«Florian Illies: Wie steht es um die Liebe in dunklen Zeiten?»
Von Ingrid Isermann
Florian Illies lässt virtuos die Zwanziger- und Dreissigerjahre lebendig werden, mit ihrem verführerischen Glanz und den Vorahnungen einer dunkler werdenden Zeit, der den Blick für die Polarisierung der Gegenwart schärfen kann.
Schon mit seiner Chronik «1913» konnte Florian Illies begeistern (Archiv Literatur & Kunst, 02/2013). Erneut stellt seine tiefgründige leichtfüssige Lektüre das Zeitgeschehen der Zwischenkriegszeit von 1929 bis 1939 authentisch und nahbar dar.
Als Regisseur Dominik Graf 2021 Szenen für seinen Spielfilm «Fabian» nach dem Klassiker von Erich Kästner in Görlitz drehte, der im Jahre 1931 spielt, grölten Jugendliche Nazi-Parolen auf den Strassen, als wären sie Komparsen aus dem Drehbuch. So verschränkte sich die Gegenwart mit der Vergangenheit. Jede Gegenwart wählt die historische Epoche aus, in der sie sich spiegeln will, so Illies.
Auch neu inszenierte Spielfilme wie «Felix Krull» von Thomas Mann oder «Schachnovelle» von Stefan Zweig führen in die Zeit der Dreissigerjahre, wie auch der TV-Mehrteiler «KadeWe Berlin. Eldorado», demnächst startet die vierte Staffel der TV-Erfolgsserie «Babylon Berlin», die ebenfalls im Jahr 1931 spielt.
Die Dichterin Mascha Kaleko steht in der Tür, nach feuchtfröhlichen Treff im «Romanischen Café» mit Tucholsky und Joseph Roth im Berlin des Jahres 1929, während ihr Ehemann schon schläft und sie ihm ein rührendes Liebesgedicht schreibt und behutsam neben das Bett legt.
Marlene Dietrich doziert im Frühjahr 1929 auf der Bühne am Kurfürstendamm in George Bernard Shaws Theaterstück Eltern und Kinder, genüsslich lasziv an ihrer Zigarette ziehend: «Wer würde schon riskieren, einen Mann aus Liebe zu heiraten? Ich nicht».
Gottfried Benn, Arzt und Dichter, ist in die Räume seiner Praxis an der Belle-Alliance-Strasse gezogen, sein Altersheim, wie er es nennt. Da ist er gerade mal 43 Jahre alt. Abends trinkt er ein Bier und isst tagsüber Kasseler im Reichskanzler um die Ecke. Manchmal versucht er ein Gedicht zu schreiben, aber es fehlt ihm an Inspiration.
Simone de Beauvoir findet Jean-Paul Sartre hässlich, als sie ihn das erstemal sieht, aber seine Intellektualität gefällt ihr. So trifft sie sich doch mit ihm, sie spazieren in den nahen Wald, diskutieren, trinken Cidre und essen Baguette und sie küssen sich. Der Anfang einer lebenslangen Beziehung.
Alma Mahler heiratet den elf Jahre jüngeren Franz Werfel, den sie zu schreiben auffordert, sie selbst geht lieber an Partys. Walter Benjamin ist Liebschaften nicht abgeneigt, neigt aber auch zur Melancholie, zu der er bald allen Grund haben wird.
Die Haute volée und die Coolness
Die ganze Haute volée der Dekade 1929 bis 1939 tritt auf, was für eine Bühne, was für Schauplätze! Der Glanz der vergangenen Zeiten, aber auch die Zeitenwende und Bedrückung spielt sich hier ab, der Stich ins Herz wegen höllischer Liebesqualen.
Die Neue Sachlichkeit bahnt sich im Berlin der Dreissiger Jahre an, die Coolness wird erfunden und gefeiert, der Kult um das Kühle und Coole. Romantik ist eine Sichtung des neunzehnten Jahrhunderts.
George Grunsz rühmt sich seines «Packeis-Charakters» während Bertolt Brecht in steifer Lederjacke Versteinerungsansagen in seinem Lesebuch für Städtebewohner erteilt: «Lobet die Kälte!». Die Republik wappnet sich für härtere Zeiten.
Ernst Jünger fordert eine «Literatur unter null» und Tamara de Lampicka experimentiert mit Materialien, später nennt man es Art déco. Als Andy Warhol sie zu verehren beginnt, heisst es Pop Art déco. 1929 ist es schon pure Gegenwart.
