FRONTPAGE

«Filmfestival Locarno: Von Bienen, Bildern und Begebenheiten»

Von Rolf Breiner

Die Piazza Grande ist das populäre Herz des Festival del film Locarno. Hier werden einem breiten Publikum und bis zu 8000 Besuchenden Filme präsentiert, die kurz vor dem Kinostart stehen oder eine spezielle Bedeutung im Zusammenhang mit einer Ehrung oder einer Retrospektive wie von Otto Preminger haben. Vom 1. bis 11. August fiebert Locarno im Zeichen des Filmfestivals.

Aushängeschild, Anziehungspunkt, Aufmarschplatz der Politprominenz und Sponsoren – manchmal überkommt den Festivalbesucher das Gefühl, er werde auf der Piazza Grande nur geduldet und an den Rand gedrängt bei all den Karawanen, die allabendlich zu den privilegierten Platzen geführt werden. Der innere Ring ist der Filmprominenz, den Medienvertretern und Gästen der Hauptsponsoren UBS, aet, Manor und Swisscom vorbehalten. Die normal zahlenden Piazza-Zuschauer müssen viel Zeit aufwenden, um einen akzeptablen Platz an den Rändern zu ergattern.

 

Mehr als Honig
Grossaufmarsch der Polit-Prominenz ist am Schweizer Abend, Samstag, den 4. August zu erwarten, wenn Bundesräte, Kritiker und Kolumnisten samt namhaften Gästen einfahren. «Nachtlärm» von Christoph Schaub feiert dann seine Weltpremiere. «E nachtlang Füürland» nicht nach Clemens Klopfenstein, sondern auf Suter-Weise: Bestsellerautor Martin Suter lieferte die Vorlage für diesen Trip eines Ehepaars (Alexandra Maria Lara und Sebastian Blomberg) durch die Nacht, das ihr entführtes Baby und samt Auto sucht. Christoph Schaub («Giulias Verschwinden») drehte diese spezielle Beziehungskiste.

Zwei weitere Schweizer Filme wurden ins Piazza-Programm aufgenommen: Michael Steiner zeigt seinen neusten Horrorstreich «Das Missen-Massaker» (10. August) mit Ex-Missen, Mike Müller und den Brüdern Rapold.

Markus Imhoof («Das Boot ist voll») ging den Bienen nach. Das Ergebnis ist der spektakuläre und vielsagende Dokumentarfilm «More Than Honey». Dabei geht es tatsächlich um mehr als Honig und Bienensterben. Imhoof, seitens seiner Familie früh mit Bienenvölkern und deren Lebensumstände und Imkern in Berührung gekommen, ist weltweit von der Schweiz über Kalifornien, China und Australien der Frage nachgegangen, wieso heutzutage wieder massenhaft Bienen sterben.

Es gibt viele Anworten und die meisten haben mit uns Menschen zu tun. Jeder Eingriff in die Natur und Tierwelt – ob zerstört, gespritzt, gesteuert oder über Massen geschossen, gefangen oder geerntet wird – zeitigt Nebenwirkungen, bisweilen verheerende. Es gibt heute schon Anbaugebiete von Plantagen, wo Bienenvölker zwecks Befruchtung fehlen und Menschen in Kleinarbeit diesen Akt mit Spritzpistolen übernehmen müssen. «Wenn die Bienen aussterben, sterben vier Jahre später auch die Menschen aus», wird Albert Einstein zitiert. Bald könnte es soweit sein.
Wir sind nahe dran. Es geht nicht allein um Honig, sondern um das Netz natürlicher Resourcen und Verbindungen. Das beschreibt Imhoofs Film mit spektakulären Bildern, wenn beispielsweise eine Königin im Flug die Königin begattet wird oder Bienen ausschwärmen, um Blütenfelder zu erkunden. Man wähnt sich in einem «Star Wars»-Movie. So nah dran ist die Kamera, dank spezieller Technik.

