aus einem allgemeingültigen, klar abgegrenzten Zeichensystem besteht, enthält unser Programm Überschneidungen, Berührungs- und Knotenpunkte. Locarno ist seit jeher ein Ort der fruchtbaren Begegnungen. Ein Ort, wo vielfältige Erfahrungen geteilt werden, und der Austausch unausweichlich ist.»
Finanziell sei das Filmfestival im Gleichgewicht, verkündete Präsident Marco Solari. Über 12,5 Millionen Franken kann das Festival in diesem Jahr verfügen – auch dank «Mister Locarno», der seit 14 Jahren für ein solides Fundament sorgt. Und für die Ausgabe 2014 kündigte er verschmitzt-erwartungsvoll eine Neuerung an: 100 bis 300 nummerierte Piazza-Plätze kann man erstmals im Voraus buchen. Ein Experiment, meint der Präsident. Man muss kein Prophet sein, um jetzt schon zu konstatieren, dass diese Platzwahlreservation kaum je ausreichen wird.
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Rückschau auf das Filmfestival Locarno 2014 – Kino ist Kult
Von Rolf Breiner
Das grösste der kleinen Filmfestivals in Europa kann auf einen guten Jahrgang zurückblicken, wenngleich der Vorfall Polanski mit der Absage einen Schatten auf die 67. Ausgabe geworfen hat. Auch wenn Schweizer Filme nicht ausgezeichnet wurden und sie keine Preise einheimsten, hinterliessen sie einen starken Eindruck.
Die Preisträger Locarno 2014:
Goldener Leopard für «Mula sa kung ano ang noon» von Lav Diaz, Philippinen
Spezialpreis der Jury (Silberner Leopard) für «Listen Up, Philipp» von Alex Ross Perry, USA
Beste Regie an Pedro Costa, Portugal, für «Cavalo Dinheiro»
Beste Darstellerin: Ariane Labed in «Fidelio Fo, l’odyssée d‘Alice»
Bester Darsteller: Artem Bystrov in «Durak»
Publikumspreis: (Piazza Grande) für «Schweizer Helden» von Peter Luisi
Goldener Leopard Nachwuchs: (Concorso Cineasti del presente) an «Navajazo» von Ricardo Silva, Mexiko
Fipresci-Preis an «Mula sa kung ano ang noon»
Preis der Semaine de la critique (Kritikerwoche) für «15 Corners oft he World» von Suzanna Solakiewicz
Schweizer Panorama
Erstmals war Seraina Rohrer, Direktorin des Solothurner Film Festivals, massgeblich für die Auswahl des Panorama Schweiz verantwortlich. Zwölf Filme wurden aufgeführt – erfolgreiche Kinofilmen wie «Der Goalie bin ig» von Sabine Boss oder «Traumland» von Petra Volpe, aber auch Filme, die noch auf ihre Chance warten wie «El tiempo nublado» von Arami Ullón, «Viktoria – A Tale of Grace and Greed» von Men Lareida oder «Je suis Femen» von Alain Margot. Im Rahmen des Panoramas war auch der Kurzspielfilm «Montauk» von Vinz Feller zu sehen. Ausgangspunkt ist die Erzählung (1975) von Max Frisch. Ein Ehepaar war einst nach Montauk gereist. Er hat sich das Leben genommen, und sie soll nun seine Asche an diesem Ort ausstreuen. 16 Minuten Film, die mehr sagen, als viele Zweistundenstreifen.
Auch Altfilmer Richard Dindo hat sich wieder auf Max Frisch eingelassen, nachdem er sich vor 33 Jahren mit dem Frisch Journal I-III filmisch auseinander gesetzt hat. Vor 30 Jahren hätte er sich bereits mit dem Gedanken befasst, so Dindo anlässlich der Premiere in Locarno, Frisch’s Bericht «Homo Faber» zu verfilmen. Das hat er nun vollbracht mit dem Untertitel «drei Frauen». Und so erleben wir drei Frauengestalten: Hanna (Marthe Keller), die Geliebte des Helden in Zürich, Ivy (Amanda Barron) und Sabeth (Daphné Baiwir), Tochter Hannas und Fabers Begleiterin. Sie alle sind im Bild, bleiben aber stumm. Walter Faber, der Erzähler bleibt unsichtbar, nur seine Stimme (Christian Kohlund) ist präsent, leitet uns, erklärt sich uns. «Eine filmische Lektüre» nennt Dindo sein Frisch-Poem in Bildern. Durchaus schlüssig und fesselnd, wenngleich die Sinnlichkeit in Worte erstarrt und die Beziehung Faber-Sebeth statisch und halbherzig literarisch, weil einseitig bleibt.
Nicht von ungefähr stand die Semaine de la Critique im Blickpunkt: die 25. Ausgabe. Irene Genhart, Leiterin der Auswahlkommission, und ihr Co-Partner Simon Spiegel treten zurück. Ihre Arbeit wurde in verschiedenen Medien gewürdigt. Sie hat als Delegierte des Schweizerischen Filmjournalisten Verbandes 15 Jahre lang die Semaine wesentlich mitgetragen, geprägt und zu einer sehr erfolgreichen Sektion des Filmfestivals entwickelt. Die Besucherzahlen und Schlangen vor den Sälen in Locarno legen davon Zeugnis ab. In diesem Jahr hatte die Auswahlkommission wieder sieben Dokumentarfilme ausgewählt, darunter drei Schweizer Arbeiten. Eher ungewöhnlich und eindeutig zuviel, denn man hatte stets versucht, der Schweiz keinen Heimvorteil einzuräumen. Mit einem Preis gewürdigt wurde freilich das polnische Porträt «15 Corners oft he World» von Zusanna Solakiewicz. Im Mittepunkt steht der versponnene Komponist und Klangtüfter Eugeniusz Rudnik (82).