Die dreissiger Jahre beendet Marlene Dietrich nach trägen Wochen des Sonnens, Trinkens und Leidens in Antibes im Grand Hôtel du Cap-Eden-Roc an der Côte d’Azur mit ihrem Mann Rudolf, dessen Freundin Tamara, ihrer Tochter Maria, ihrer Mutter Josephine, ihrem früheren Liebhaber Josef von Sternberg und ihrem gegenwärtigen Liebhaber Erich Maria Remarque, genau so, wie sie sie mit dem «Blauen Engel» eingeläutet hat: als laszive Frau von Welt, die die Männer um den Verstand bringt.
Doch diesmal beginnt sie nach ihrer Rückkehr in Hollywood keine Liaison mit dem Regisseur des Westerns «Destry Rides Again», sondern mit Jimmy Stewart, dem Hauptdarsteller. Erich Maria Remarque, der ihr nachgereist ist, Europa und seine Frau Jutta verlassen hat, will der Dietrich nahe sein. Als sie ihn abblitzen lässt, schreit er sie an: «Liebe mich!» Marlene fängt zu singen an, den Song, den ihr 1932 Friedrich Hollaender auf den Leib geschrieben hat: «Ich weiss nicht, zu wem ich gehöre, ich bin doch zu schade für einen allein». Remarque wirft die Tür hinter sich zu und geht.
Emigration und Widerstand
Anfang September 1939 ist die Wirklichkeit auch in Sanary-sur-Mer eingezogen, der deutschen Emigrantenstätte in Südfrankreich. Sowohl seine Frau Marta als auch seine Hauptgeliebte Eva Hermann reden gemeinsam auf Lion Feuchtwanger ein, dass er als jüdischer Autor dringend Deutschland verlassen müsse. Doch er wartet zu lange. Am 23. September wird Feuchtwanger in das Internierungslager Les Milles verlegt, südlich von Aix-en-Provence. Als er nach einer Woche schon wieder frei ist, weiss er, dass diese Freiheit nicht lange dauern wird.
Die 18-jährige Sophie Scholl liebt den 23jährigen Offiziersanwärter Fritz Hartnagel, den sie vor zwei Jahren an einem Tanzfest kennengelernt hat. Er trägt die kurzgeschorenen Haare eines Soldaten, sie einen wilden Bubikopf. Einmal fragt sie ihn: «Glaubst du nicht, das Geschlecht könnte vom Geiste überwunden werden?».
Sophie wird sich für den aktiven Widerstand entscheiden, Flugblätter verteilen, auf denen steht: «Zerreisst den Mantel der Gleichgültigkeit, den ihr um euer Herz gelegt!» Fritz wird in Stalingrad schwer verwundet, sie geht in den Widerstand und wird dafür 1943 zum Tode verurteilt.
Florian Illies verwandelt in seinen Büchern vergangene Epochen in lebendige Gegenwart. Sein Welterfol «1913. Der Sommer des Jahrhunderts», der in 27 Sprachen übersetzt wurde, begründete ein neues Genre erzählender Geschichtsschreibung. Illies, geboren 1971, studierte Kunstgeschichte in Bonn und Oxford. Er war Feuilletonchef der «Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung» und der «ZEIT», Verleger des Rowohlt Verlages, leitete das Auktionshaus Grisebach und gründete die Kunstzeitschrift «Monopol». Heute ist er Mitherausgeber der «ZEIT» und freier Schriftsteller in Berlin.
Florian Illies
Liebe in Zeiten des Hasses
Chronik eines Gefühls 1929-1939
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2021
Geb., 432 S., CHF 37.90
ISBN 978-3-10-397073-9
«Georges Haldas: Boulevard des Philosophes»
In poetischer Eindringlichkeit schildert Georges Haldas Kindheits- und Jugenderinnerungen an seinen griechischen Vater aus Kephalonia im Exil in Genf, wo es um die existenziellen Fragen geht, deren Gültigkeit uns auch heute noch bewegt.
Die Chronik, wie Georges Haldas seinen eloquent erzählten autobiografischen Roman nennt, spielt in Genf in einer Strasse, dem Boulevard des Philosophes, am Rande des Universitätsviertels. In einer Mietwohnung in den 1920er- und 1930er-Jahren lebt die Familie mit Grosseltern, Eltern und zwei kleinen Kindern.
Der Vater, als mehrsprachiger und vielseitig gebildeter Ausländer, kann als studierter Jurist in der neuen Heimat nicht Fuss fassen. Seiner alten Heimat Griechenland entfremdet und in der Schweiz ein Fremdkörper geblieben, schlägt er sich als Hilfsbuchhalter durch, in jähzornigen Momenten wild gegen sein beschränktes Leben aufbegehrend. Die Mutter ist Schweizerin, in deren Elternhaus die junge Familie lebt.
Es ist das Schicksal seines Vaters, dem Georges Haldas nachspürt und somit zugleich die Geschichte seiner eigenen Kindheit. Er erzählt aus dem vielschichtigen Alltag, der sich hellsichtig auf subtile Weise entfaltet. Haldas verbrachte grosse Teile seiner Kindheit in der griechischen Heimat seines Vaters auf der Insel Kephalonia.