 

Vorgeführt und mediengeil

Ein anderer Schweizer Film wird im Wettbewerb für Diskussionen sorgen: «Image Problem» von Simon Baumann und Andreas Pfiffner. Die beiden Filmer ziehen mit der Kamera los, um unbedarfte und bedarfte Leute zu befragen, wie man das schlechte internationale Image der Schweiz korrigieren könnte. Das ist teils witzig und provokant, aber auch entlarvend und blossstellend.

Darf man das: Die Leute, die beflissentlich und naiv gutmütig mitmachen, so vorzuführen und der Lächerlichkeit preiszugeben? Frappant, die Mediengeilheit der Menschen kennt schier kein Mass. Auch davon legt der satirische Provostreifen schalkhaft und hinterlistig Zeugnis ab. Immerhin ist dem tabulosen Werk zu attestieren, dass sich noch kein Schweizer Film soweit selbstironisch aus dem Fenster gelehnt hat. Derartige gesellschaftlichen Attacken waren bisher nur Victor Giacobbo und Mike Müller zuzutrauen, Baumann und Pfiffner nehmen sich nicht ernst und stehlen sich aus der Verantwortung.

Ihr Witzfiguren-Kabarett ist inszenierte Wirklichkeit und löst eine andere Frage aus: Wie weit muss/sollte man Menschen vor sich selbst schützen?
Das diesjährige Locarno-Plakat zeigt ein Leoparden-Gesicht – der Leopard ist bekanntlich die Preistrophäe des Filmfestivals – und trägt halbseitig feminine Züge. Wie weit die diesjährige Ausgabe jedoch feminin geprägt ist, wird sich weisen. Frauen bleiben in der Minderzahl – bei den Regisseurinnen, bei der Jury, bei den Geehrten. Immerhin wird die englische Schauspielerin Charlotte Rampling mit dem Excellence Award Moet & Chandon am Eröffnungsabend (1. August) geehrt.

 

Probleme, Befindlichkeiten, Erfahrungen
Frauen am Rande der Gesellschaft, ausgestossen, diskriminiert, stehen im Mittelpunkt des Dokumentarfilms «Dance of Outlaws» von Mohamed El Aboudi. Die Koproduktion aus Finnland/Norwegen beschreibt, wie eine Afrikanerin, von der Familie geächtet, zur Aussenseiterin wird und sich durch Prostitution über Wasser hält.
Diese packende Beschreibung einer Leidtragenden und eines Lebens zwischen Hoffnung und Scheitern, gesellschaftlichen Zwängen und Ungerechtigkeit ist einer von sieben Filme, die in der Filmkritikerwoche (Semaine de la critique) vom 3. bis 10. August gezeigt werden. Diese Sektion im Rahmen des Filmfestivals, organisiert und ausgewählt von Mitgliedern des Schweizerischen Verbandes der Filmjournalisten/-innen (SVFJ), erlebt nun seine 23. Auflage und ist ein fester Wert des Festivals. Hier sind herausragende Entdeckungen aus der Welt des Dokumentarfilms zu machen.

 

Der Schweizer Stefan Haupt erkundet die unendliche Geschichte der «Sagrada», der Kathedrale nach Entwürfen von Antonio Gaudí, an der seit 130 Jahren gebaut und gestaltet wird. Das Gotteshaus, das wächst und wächst, ist längst zu einer Touristenattraktion geworden. Und so kommt es, dass die Millionen Besucher mit ihren Eintritten den Weiterbau finanzieren Der Film, poetisch, philosophisch, phantasievoll, bietet auch das Abbild spanischer Kulturgeschichte.
Die Auswahl der Filmkritikerwoche widerspiegelt Probleme, Befindlichkeiten unserer Gesellschaft und Ereignisse der Welt. Fritz Ofner blickt hinter die Kulissen eines Krieges, er berichte von der «Waffenschmiede» der Rebellen in Libyen, die aus Beutewaffen und irgendwelchen Ersatzteilen Waffen zimmern: «Libya Hurra». Thymaya Payne berichtet von Piraten aus Somalia, die der Not gehorchend Schiffe kapern, und einer Schiffsbesatzung, die solch einer Situation zum Opfer fiel: «Stolen Seas». Der in Deutschland aufgewachsene Chinese Bin Chuen Choi sucht seine Mutter – und findet sie in Vancouver. Doch die will nichts mehr mit ihrem Sohn zu tun haben. Eine bittere Erfahrung: «Mother‘s Day».
Seine Mutter ist an Alzheimer erkrankt. Um seinen Vater zu unterstützen, betreut der Sohn sie einige Woche und dringt dabei in die Vergangenheit einer Ehegemeinschaft vor, die irgendwie hielt – aus Vernunft und Verantwortung. Dabei entdecken Vater und Sohn David Sieviking, der diese persönliche Geschichte dokumentiert, eine tiefe Verbundschaft: «Vergiss mein nicht».
Ein modernes KZ, von dem die Welt wenig bis gar nichts weiss. Einer, der in solch einem menschenverachtenden Gefangenencamp Nordkoreas geboren und aufgewachsen ist, erzählt, wie er seine Mutter aus Neid verpetzt hatte. Sie hatte für ihren Sohn gehamstert und wurde hingerichtet. Dank Opferung eines Mitflüchtlings konnte der Erzähler entfliehen. Der Deutsche Marc Wiese hat die schrecklichen Erfahrungen des Gefangenen aufgezeichnet, die mit Comics illustriert wurden. Ein Dokfilm, der unter die Haut geht: «Camp 14».