Luc Peter und Stéphanie Barbey haben sich zur amerikanisch-mexikanischen Grenze aufgemacht und Menschen befragt, welche die Grenzproblematik einseitig, eben von der US-Seite, sehen. Ein Teil der Aufnahmen steuerte der Dokumentarfilmer Peter Mettler («Picture of Light») in «Broken Land» bei.
Der Luzerner Paolo Poloni ist nach Pakistan gereist und in einem Dorf heimisch geworden. Sein Film «Mulhapar», so der Name der Siedlung, beschreibt nüchtern, aber nah das Leben, den Alltag, die Gegensätze einer Dorfgesellschaft.
Der Dritte im Semaine-Bund ist der «Electroboy», gemeint ist der Schweizer Florian Burkhardt, ein Multikünstler (Model, Werber, Electro-Musik-Gestalter, Party-Veranstalter). Marcel Gisler («Rosie») hat in seinem ersten Dokumentarfilm das faszinierende Bild eines Mannes gezeichnet, der im Rampenlicht stand, sehr kreativ war, dann aber schwer an Panikattacken gegenüber Menschen hatte. Gisler beschreibt aber auch die Mechanismen einer Familie, die Risse, Brüche und Fluchten. Für mich der beste Semaine-Film des Jahres.
In diesem Zusammenhang sollte ein andere gelungenes Porträt erwähnt werden: «Yalom’s Cure» von Sabine Gisiger («Gambit»). Der 80-jährige Psychiater und Bestsellerautor Irvin D. Yalom erklärt sich, seine Thesen und Therapien, aber auch seine Sicht des Lebens, der Psyche, der Beziehungen. Die Filmerin füllt dabei die Zuschauer nicht mit zahllosen Weisheiten und Einsichten ab, sondern lässt ihm auch Zeit durch assoziative Bilder die Sätze wirken zu lassen.
Das Filmfestival zu Locarno ist eins der wichtigsten Kulturereignisse der Schweiz. Es hat trotz teilweiser schlechter Witterung wieder 166 000 Besucher angelockt. Es ist nicht alles perfekt, die Klimatisierung im Kursaal und anderen Kinoräumen, die Untertitelung im La Scala, sind verbesserungswürdig. Aber man muss zugestehen, dass der Festival-Apparat flexibel ist. Nach den Todesmeldungen über die grossen Schauspieler Robin Williams und Lauren Bacall wurden kurzfristig Lücken für Filmaufführungen ihrer Filme gefunden. Aus meiner Sicht war die Wiederbegegnung mit Humphrey Bogart und Lauren Bacall in «The Big Sleep» aus dem Jahr 1946 eine der schönsten Momente in Locarno 2014.
Klare Linien
Das 67. Filmfestival von Locarno folgte auch 2014 unter künstlerischer Leitung Carlo Chantrians konsequent vier Linien:
– Hochstehende, auch kantige, bissweilen sperrige Werke, die, abgesehen von den Schweizer Wettbewerbsfilmen «Cure – The Life of Another» und «L‘Abri» – kaum in unsere Kinos kommen werden. Der philippinische Siegerfilm «Mula sa kung ano ang noon – From What Is Before» (Goldener Leopard) beansprucht volle 338 Minuten und erzählt sehr lang, intensiv und elegisch von Ereignissen auf den Philippinen um 1970/72 zurzeit der Diktatur Ferdinand E. Marcos‘.
– Mehrere Plattformen (Concorso Cineasti dei presente, Pardi di domani) dienen Jungfilmern, beispielsweise zeigte der Winterhurer Matthias Huser eine polnischen Parabel (in Polen angesiedelt) über eine Zeit im Umbruch. Ein Mannes, begleitet von einem ebenso schweigsamen Ex-Häftling als Fahrer, reist durch öde Landschaften und montiert Telefonapparate in Telefonkabinen ab: «They Chased Me Through Arizona». Sein Film ist von Western inspiriert – freilich ohne Schusswechsel, Raufereien, harte Männer, aber mit einer Frau und einem Pferd.
– Vielseitige Filmformen und –sprachen – in historischen Filmen und Produktionen (die aktuelle Retrospektive war der italienischen Produktionsfirma Titanus gewidmet), in Kurzfilmen, spezielle Premieren und andere Spezialitäten. Dazu zählte auch die Reihe «Signs of Life»: Yanira Yariv fing metamorphosische Sinnbilder in der Umgebung Roms ein: «Amori e Metamorfosi»; der Spanier Lupe Pérez Garcia liess sich von Antigone inspirieren in «Antigona despierta»; der Franzose HPG folgt einem Pornodarsteller und Regisseur (sich selbst), der sein Vatersein filmt: «Fils de».
– Das breite Publikum wird allabendlich auf der Piazza Grande bedient. Auf der Mega-Leinwand (26 mal 14 Meter gross) laufen Filme, die bald schon in unseren Kinos gastieren. Beispielsweise die amüsant harmlose Küchenkontroverse und Liebesgeschichte «The Hundred-Foot-Journey». Hier amtet die Mimin Helen Mirren («The Queen») als Chefin eines französischen Gourmetrestaurants. Ihr ist das «Maison Mombai», eine neu angesiedelte Beiz mit indischer Küche, ein Dorn im Auge ist. Aber da gibt es noch den begnadeten Mombai-Koch und die attraktive Marguerie, Sous-Chefin bei Madame Mallory (Mirren).
Keine Schweizer Produktion, aber ein Film mit Schweizer Schauplätzen feierte auf der Piazza Grande Premiere: «Clouds of Sils Maria». Hier agierte ein anderer grosser Filmstar, Juliette Binoche. Sie soll nach 20 Jahren nochmals in einem Stück mitwirken, in dem sie dazumal die junge betörende Sigrid spielte, welche die ältere Helena in den Wahn und Selbstmord treibt. Doch diesmal soll sie den Part der Älteren übernehmen. Sie wehrt sich, will aus ihrer Rolle nicht heraus. Das macht ihr die Assistentin Valentine, wunderbar präsent Kristen Stewart, klar. Die Proben zwischen beiden werden zur persönlichen Ausmarchung. Ein Drama, in dem auch die berühmte Maloja-Schlange eine Rolle spielt.