Für dieses Buch sollte man sich Zeit nehmen und in eine Atmosphäre der getragenen Gelassenheit über den Tag hinaus eintauchen. Schlicht ein wunderbares Buch!
«Boulevard des Philosophes» ist seit dem ersten Erscheinen des Buches im Jahr 1966 ein Fixpunkt in der Literatur der französischsprachigen Schweiz. Es liegt hier endlich wieder auf Deutsch vor.
Leseprobe
II. Kephalonia
(…) Wenn es Abend wurde, unternahmen wir oft einen ausgedehnten Marsch, der uns vom kleinen Fussballfeld – am Rande der Stadt, neben der Badeanstalt – bis zu jener felsigen Landzunge führte, an deren Ende ein Leuchtturm aufragt und von wo man den Golf sieht, mit der kleinen Stadt Lixouri im Hintergrund. Diese abendlichen Gänge haben sich tief in mein Gedächtnis eingegraben, wegen des unablässigen Gesprächs, das mein Vater neben mir führte, indem er mich winzigen Wicht zum Zeugen und Gesprächspartner nahm. Das Gespräch drehte sich im wesentlichen um zwei Themen, zuerst und vor allem um die Frage:
Was ist das Leben? Was tun wir auf dieser Erde? Welchen Sinn hat das Leben jedes einzelnen von uns in dieser Welt? Ich sehe noch den nachdenklichen Ausdruck des Mannes, der seinen Hut im heftig wehenden Abendwind festhielt und zu vergessen schien, dass er zu einem sechs- oder siebenjährigen Kind sprach. Er grübelte an einer sorgenvollen Frage herum, auf die es natürlich keine Antwort gab. Und ich folgte ihm ohne Mühe. Mehr als das: Es war für mich eine helle Freude, an diesen grossen Fragen ohne Antwort teilzuhaben, die im Laufe der Jahre zu meinen eigenen geworden sind. Um mich das Gewicht und das Ausmass jeder Frage deutlich spüren zu lassen, nahm er sie etwa so in Angriff: «Du siehst dieses Meer, diesen Himmel, den Leuchtturm da drüben. Nun, eines Tages wirst du sie nicht mehr sehen. Sie aber werden weiterdauern. Doch wenn wir einst tot sind, wo werden wir uns dann aufhalten, und was wird mit uns geschehen? Werden wir diese selben Dinge noch sehen, aber auf eine andere Weise? Oder gibt es für uns nur das Nichts?» Dann kehrte er wieder an den Anfang zurück, wie um die Sache unter einer leicht veränderten Perspektive anzugehen, und sagte: «Dieses Meer, dieser Himmel, diese Lichter von Lixouri, die jetzt angezündet werden, diese schönen Farben wird die Nacht unkenntlich machen. Du musst doch zugeben, dass die Dinge nicht sind was sie scheinen. Aber was sind sie dann? Und was heisst überhaupt sein?» Hier rührten wir an die Grundfrage. Ich blieb stumm, aber ich spürte die Gewalt dieser Frage so deutlich, dass sie mir seither auf Gedeih und Verderb ins Blut übergegangen ist. Mein Vater sammelte sich einen Augenblick, während er weiterging, und fuhr dann fort: «Über das Wesentliche wissen wir tatsächlich nichts…».
Georges Haldas, geboren 1917 in Genf, als Sohn eines griechischen Vaters und einer Schweizer Mutter, verbrachte einen Teil seiner Kindheit auf der Ägäis-Insel Kephalonia und lebte seit dem 9. Lebensjahr in Genf. Seinen Wunsch, Profi-Fussballer zu werden, gab er mit 20 Jahren auf und entschied sich für ein Literaturstudium. 1942 entstand sein erster Gedichtband «Cantique de l’Aube», die Poesie blieb für viele Jahre das Zentrum seines Schaffens. Bekannt wurde er mit seinen «Chroniken», als die zweite Chronik 1966 «Boulevard des Philosophes» erschien. Er veröffentlichte mehr als 50 Prosa- und Essaybände sowie Filmskripte für das Fernsehen und Drehbücher für den Filmregisseur Claude Goretta. Für sein Werk wurde er u.a mit dem Schweizer Schillerpreis (1972), dem Prix Edouard Rod (2004) ausgezeichnet. Georges Haldas starb 2010 in Mont-sur-Lausanne.
Georges Haldas
Boulevard des Philosophes
Eine Chronik
Übersetzt und mit einem Nachwort
von Elisabeth Dütsch
Band 8 der Reihe «unbegrenzt haltbar»
CHF 36. € 32.
Halbleinen, Leseband, 320 S.
ISBN 978-3-03850-072-8