 

Locarno 2012 und seine 65. Ausgabe ist reich bestückt und legt mehr Wert als auch schon auch schon auf Stars (irdisch) und Sterne (himmlisch). Festivaldirektor Olivier Père erwartet namhafte Gäste wie Charlotte Rampling, Alain Delon, Ornella Muti, Valeria Bruni Tedeschi, Ingrid Caven, Harry Belafonte oder Gael Garcia Bernal.

 

Doch neben Promis, Partys und Politik sind die Filme in Locarno das Mass aller Dinge die Filme: «Eine cinephile, neugierige und ehrgeizige Veranstaltung, die mit viel Verve die Doppelrolle des Kundschafters und Wegbereiters spielt und neue ästhetische Strömungen, geografische Verlagerungen und das Schaffen junger Künstler aufmerksam verfolgt«, predigt Direktor Père.
19 Filme figurieren im Internationalen Wettbewerb, davon sind 13 Weltpremieren. Premieren, Preise und Nebenveranstaltungen zuhauf. Und ein Forum für den Schweizer Film: Annähernd 40 Werke sind in den diversen Sektionen zu sehen, ältere etwa in der Rubrik Histoire(s) du Cinema mit drei Werken von Hans Richter, einer kleinen Hommage an Hannes Schmidhauser («Uli der Knecht» u.a.), Erfolge wie «Grounding» oder «Die Kinder vom Napf». Der Nachwuchs erhält eine Chance bei den Pardi di Domani. Eine kleine Nabelschau, doch Schweizer Filme die international im Kinogeschäft bestehen könnten, sind so gut wie nicht in Sicht.

Vielleicht können die Bienen («More Than Honey») Grenzen überschreiten oder die Betrachtungen der «Sagrada» internationales Interesse finden. Die Schweiz eine Kinoinsel – aber mit bestem internationalen Sortiment, so auch in Locarno 2012.
 

 

Die Preisträger von Locarno 2012:

Goldener Leopard für den besten Film: La fille de nulle part von Jean-Claude Brisseau, Frankreich

Spezialpreis der Jury (Silberer Leopard): Somebody Up There Likes Me von Bob Byingron, USA

Beste Regie: Ying Liang für Wo hai you hua yao shuo, Südkorea/China

Beste Darstellerin: An Nai in Wo hai you hua yao shuo

Bester Darsteller: Walter Saabel in Der Glanz des Tages, Österreich

Publikumspreis: Lore von Cate Shortland, D/AUS/GB

Goldener Leopard/Preis George Foundation (Nachwuchs):

Goldener Leopard/Preis George Foundation (Nachwuchs): Inori Pedro Gonzalez-Rubio, Japan

Fipresci-Preis der Filmkritik: Leviathan von Lucien Castaing-Taylor und Véréna Paravel, GB/USA/FR

Bester internationaler Kurzfilm: The Mass of Men von Gabriel Gauchet, GB

Bester nationaler Kurzfilm: Radio-actif von Nathan Hofstetter

Jugendjury Special Mention: Image Problem von Simon Baumann und Andreas Pfiffner, CH; The End of Time von Peter Mettler, CH

Auszeichnungen für das Lebenswerk erhielten Alain Delon, Gael Garcia Bernal und Harry Belafonte.