Erstaunlich ist das Ergebnis der Piazza-Publikumsbefragung in diesem Jahr: Die Schweizer Tragikomödie «Schweizer Helden» wurde zum Favoriten erkoren. Peter Luisi («Der Sandmann») beschreibt wie die Hausfrau Sabine (Esther Gemsch) eine Gruppe von Asylbewerbern für eine Wilhelm-Tell-Aufführung in der Innerschweiz «fit» macht. Ein abstruses Unterfangen? Mitnichten. Das spitzbübisch angelegte Spiel hat tragisch-komische Momente, verteilt ironische Seitenhiebe und amüsiert, leidet aber unter einer allzu naiven Zeichnung der Heldin. Gutmensch Sabine wird so unfreiwillig zur Witzfigur. Um gestrandete Menschen, um Obdachlose, Wirtschaftsflüchtlinge oder Asylsuchende, ging es auch im Dokumentarfilm «L’Arbri» (Wettbewerb) von Fernand Melgar. Sie stehen wintertags vor Zivilschutzräumen in Lausanne an, um eine Notschlafstelle zu ergattern. Bitterer Alltag für Bittgänger und Sozialhelfer, viele müssen aus Platznot abgewiesen werden. Mit seinem kommentarlosem Werk zeigt Melgar («Vol spècial») eine andere dunkle Seite des Schweizer Asylbehandlung – ohne Hoffnung auf Freiheit und Tell-Applaus.
Kulturprozent mit 5. Dokfilm-Wettbewerb
rbr. Das Thema für die 5.Wettbewerbsrunde war bereits an den Solothurner Filmtagen bekannt geworden: «Raum». Das hat viele Filmemacher inspiriert, ihre Projekte für den 5. Migros-Kulturprozent Dokfilm-Wettbewerb einzureichen. Der Film sollte sich im Schweizer Raum eigenständig und differenziert mit entsprechenden gesellschaftlichen Fragen, Perspektiven, Gegebenheiten auseinandersetzen.
Über die Anzahl und Originalität der Wettbewerbseingaben wäre man sehr erfreut gewesen, meinte Nicole Hess, Jurypräsidentin und Projektleiterin Film beim Migros-Genossenschaftsbund. Nun sei man gespannt, wie sich die ausgewählten Projekte weiterentwickeln würden. Die Filmer werden jeweils mit je 25 000 Franken unterstützt, um die Idee bis zur Herstellungsreife auszuarbeiten.
Die Gewinner der ersten Rund kommen aus Zürich und Genf, Thomas Haemmerli, Zürich, nennt sein Projekt «Die Gentrifizierung bin ich: Beichte eines Finsterlings». Der Autor will in seinem filmischen Essay die helvetische Selbstwahrnehmung skizzieren und rekonstruieren – bezüglich Wohndichte, Wohnknappheit und Zersiedlung. Und dazu die Schweizer Realität gegenüber globalen Verhältnissen stellen.
Charlie Petersmann aus Genf taucht in Baustellen, beschreibt den Mikrokosmos einer solcher Arbeitsstätte in der Romandie und macht offene und verdeckte Mauern zwischen Arbeitern, Chefs und Bewohnern sichtbar – in «Tous ne sont pas des anges».
Eine Einheit zerbricht, zwei Erwachsene trennen sich, Kinder werden aufgeteilt – auf verschiedene Räume. Jacqueline Zünd beschreibt in ihrem Projekt «2,8 Tage» aus der Perspektive der Kinder eine neue durch Trennung entstandene Realität.
Bis Dezember 2014 sollen die drei Preisträger ihre Projekte bis zur Realisierbarkeit vorantreiben und entwickeln. An den Solothurner Filmtagen 2015 wird dann das Siegesprojekt präsentiert.
Filmtipps
Edgar Reitz und «Die andere Heimat»: Sehnsucht – Traum und Wirklichkeit
rbr. Gleich drei «Lolas» (Deutscher Filmpreis für Bester Film. Beste Regie, Bestes Drehbuch) heimste «Die andere Heimat» von Edgar Reitz ein, dazu Preise der Deutschen Filmkritik (Beste Regie und Beste Kameraarbeit) sowie den Bayrischen Filmpreis 2013. Damit vollendet der Filmer aus dem Hunsrück seine deutsche Chronik, beheimatet im pfälzischen Dorf Schabbach im Hunsrück.
So dunkel wie die Bilder, sind auch die Zeiten – düster, ungewiss, armselig. Nur ganz selten verlieren sich Farbtupfer in diese grauen, schwarzweisse Welt um 1842 (Kamera: Gernot Roll): Einmal als gegen die Preussen-Obrigkeit rebellierende Studenten auf einem Floss ein schwarzrotgoldenes Banner schwenken, dann als ein Flachsfeld, ein Goldstück und ein geschliffener Edelstein, ins Spiel kommen. Es ist die Zeit des deutschen Vormärz noch vor der Französischen Revolution. Aufbegehrende junge Leute, die nach Liberté (Freiheit) rufen, werden niedergeschossen oder eingekerkert wie Jakob und sein Freund Franz. Eine Zeit des Aufbruchs, des Wandels.
Die Vorgeschichte der Geschichte
Im amerikanisch geprägten Kommerzkino sind Prequels seit einigen Jahren, spätestens seit «Star Wars», wieder gross in Mode gekommen. Das lässt sich über «Superman» bis zu «Lord oft the Rings» bestens verfolgen. Beim deutschen Erzähler und Chronisten Edgar Reitz sind jedoch weit und breit keine kommerziellen Absichten in Sicht, wenn er nun die Vorgeschichte seiner Hunsrück-Familiensaga präsentiert. Das lässt sich auch daran ablesen, dass sich kein kommerzieller Verleiher in der Schweiz gefunden hat, «Die andere Heimat» ins Kino zu bringen. Das besorgt nun die Cinémathèque suisse.
Dieser vierte Teil mit einer Länge von insgesamt gut 230 Minuten ist die Vollendung seiner Hunsrück-Trilogie. Der Film blendet ins 19. Jahrhundert zurück und bildet quasi die Basis, den Ausgangspunkt seiner drei «Heimat»-Chroniken von 1984, 1993, 2004 plus Epilog von 2006. Man muss die Geschichte und Geschichten von Maria Simon und der Menschen aus dem Hunsrück vom Anfang des 20. Jahrhunderts (1919) bis in die Achtzigerjahre nicht kennen, um «Die andere Heimat» zu begreifen. Der Held heisst Jakob oder Jakobche (als kleiner Junge), der sich aus dem armseligen Dörfchen Schabbach träumt. Er ist belesen, verkriecht sich in Bücher, unterstützt nur von einem alten Mann und seiner Mutter (Marita Breuer, die als Maria Simon die zentrale Figur in der «Heimat»-Trilogie mitwirkte). Jakob erkundet die fremden Welten in Südamerika auf dem Papier, eignet sich Indiosprachen an und sollte doch in der Schmiede seines Vaters zur Hand gehen. Er möchte aus der engen, armen Welt in Schabbach ausbrechen. Doch es kommt alles anders: Sein Bruder Gustav kehrt aus dem Krieg und preussischen Militärdienst zurück, verführt das Jettchen (Antonia Bill). Jakobs geliebte Seelenverwandte, und muss folgedessen mit ihr eine Familie gründen. Er wandert mit vielen anderen Bauern aus dem Hunsrück (oder auch aus der Schweiz zu dieser Zeit) aus. Brasilien und ihr Regent versprechen neue Heimat, Land und Existenz. Es sind Karawanen, Menschen mit Sack und Pack, die am Horizont entlangziehen und sich einprägen. Bilder, die an Ingmar Bergmans Zug im Mysterienspiel «Das Siebente Siegel» erinnern. Doch dort ging es um den Tod, hier um Hoffnung und Neubeginn.
Wirtschaftsflüchtlinge damals
Die Emigrantenzüge kann man auch aktuell lesen. Im 19. Jahrhundert bewegten sie sich aus Süddeutschland und der Schweiz nach Westen über den grossen Teich Richtung Amerika, heute liegen die Ziele diesseits und jenseits der Alpen. Flüchtlinge aus Not. Bewusst hat Edgar Reitz seinem letzten Saga-Teil, der eigentlich der erste ist, den Untertitel «Chronik einer Sehnsucht» gegeben. Ironie des Schicksals – Hauptfigur Jakob Simon, sensibel und überzeugend gespielt von Jan Dieter Schneider, ist ein realistischer Träumer, der von der heimischen Scholle nicht loskommt. Eine ausserordentliche Szene unterstreicht dieses Dilemma: Jakob tauscht sich mit einem Forscher schriftlich aus, und der kommt eines Tages aus heiterem Himmel mit der Kutsche vorbei. Es ist der Geograf und Erkunder Alexander Freiherr von Humboldt, der auf den Briefschreiber neugierig ist. Doch Jakob büxt aus, flieht in die Wälder, flieht die grosse weite Welt. Kein geringerer als Filmkollege Werner Herzog verkörpert den Naturforscher auf der Durchreise nach Paris. Der Filmer fürs Extreme, Fremde («Fitzcarraldo», «Tod in Texas») erweist dem Filmer des Bodenständigen, Verwurzelten einen Dienst.
Mit der frühen Hunsrück-Erkundung «Die andere Heimat», an der Reitz fast vier Jahre gearbeitet hat, beschliesst er ein Meisterwerk, das in Form, Gehalt und Hingabe beeindruckt und nachwirkt. Er schuf mit der Hunsrück-Saga eine neue Dimension von Heimatfilm und gab dem Thema Auswanderung ein anderes Gesicht. «Wir konnten von ‚Schabbach‘ aus einen fremden Blick auf unsere Gegenwart werfen und waren erschrocken, wie apokalyptisch und diese in Konsumtaumel rotierende und in Egozentrik und masslosen Ansprüchen zersplitterte Gesellschaft erscheint.»
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Sitting next to Zoe
I.I. Die anrührende Geschichte zweier 15-jähriger Freundinnen, best friends, die aus zwei unterschiedlichen Kulturen stammen und sich alle Geheimnisse erzählen, bis sich ihre Wege zu trennen scheinen: Asal (Lea Bloch) hat die Prüfung ins Gymnasium bestanden und Zoe (Runa Greiner) hat Zoff mit ihrer Mutter und deren Freund (Bettina Stucky und Roland Wiesnekker), die sie in eine Verkäuferlehre abschieben wollen. Doch die quirlige, mode- und selbstbewusste Zoe hat grosse Pläne, sie will Modeschöpferin werden mit Asal als Model und beide für eine Modeschule in Paris anmelden. Als sich Asal in den 18-jährigen Kai (Charlie Gustafsson), einen jungen Schweden verliebt, wird ihre Freundschaft auf eine harte Probe gestellt. Eine Coming-of-Age-Geschichte, die die schwierige Zeit des Erwachsenwerdens, die Suche nach Identität, Liebe und Freundschaft überzeugend darstellt, mit viel Schweizer Lokalkolorit, in Slow-Motion-Szenen und begleitender Filmmusik, die das Feeling der jungen Generation unterstreicht. Regie führt die 1982 in Sarajewo geborene Ivana Lalovic (Buch und Regie), Doppelbürgerin Schweiz, Bosnien und Herzegowina. 2010 erwarb sie den Master in Film an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK). Der Film erhielt u.a. den Max Ophüls Preis für das beste Drehbuch 2014.