 

 

Von Missen, die man nicht vermisst, und Filmen, die man nicht vergisst
Eine Nachlese von Rolf Breiner

 

Was bleibt haften, was kann man vergessen, klingt nach? Was war eine Begegnung wert – an diesem 65. Filmfestival Locarno im August 2012? Es sind immer noch – dem breit gefächerten, leider auch auswuchernden Programm des künstlerischen Direktors Olivier Père sei Dank – die Filme, die im Blickpunkt stehen, vielleicht nachwirken. Es sind nicht die inszenierten gloriosen Auftritte der Stars und Preisträger auf der Piazza Grande.

 

Die Taktik ist durchschaubar und erfolgreich, vom Standpunkt der Festivalleitung gesehen: Die Stars kommen, weil sie hofiert werden, weil ihre Eitelkeit gestreichelt wird, indem sie mit einem Leoparden dekoriert werden – fürs Lebenswerk, für Karriere oder schlicht, weil sie dafür zu haben sind. Diese Inflation von Ehrenpreisen in Locarno hat etwas Anbiederndes, etwas Kalkulierendes, letztlich Kommerzielles und Künstliches.Es gibt Ausnahmen. Es war verdienstvoll, dass die 66-jährige britische Schauspielerin Charlotte Rampling in Locarno erschien und einen Champagner-Award entgegen nahm. Ihre Ausstrahlung ist auch nach vier Jahrzehnten Filmarbeit ungebrochen. Das Wiedersehen mit dem «Skandalfilm» aus dem Jahr 1974, «Nachtportier» (Il portiere di notte) von Liliana Cavani um eine schicksalhafte Verflechtung und Besessenheit von Opfer und Nazi-Täter, war ebenso ein Filmereignis wie der neue Film mit der Rampling. «I, Anna» von Barnaby Southcomb wurde von vielen verpasst und fand kaum Niederschlag. Mutter und Sohn (Regie) auf der Filmbühne in Locarno waren ein nachhaltiger Auftritt.

 

Die Rampling – faszinierend wie eh und je
Es handelt sich bei Anna um eine reife, undurchsichtige Femme fatale, die Männer wie Fliegen in ihr Netz lockt, so auch einen Kriminalkommissar (Gabriel Byrne), der brutale Mordfälle untersucht. Das Regiedebüt ihres Sohnes Southcombe adaptierte einen Roman der Psychoanalytikerin Elsa Lewin, der bereits 1998 von Nico Hoffmann («Solo für Klarinette») verfilmt wurde. Der packende Psychothriller (2011) mit Charlotte Rampling als verhängnisvolle «Spinne» soll im November in unsere Kinos kommen.

 

Ein anderer, der den «Titel» Star zu Recht trägt, war der ewige Charmeur Alain Delon. Der einstige «Eiskalte Engel» wurde für sein Lebenswerk ausgezeichnet, das es wirklich in sich hat. Er war der beste Ripley (nach Patricia Highsmith) aller Zeiten, Liebes- und Lebenspartner (auf Zeit) mit Romy Schneider und heute ein Grand Seigneur, der milde lächelnd und eher belustigt den Leoparden in die Arme nahm. Er war in Locarno nur mit einem alten Film präsent – «Rocco und seine Brüder» (1960 von Luchino Visconti,).

An einer Pressekonferenz sprach er über sein Verhältnis zum Kino heute. Früher hätte man im Kino noch geträumt, so Delon. Das sei heute kaum noch der Fall. Das sei auch ein Grund, weshalb ihn die Filmwelt kaum noch reize. Immerhin, den gelähmten Mann im Rollstuhl des Kinohits von den ziemlich besten Freunden («Intouchables») hätte er wohl gern gespielt.