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Jersey Boys
(rbr) New Jersey 1951. Hier beginnt nicht die Band-Geschichte, aber der Kinofilm von Clint Eastwood über das bemerkenswerte Pop-Quartett «The Fours Seasons». Der junge Frankie Valli (eigentlich Castelluccio) lässt sich von seinem Freund Tommy, einem Typen mit einiger krimineller Energie, leiten und verleiten. Der windige Partner bringt den talentierten Sänger mit der Mafia-Grösse Gyp DeCarlo (Christopher Walken) in Kontakt. Der umtriebige, aber undurchsichtige Tommy DeVito (schmierig gut: Vincent Piazza) pusht und managt die Gruppe um Frankie (John Lloyd Young) mit Bob Gaudio (Erich Bergen) und Nick Massi (Michael Lomenda). «The Four Seasons» – das Gesangsquartett aus New Jersey mit Frankies durchdringender Falsettstimme hat etliche Hits in den Sechzigerjahre geschafft wie «Big Girls Don’t Cry» oder «Walk like a Man». Die sind natürlich auch alle zu hören. Eastwood erweist den Pop-Jünglingen seine Referenz – bis hin zum Comeback der gereiften Herren. Hinzuweisen ist auf ein amüsantes winziges Intermezzo: Clint Eastwood ist auf der Mattscheibe kurz als Western-Serienheld in «Rawhide» zu sehen. Eastwood inszenierte seine «Jersey Boys» als Aufsteigergeschichte mit Querelen, Zerwürfnissen, Fall und Auflösung. Sein Film basiert auf dem Erfolgsmusical, will aber mehr, nämlich Sozial- und Showgeschichte schreiben und zeigen. Am Ende wirkt die Popstory nostalgisch und etwas schmalzig. Fans von «The Fours Seasons» werden das sozial gefärbte Singdrama mögen.
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Die geliebten Schwestern
In Schönheit lieben und sterben. Im gediegen kostümierten Melodrama begab sich einst um 1787 ein junger Mann auf Wanderschaft und begegnete Charlotte von Lengefeld, einer (fast) verarmten Adeligen, und ihrer Schwester Caroline. Charlotte soll bei ihrer Patentante, Frau von Stein in Weimar, die rechten Hofmanieren lernen. Aus einem kleinen Flirt zwischen dem Jungschriftsteller Friedrich Schiller und besagter Charlotte wird Liebe, in welche auch die verheiratet Caroline einbezogen wird. Denn die beiden Schwestern haben sich geschworen, alles miteinander zu teilen, in diesem Fall auch den Mann. Kann das gut gehen? Wird nicht die Eifersucht, werden nicht menschlichen Schwächen und gesellschaftlichen Zwänge diese amouröse Harmonie ins Wanken bringen, erschüttern und zerstören?
Im rund zweieinhalbstündigen Liebes- und Gesellschaftsdrama von Dominik Graf passiert unter anderem folgendes: Zwei Schwestern lieben einen Mann und lassen sich schwängern, die höfischen Strukturen geraten ins Wanken (Französische Revolution!), junge Leute begehren auf, die Buchdruckkunst boomt. Es ist Grafs Neugierde, Mut und Verdienst, dass er keinen Bildungs- und Historienschinken auf die Leinwand hievte. Er vertraute auf die Kraft einer aussergewöhnlichen Liebe zu dritt, die historisch teilweise verbürgt, aber denkbar ist, und vertraut auf die Kraft des geschriebenen und gesprochenen Wortes. Klar spricht sein epischer und doch intimer Film ein «Bildungsbürgertum» an, aber auch «Schaulustige» und Fantasten. Sein liebenswürdiges Schauspiel ist kultiviert, phantasievoll und verhalten sinnlich – mit Florian Stetter als (fast) unbeschwertem Schiller, Hannah Herzsprung als Caroline, die aber von ihrer Leidenschaft nicht lassen will, und Henriette Confurius als leidenschaftlicher Charlotte.
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Aimer, boire et chanter
Altmeister Alain Resnais hat seit über 66 Jahren gefilmt und die Filmgeschichte geprägt – von «Hiroshima, mon amour» (1959) und «La guerre est finie» (1966) über «Smoking/No Smoking» (1993) bis zuletzt mit «Aimer, boire et chanter» (2013). Er starb im März 2014. Auf seine Art ist dieser sein letzter Film ein typisches Resnais-Alterswerk. Als Vorlage diente wie bei «Smoking/No Smoking» ein Theaterstück des Briten Alan Ayckbourn, und so sieht der Film – ganz bewusst auch aus. Ein Kammerspiel, das sich zwischen gemalten Bilder, Kulissen und sechs Personen bewegt. Man probt ein Theaterstück, als die Nachricht verbreitet wird, dass Freund und Kollege George schwer erkrankt ist und nur noch wenige Zeit zu leben hat. Colin (Hippolyte Girardot) und Jack (Michel Vuillermoz), Kathryn (Sabine Azéma), Tamara (Caroline Silhol) und Monica (Sandrine Kiberlain) sind betroffen oder meinen es. Doch schon kommt Bewegung in den Freundeskreis, besonders die Frauen werden aktiv, wollen gar mit ihm verreisen – jede für sich, versteht sich. Am Ende gucken alle in die Röhre, und George? Den sieht man nicht, von dem hört man nur. Das verschmitzte Kammerspiel lebt von den Schauspielern und Dialogen. Darauf versteht sich Resnais und bietet ein ironisches Beziehungsspiel über Sehnsüchte, Neigungen, verborgene Hoffnungen und Obsessionen.
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Under the Skin
Sie taucht auf und taucht ab. Laura, eine Fremde scheinbar ohne Bindung, durchstreift abgelegene Winkel Schottlands. Eine unberechenbare Verführung – pechschwarzes Haar, grell geschminkt und unnahbar nah. Sie spricht einsame Männer an, lockt sie, verführt, entblösst und verschlingt sie auf bizarre Art. Nein, das irritierende dunkle Drama von Filmer Jonathan Glazer («Sexy Beast») hängt sich nicht an den aktuellen Vampir-Pop-Boom, sondern steht eher in der Tradition ausserirdische Filme wie beispielsweise Nicolas Roegs SF-Fantasy «The Man Who Fell to Earth» (1976) mit David Bowie. Eine fremde Vagabundin, wohl nicht von dieser Welt, ist auf der Suche, verfolgt von mysteriösen Motorradfahrern, und entdeckt Empfindungen, Gefühle für Beziehungen, Körperlichkeit, ein Hauch von Sex. «Die Weltenwanderin» heisst der Roman von Michel Faber, an den sich der Film anlehnt. Und Scarlett Johansson («Hitchcock», «Girl With a Pearl Earing») verkörpert diese Fremde mit den rätselhaften Reizen intensiv, suggestiv, überirdisch anziehend. Das Mysterienspiel zwischen Schauermär und Psychothriller strahlt eine morbide Magie aus. Eine Besonderheit: Viele Szenen wurden zwar, soweit es ging, inszeniert, aber oft mit versteckter Kamera, speziell die Strassenszenen, gedreht. Ein aussergewöhnlicher, packend stilisierter Film wie von einem anderen Kinostern. Faszinierend.
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The Hundred-Foot Journey
Der Titel lässt nicht gerade auf kulinarische und andere Freuden schliessen. Der deutsche Verleihtitel «Madame Mallory und der Duft von Curry» ist da schon treffender, vor allem anregender. Zwei Kulturen (Küchen) treffen aufeinander und bekriegen sich. Dass dies in der südfranzösischen Landidylle Saint-Antonin-Noble-Val passiert, hat seinen Reiz, warum dies britisch-amerikanisch (Sprache) geprägt ist, hat wohl Vermarktungsgründe. Die Vorlage diente der Bestseller von Richard C. Morais, und Regie führte der Schwede Lasse Hallström. «Papa» (Om Puri) hat beschlossen, unterstützt von der ganzen Familie, in besagtem Dorf sein Restaurant Maison Mombai zu eröffnen. Das ruft die Nachbarin Madame Mallory (Helen Mirren) auf den Plan, die just gegenüber den Feinschmeckertempel ‚Le Säule Pleureur‘ führt und das indische Lokal als Provokation empfindet. Sie hat nicht mit «Papas» Sohn Hassan Kadam (Manish Dayal) gerechnet, auf seine Weise ein Spitzenkoch, der Lunte gerochen hat, mit Madames Vizekochchefin Marguerite (Charlotte de Bon) und der Haute Cuisine liebäugelt. Er möchte im benachbarten Sterne-Restaurant anheuern, Vater sein dagegen sehr, aber… – Die liebenswürdige Feinschmeckerkomödie um Familiensinn und Konkurrenzkampf, Kochkünste und Liebe bietet zwar keine neue Konstellation, macht gleichwohl Appetit. Ein leichter Sommer-Happen.
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Love Steaks
In der Liebeskomödie von Jakob Lass fliegen die Fetzen. Auch hier spielen Küche und Hotelkulisse eine wesentliche Rolle. Der schüchterne unerfahrene Masseur Clemens (Franz Rogowski) absolviert eine Probezeit im Spa eines Luxushotels (Schauplatz ist das Grand Hotel & Spa Kurhaus Ahrenshoop an der Ostsee, Mecklenburg-Vorpommern). Dort begegnet er der frech-forschen Küchenazubine Lara (Lana Cooper). Sie schäkert mit ihm, verführte ihn zu allerlei Streichen und Spässen und Liebesübungen. Klar kracht es bei solch verschiedenen Menschen: Der zurückhaltende, etwas ungeschickte, aber grundehrliche Clemens bekommt aufs Maul, und die kesse burschikose Lara, die gern dem Alkohol (aus Kummer?) zuspricht, eckt an und bringt ihren Geliebten in schwere Nöte. – Jakob Lass‘ schräger unkonventioneller Liebesclinch mit tragischen Zwischentönen ist erfrischend anders. Das liegt vor allem an der Konstellation der beiden Hauptfiguren, die so oder so aus dem Rahmen fallen, und den Produktionsbedingungen. Es wurde bei natürlichem Licht, quasi live und ohne Drehbuch gefilmt (Bildgestaltung: der Schweizer Timon Schäppi). Neben den Hauptdarstellern wirken vor allem das Hotelpersonal und Gäste mit. Der Film mag manchmal eckig und grob wirken, aber auch authentisch, eine innovative Mischung aus Dokumentation, Spiel und Spontanität, quasi in Anlehnung ans dänischen Dogma 95. Die Filmemacher nennen ihr Konzept FOGMA und gewannen den Hauptpreis am 35. Max Ophüls Filmfestival 2014.