 

Grosse Emotionen
Einem Schweizer Star oder besser Sonnyboy widmete sich Locarno 2012 retrospektiv: Hannes «Pussy» Schmidhauser wurde mit einem Dokfilm von Victor Tognola geehrt. Ein netter braver Bilderbogen über den Fussballer aus dem Tessin, über den beliebten Uli als Knecht und Pächter oder den sympathischen Filou, der zuletzt sein Kinoglück als «General Sutter» probierte – und floppte. Schade nur, dass der Tessiner Filmer nicht die letzten Fussballauftritte Schmidhausers im Lido zu Locarno erwähnte, als er als Goalie das Team der All Star Kickers verstärkte – in den Neunzigerjahren. Der Berichterstatter agierte selber dazumal als Libero vor dem ballverliebten Hannes.

Popige Starrummel-Atmosphäre à la Cannes oder Venedig kam auf, als der Latino-Liebling Gael Garcia Bernal, auch er mit einem Champagner-Award bedacht, bei der Premiere des Politfilms «No» an und auf der Pizza auftauchte. Die weiblichen Fans jubelten ihm zu. Ergreifender war freilich, als sein Bruder auf der Bühne auftauchte und vor Freude weinte.

 

Emotionelle Momente – die gab es auch in Locarno 2012. Einer gehörte sicher auch David Sieveking und seinem Vater Malte nach der Vorführung des Dokumentarfilms „Vergiss mein nicht“ im Kursaal. Viele fühlten sich von dieser Geschichte über Gretel, Mutter und Ehefrau, die an Alzheimer erkrankte, betroffen. Dieser Film wie andere sechs Dokumentarfilme in der Sektion Filmkritikerwoche (Semaine de la Critique) fanden grosses Publikumsinteresse. Die Schlangen sind schon legendär. Und das seit Jahren, doch mehr Kinoraum gibt es (noch) nicht.

Grossen Publikumszuspruch fand einmal mehr die Retrospektive in Locarno, diesmal Otto Preminger gewidmet. Das Wiedersehen mit Marilyn Monroe als singende Blondine in «River of No Return» (1954) war ein Beispiel dafür. Diese abenteuerliche Western-Flussfahrt erlebt man heute so melodramatisch und kitschig, dass sie bereits klassisch wirkt. Auch die Krimi-Melodramen «Laura» (1944) oder «Fallen Angel» (1945) sowie das Kriegslagerdrama «Stalag 17» (1953) sind emotionale Filmwerke, die heut noch Bestand haben. Filmische Kleinode.

 

Schweizer Einsätze
Wiedersehen bringt oft Freude – mit Filmen, Filmern, Freunden und Kollegen. Auch dafür ist Locarno ein gutes Terrain. Tout Suisse Films findet sich beim Apéro der Zürcher Filmstiftung ein. Man plaudert mit Erich Langjahr über sein neustes Bergwerk «Mein erster Berg – ein Rigi Film», der damit seine filmische Betrachtungen der ländlichen und alpinen Schweiz (Langjahr) abschliessen will (im Herbst im Kino), oder mit Urs Odermatt über Erfahrungen und Begebenheiten um sein kontroverses, herbes Schänderdrama «Der böse Onkel».
Man tauscht sich aus, erklärt sich, ermutigt und kritisiert. Etwa mit Filmern, die in Locarno ein internationales Forum finden und ihre neusten Werken präsentieren konnten. Viel Lärm im Vorfeld, angefacht vor allem durch Boulevard-Medien, für Michael Steiners jüngstes Machwerk «Das Missen Massaker». Zugeschnitten auf ein kreischendes Popcorn-Publikum, das gern sein Hirn ausschaltet, greift der Filmer («Sennentutschi») tief in die Horror-Maskenkiste und bedient sich hemmungslos bekannter Slash- und Splitter-Streifen. Doch bei diesem biederen Kitzelmachwerk sind die Effekte zu fadenscheinig, die blonden und brünetten Misse dümmer, als die Polizei oder der Geschmack erlaubt, die vermeintlichen Witze Miss-lungen und die Story Miss-glückt. Wer daran Gefallen findet, ist selber schuld und kann sich ab 23. August selber ein Kinobild machen.