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Jimmy‘s Hall
Die Katholische Kirche in Irland war schon immer ein Machtfaktor, eine Institution mit absolutistischem Anspruch, welche die Menschen lieber in die Knie zwang als ihnen zu helfen und zu dienen. Sie paktierte (paktiert) mit den Mächtigen, Politikern, Adeligen, Grossgrundbesitzern. Ken Loach und sein Drehbuchautor Paul Laverty nahmen sich einer historisch verbürgten Episode um 1932 an. Der Ire Jimmy Gralton musste im Unabhängigkeitskrieg um 1922 fliehen und kehrte 1932 in seine Heimat, in die Grafschaft Leitrim, zurück. Freunde, Sympathisanten ermutigen, ja fordern ihn dringlich auf, die alte Versammlungsstätte auf Privatgrund, eben «Pearse-Connolly Hall», wieder instand zu setzen. Vor allem alte Weggefährten und junge Leute sind mit Feuereifer bei der Sache. Hier finden dann auch Kurse, Lesungen, Boxtrainings und vor allem gesellige Bälle für die Bevölkerung statt. Doch dieser «Freiraum» ist der Kirche, an erster Stelle dem ultrakonservativen Pater Sheridan (Jim Norton), Grossgrundbesitzern und erzkonservativen Freistaatler wie O’Keefe ein Dorn im Auge. Predigen verteufeln das Tun der Hall-Besucher, wo Jimmy’s Grammphon zum Hit, wo musiziert wird, Jung und Alt tanzen. Gewaltbereite Kommandos drangsalieren im Sinne von Staatsgewalt und Kirche wehrlose Bewohner und stecken eines Nachts «Jimmy’s Hall» an, wie der alte Versammlungssaal längst genannt wird. Am Ende wird Jimmy ohne Urteil und rechtskräftigen Beschluss seines Heimatslandes verwiesen. – Kirche und Staat gegen das Volk: Auf der einen Seite Erfüllungsgehilfen wie Pater Sheridan, der wie ein Soldat den Geboten seiner Kirche folgt, und Besitzer, auf der anderen Seite eine bedrückte, unterdrückte Bevölkerung und Widerständler wie Jimmy, der die Freiheit Amerikas kennengelernt hat. Gefährten wie Mossie (Francis Magee), Finn (Shaner O’Brien) oder Dezzie (Martin Lucey), dazu Sympathisanten wie Jimmys Mutter Alice (Aileen Henry), seine alte Liebe Oonagh (Simone Kirby) sowie Molly und Marie, Tochter des konservativen O’Keefe, haben sich um ihn geschart. In seiner engagiert kritischen, aber lebensbejahenden Art inszeniert Loach diese Begebenheiten in der irischen Provinz, Der Freigeist-Held Jimmy Gralton, fast britisch zurückhaltend verkörpert von Barry Ward, geboren in Dublin, ist eine historische Figur. Dessen Akten und Zeugnisse wurde fast alle vernichtet. Loachs Drama, durchaus mit hellen lebensfrohen Momenten (beim Tanzvergnügen) ist vor allem ein filmisch bedrückendes und eindrückliches Dokument über Unterdrückung, Menschenverachtung und Menschenliebe (wenn auch nur einseitig), voller Zorn und Zärtlichkeit, dazu aktuell, wenn die Geschichte richtig liest.
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Maps to the Stars
Der 13-jährige Benjie (Evan Bird) ist ein leicht affektierter Jungstar, nicht ganz sauber. Just aus der Rehaklinik entlassen, stürzt er sich in ein neues Hollywood-Blockbusterabenteuer. Agatha (Mia Wasikowska) rauscht wie unabsichtlich durch die wohlfeile Filmmetropole. Erst später wird klar, dass sie schwer an einem Vorfall aus ihrer Kindheit trägt – äusserlich (Brandnarben) wie innerlich. Sie sucht ihren Bruder Benjie und die Eltern auf, die geradezu allergisch reagieren. Der Vater Stafford (John Cusack), schwerreich, ist Psychoanalytiker und Motivator, seine Mutter Christina (Olivia Williams) managt Benjies Karriere. Eine weitere in diesem Starreigen ist Havanna (Julianne Moore – gnadenlos entblössend ohne Rücksicht auf Verluste), eine leicht abgetakelte Schauspielerin, die in einem Remake die Starrolle ihrer Mutter spielen will. Als Subjekt der Begierde funktioniert Chauffeur und Begleiter Jerome (Robert Pattinson), der sich auch von der gierigen Egozentrikerin Havanna vernaschen lässt. In diesem hintergründig verzahnten Psychodrama entlarvt Regisseur David Cronenberg eine auf Ruhm und Sucht fixierte Hollywood-Stargesellschaft, die sich selber auffrisst. Als Beispiel dienen inzestuöse Beziehungen, zerstörerische Allüren und hemmungslose Gier. Eine abgrundtiefe böse Satire über morbide Beziehungen, Verflechtungen und Starillusionen.
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Las Malas Interciones
Die achtjährige Cayetana de los Heros lebt in einer eigenen Phantasiewelt mit peruanischen Nationalhelden, die freilich alle Niederlagen einstecken mussten. Sie sondert sich von ihren Eltern (Stiefvater) ab, die ständig auf Reisen sind. Ihren leiblichen Vater sieht sie nur, wenn sie selber den Kontakt sucht. Die Nachricht, dass ihre Mutter wieder schwanger ist, löst bei Cayetana eine Neurose aus: Sie glaubt zu sterben, wenn ihr Bruder geboren wird («Zwei Sonnen am Himmel können nicht existieren»). Der Originalfilmtitel «Las malas intenciones» weist auf die Probleme des jungen Mädchen, aber auch auf soziale Umstände: Schlechte Absichten. Filmerin und Autorin Rosario Garcia-Montero hat ihr kleines Drama in Lima um 1982 angesiedelt. Im Mittelpunkt steht Cayetana, die sich verlassen, unverstanden fühlt, den angekündigten Bruder als existenzielle Bedrohung betrachtet und nur einen Wunsch hat: wahrgenommen zu werden. Ihr letzter Satz: «Ich bin nicht unsichtbar». Eher am Rande deutet die Regisseurin auf die sozialen Turbulenzen, Umwälzungen und Terrorakte in Peru während der Achtzigerjahren hin, etwa indem die Grundstücksmauer höher gezogen, mehr Kerzen (Stromausfall) und schussfeste Fenster installiert werden. Angst herrscht in der Bevölkerung und bei der Einzelgängerin Cayetana, gespielt von Fátima Buntinx. Sie wird im sanften Drama, bereits 2011 vollendet, wird zur Signalträgerin.
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Finding Vivian Maier
Eher zufällig kam John Maloof aufgrund einer Versteigerung in den Besitz einer grossen Anzahl von schwarz-weiss-Fotos. Die Strassenbilder machten ihn neugierig, er wollte mehr über die Fotografin Vivian Maier erfahren, die Menschen in Chicago, New York und anderswo aufgenommen hatte: Strassenszenen, Kinder, Stromer, Passanten. Er wollte mehr über diese Nanny, die mit einer Hasselblad herumlief und Momente festhielt, die oft mehr erzählen als Geschichten. Er suchte Spuren der Fotografin, die 2009 gestorben war und deren Wurzeln bis nach Frankreich führten Er stiess auf Dokumente und vor allem auf mehr Aufnahmen und Tausende nicht entwickelter Filmrollen. War Vivian Maier eine Zeitzeugin, «eine Spionin» der Strasse, ein Künstlerin, die ihr Licht unter den Scheffel stellte? Der Dokumentarfilmer John Maloof, der selber zum grössten Fan und Kurator der Werke Maiers wurde, ist in das Mysterium Maier getaucht, hat vieles erhellt und ans Licht gebracht. Manches deutet darauf hin, dass die Fotografin an die Öffentlichkeit wollte, anderes weist sie als Aussenseiterin aus, die ihr Heil im Verborgenen suchte. Die Künstlerin Maier bleibt als Mensch ein Geheimnis. Ihre Aufnahmen weisen sie als Meisterin der Strassenfotografie aus. Maloof hat ihren Nachlass geborgen und ist dabei, ihn einem breiten Publikum bekannt zu machen. Dazu dient auch diese filmische Spurensuche, in der naturgemäss auch der Entdecker und Filmer im Mittelpunkt steht. Alleweil eine spannende Reise in die Geschichte der Fotografie.
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Lucy
Am Anfang «löffelt» ein Affe mit den Händen Wasser aus einem Fluss. Am Ende berührt er den Finger Lucys (Szene à la «Die Erschaffung Adams» von Leonardo da Vinci). Und dazwischen ereignet sich eine Menge in anderthalb Stunden. Da wäre etwa die Lehrtätigkeit Professor Normans (Morgan Freeman), Neurologe und Hirnforscher, zu nennen, der glaubt, dass der Mensch nur 10 Prozent seiner Hirnkapazität abrufen kann, der Delphin dagegen 20 Prozent. Was aber, wenn der Mensch 50, 70 Prozent und mehr erreicht? Szenenwechsel. Die lebenslustige Lucy (Scarlett Johansson) kommt ins Spiel, die vom Drahtzieher Jang (Choi Min-sik) und seinen Gehilfen verschleppt und zur Drogenkurierin umfunktioniert wird. Man pflanzt ihr gegen ihren Willen ein Drogenpäckchen ein. Sie wird misshandelt, getreten und der implantierte Beutel mit dem Stoff CPH4 bricht auf. Zusehends erweitert sich ihr Bewusstsein, sie beherrscht plötzlich Telepathie und Telekines und mehr. Lucy wird zu einer alles empfindenden, alles erkennenden «Wissensbombe» und macht Jagd auf Jangs koreanischen Drogenclan – über Berlin bis hin nach Paris, wo sie schliesslich Professor Norman findet und vom französischen Polizei-Captain Pierre del Rio (Amr Wakes) unterstützt wird. Lucys Zeit- und Bewusstseinsreise ist eine visuelle Achterbahnfahrt, vernetzt und geradezu halluzinatorisch inszeniert von Autor und Filmer Luc Besson. Sein Trip mit Scarlett Johansson im Blickpunkt vermengt Thriller, SF und Fantasy, Evolutionsvorlesungen und Menschheitsphilosophie mit Gangsteraction und Psychodrama. Das nicht leicht verdauliche Gedankenactionspiel mündet in einer dick angereicherten, zu hoch dotierten Mixtur. Lucys Bekenntnis: «Ich bin überall» ist ein Kinospruch, der aber zerplatzt wie eine allzu laute Versprechung.
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The Way He Looks
Wie lebt und liebt es sich, wenn man blind ist? Normal oder…? «Wer küsst mich zuerst» scherzen die beiden jungen Leute am Pool. «Vielleicht bin ich ein Frosch, der geküsst wird und sich verwandelt?» Teenager Leonard (Fabio Audi) und seine Schulfreundin Giovana (Tess Amorim) scherzen und necken sich. Der 15jährige Leon ist blind und wird von Giovana auf dem Nachhauseweg an den Arm genommen. Sie kümmert sich liebevoll um ihn und verteidigt den schüchternen Jungen vor Hänseleien der Schulkameraden. Doch das Umsorgen und Sorgen der Eltern geht Leo zunehmend auf den Keks. Er träumt vom Ausbruch aus dem behüteten, kontrollierten Zuhause. Er möchte ins Ausland, eine Zeitlang bei einer Familie in den USA leben. Vieles ändert sich, als Gabriel (Ghilherme Lobo) neu in die Schulklasse eintritt und sich mit Leo anfreundet. Mehr und mehr gerät Giovana ins Abseits und schmollt, sie ist eifersüchtig. Leo wird in einen Strudel von Gefühlen gezogen und erkennt, dass er schwul ist.
Ein eigener Kurzfilm («Eu não quero voltar sozinho – Ich will nicht allein zurückgehen») von 2010 diente dem jungen brasilianischen Filmer Daniel Ribeiro als Vorlage für seinen langen Kinofilm «Hoje eu quero voltar sozinho – Heute will ich allein zurückgehen»). Leos Geschichte hat sich weiterentwickelt: Er möchte Selbstverantwortung übernehmen, sich mehr Freiheiten erlauben und die familiäre Sicherheit aufbrechen. Diese Entwicklung zeichnet Ribeiro zart und einfühlsam nach. Die ersten Blicke, der erste Kuss, Streicheleinheiten der Jungen, die zusammen eine Mondfinsternis erleben. Dem Filmautor Ribeiro gelang ein stiller intimer Coming-of-age-Film, der nicht auf Sex, sondern auf Gefühle setzt. Unspektakulär und sensibel.
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