 

Ein anderer erfolgreicher Schweizer, Christoph Schaub, wartete am veregneten «Schweizer Abend» in Locarno mit dem Beziehungs-Roadmovie «Nachtlärm», auf. Gespickt mit Krimielementen, Paar- und Ehekonflikten, wird die Geschichte um ein lärmendes Baby, zerstrittenen Eltern, einem obskuren Gangsterpärchen und einem Räuber zu einem länger denn mehr biederen Schweizer Genremix. Allzu durchsichtig und belanglos. Filmer Schaub und Autor Martin Suter schielen auch dank deutscher Topbesetzung auf den deutschen Kinomarkt. Die Marketingvorbereitungen laufen und Locarno ist ein willkommenes Pflaster dafür. So bemühte sich der Schweizer Filmverleih für «Nachtlärm» um möglichst viel Presseengagement und lud zu Interviews.

Die Hauptdarstellerin Alexandra Maria Lara war ein Objekt der Medienbegierde und einfach ausgebucht. Denn auch das ausländische Interesse sei gross, hiess es von Seiten des umtriebigen Verleihs. Als Alternative wurde uns ein Interview (max.20 Minuten) mit der Winterthurerin Carol Schule angeboten, die eine Punkerin mit Gefühl, verkörpert. Aus dem Interview wurde ein Small Talk von knapp 15 Minuten. Festivalalltag. Immerhin, die Jungschauspielerin bastelt mit ihrem Lebenspartner an einer Platte und könnte sich vorstellen, auch eine Rolle wie die der Lisbeth Salander in den Verfilmungen der Stieg Larsson-Trilogie «Millenium» zu bewältigen.

 

Locarno ist ein nachhaltiger Filmkulturevent, der dank Festivalpräsident Marco Solari ein nationales Ereignis geworden ist – wächst und weiter wachsen soll. Der Beobachter meint freilich, dass das Festivalprogramm überbordet und ins Festival mehr reingepackt wird, als gesund ist.

Die Festivals im Festival grassieren, die Ehrungen haben inflationären Charakter und das implantierte Staraufgebot ist ein fragwürdiges Zugeständnis an Boulevard-Medien. Man fragt sich auch, wer wie bedient wird. Filmschaffende werden hofiert, wenn sie entsprechend präsent sind, Sponsoren werden zu bevorzugten Zuschauern der ersten Klasse aufgeboten und zur Piazza-Karawane formiert.

Das Piazza-Publikum wird geduldet und an die Ränder gedrängt. Immerhin werden der jüngeren Generation auch Genre-Seifenblasen wie das überflüssige hirnverbrannte «Missen Massaker» oder – schlimmer noch – der dämliche postpubertäre Streifen «Bachelorette» angeboten.

Dass das Piazza-Publikum unterschätzt wird und auch Anspruchsvollem zugeneigt ist, zeigte das Flüchtlingsdrama «Lore». Dieser deutsche Film einer Australierin gewann den Prix du Public. Der Film von Cate Shortland schildert die Flucht eines Teenagers und seiner Geschwister, Ausgeburt einer Nazi-Familie, um 1945 vom Schwarzwald zur Nordsee. Ein starkes Stück mit grosser Kinosubstanz.

Dass viele Filme vom Locarneser Concorso Internationazionale wohl kaum unseren Kinos zu sehen werden, ist Kinorealität. So wird es wohl auch dem Siegerfilm des Altfilmers Jean-Claude Brisseau, «La fille de nulle part», ergehen.
Das nächste Filmfestival Locarno findet vom 7. bis 17. August 2013 statt.

 

Locarno Finale

Knall auf Fall verlässt Direktor Olivier Père das Filmfestival Locarno – nach nur drei Jahren. Das wurde am 27. August bekannt. Ein Nachfolger soll bereits im September präsentiert werden. Père, der einen guten Job in Locarno gemacht und zur Popularisierung des Piazza-Programm wesentlich beigetragen hat, wird Generaldirektor von Arte France Cinéma.

 

 
6. September 2012. Carlo Chatrian heisst der neue künstlerische Direktor des Filmfestivals Locarno. Der 41-jährige Italiener ist am 4. September vom Verwaltungsrat des Filmfestivals als Nachfolger des unerwartet vor zwei Wochen abgetretenen Franzosen Olivier Père bestätigt worden.
Chatrians wurde schon Tage zuvor in der Tessiner Presse als aussichtsreichster Nachfolger gehandelt. Der in Turin geborene Filmjournalist und Philosoph, der seine Wurzeln im zweisprachigen Aostatal hat, ist in der Schweiz kein Unbekannter: 2002 moderierte Chatrian in Locarno Gespräche mit Schauspielern und Regisseuren, war von 2006 bis 2009 Mitglied des Auswahlkomitees und zeichnete in den letzten Jahren für die Sektion Retrospektiven des Filmfestivals Locarno verantwortlich.

 

 

 
Buchtipp: Neuerscheinung «Milton’s Marilyn. Die Photographien von Milton H. Greene»

Zum 50. Todestag von Marilyn Monroe am 5. August 2012:
Die schönsten Bilder der Ikone bei Schirmer/Mosel.

 

Am 5. August 2012 ist es auf den Tag genau 50 Jahre her, dass Norma Jeane Baker alias Marilyn Monroe in Los Angeles im Alter von nur 36 Jahren verstarb. Um ihren Tod ranken sich Legenden wie Verschwörungstheorien – eins steht jedoch fest: kein anderer weiblicher Filmstar ist bis heute so berühmt, verehrt und nachgeahmt worden wie Marilyn Monroe. Auch 50 Jahre nach ihrem Tod ist die Faszination an der faszinierendsten Stilikone des 20. Jahrhunderts ungebrochen.

 

So erotisch, elegant und betörend schön wie von Milton H. Greene (1922-1985) ist Marilyn Monroe (1926-1962) nie zuvor und auch später nie wieder photographiert worden. Zwischen 1953 und 1957 war der professionelle Photograph Milton H. Greene ihr künstlerischer Berater, Agent und Geschäftspartner. Er war es, der Marilyn durch geschickte Schachzüge aus den Fesseln ihres Vertrags mit der 20th Century-Fox befreite und mit ihr eine unabhängige Produktionsfirma, die MMP «Marilyn Monroe Productions Inc.», gründete, der die Schauspielerin endlich angemessene Gagen und das Mitspracherecht bei der Wahl von Filmstoffen verdankte. In den vier Jahren gemeinsamer Arbeit entstanden ausserdem unzählige Photographien: Marilyn privat, bei den Dreharbeiten zu «Bus Stop» und «The Prince and the Showgirl» sowie jede Menge Studioaufnahmen. Insgesamt eine Fülle kostbarer Marilyn Monroe-Ikonen aus einer Zeit, in der sie auf dem Zenit ihrer Schönheit und ihres Ruhms steht. Durch den Bruch dieser Freundschaft blieben die Bilder über vierzig Jahre unveröffentlicht, bis die Erbstreitigkeiten beigelegt wurden. Schirmer/Mosel hat sich als einer der ersten deutschen Verlage den visuellen Hinterlassenschaften des Filmstars angenommen und in den letzten Jahrzehnten zahlreiche Marilyn-Bücher herausgegeben.

 

Eines der schönsten Bildbände ist «Milton‘s Marilyn», das soeben in einer Sonderausgabe erschienen ist. Milton Greene’s Bilder zeigen Marilyn auf dem Höhepunkt ihrer körperlichen Schönheit und ihres berufl ichen Erfolgs und auch Marilyn ganz privat und ohne Make-up. Für ihre leidenschaftliche und lebenslange Liebesaffäre mit der Photographie bekannt, zeigt die Hollywood-Diva hier ihr ungewohnt natürliches Gesicht. Eine Entdeckung!

 

Milton‘s Marilyn.
Die Photographien
von Milton H. Greene.
Schirmer/Mosel-Verlag München 2012
Hrsg. Joshua Greene.Mit einem Text von James Kotsilibas-Davis.

220 Seiten, 214 Abbildungen
CHF 30.50. € 19.80, (A) € 20.40.
ISBN 978-3-8296-0613-4 (D). 978-3-8296-0614-1 (E).

 

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