Paul Strand: Anna Attinga Frafra, Accra, Ghana, 1964, Silbergelatine-Abzug. Colecciones FUNDACIÓN MAPFRE © Estate of Paul Strand. (5 Bilder)
Paul Strand: Young Boy, Gondeville, Charente, France (Jugendlicher), 1951, Silbergelatine-Abzug. Philadelphia Museum of Art, The Paul Strand Collection © Estate of Paul Strand.
«Fotomuseum Winterthur – Paul Strand: Als die Bilder sprechen lernten»
Von Daniele Muscionico
Das Fotomuseum Winterthur zeigt eine erstaunliche Paul-Strand-Retrospektive. Jeder kanns, jeder tuts, Fotografieren ist der neue Sex. Aber wer hats erfunden? Nicht das bilderverrückte Amerika. In Europa ist es passiert. Die europäische Kunstavantgarde – Picasso, Brancusi, Cezanne, der Kubismus und seine Kinder – hat amerikanische Fotografen angespornt, ihre Bildsprache immer wieder vorwärts, weiter und in die Moderne zu peitschen. Mit dem Effekt: Fotografie ist heute Weltsprache und als Kommunikationsmedium fast so erfolgreich wie Geld.
Wem diese Erklärung zu polemisch erscheint, wird im Fotomuseum Winterthur feststellen müssen, dass es tatsächlich so war. Und wie spannend ist diese Wahrheit! Co-Direktor Duncan Forbes hat die erste Retrospektive des amerikanischen Modernisten Paul Strand an Land gezogen. «Paul Strand – Fotografie und Film für das 20. Jahrhundert» heisst sie, und die grossen Worte über ein Werk, das 60 Jahre umfasst, lösen ihr Versprechen in jeder Silbe ein.
Ein McCarthy-Opfer
In der Figur von Strand (1890–1976) lässt sich ablesen, wie das Medium zur Moderne kam. Strand ist einer der wichtigsten Wortführer der fotografischen Avantgarde: durch seine Person, seine Arbeit (Fotos, Filme, Fotobücher), durch seine Reisen und Beziehungen in Europa. Hier lebte er ab 1950 bis zu seinem Tod, nahe Paris, nicht ganz freiwillig; er war wie viele kritische Künstler ein Opfer der McCarthy-Kreuzzüge und musste die USA verlassen. Dass dieser Rädelsführer der Neuzeit in seiner Mission mindestens so wichtig ist wie sein Landsmann, der Fotograf und Galerist Alfred Stieglitz, erkennt man in Winterthur sofort. Obwohl der Name und der Ruf von Stieglitz (1864–1946) bis heute ungleich populärer ist. Stieglitz war Strands früher Förderer in New York, und seine zweite Frau, Georgia O’ Keeffe, war elektrisiert von dessen direktem Stil. Doch schnell überflügelte der Jüngere den Älteren so offensichtlich, dass sich die beiden nur noch beschweigen konnten, um sich nicht bekämpfen zu müssen.
Ein überzeugter Demokrat
Strands Kampf galt der ästhetischen und politischen Arbeit hinter der Kamera. Er war ein Besessener der Idee eines gesellschaftlichen Wandels durch Kunst, ein Besessener des Glaubens an Demokratie. Er war besessen von der Überzeugung, dass das Verständnis von Geschichte und Geografie für eine Gesellschaft entscheidend sei, und beides wäre durch Fotografie ideal festzuhalten.
Duncan Forbes hat sich die erste grosse Übersichtsschau nach Strands Tod direkt an der Quelle geangelt. Dort, im Philadelphia Museum of Art, liegt seit Ende des letzten Jahres das Strand-Archiv. Und dort hat der Fotokurator Peter D. Barberie eine Schau zusammengestellt, die nach Philadelphia lediglich dreimal gezeigt werden kann. Dann müssen die fragilen Abzüge zurück ins Schonklima der Depots. Die Schau reist, teils verschlankt, nach Madrid in die Fondación Mapfre und nach London, ins Victoria and Albert Museum. Dass sie jetzt als Erstes nach Winterthur kommt, ist für Foto- und Filmfreunde wie Weihnachten und Ostern zusammen.
Schlüsselwerke
Denn es ist ja hier nicht nur Strands kurzer Avantgardefilm «Manhatta» zu sehen – jene Grossstadtsinfonie von 1920/21, die er zusammen mit dem Maler Charles Sheeler realisierte. Hat man überhaupt schon mal so viele bekannte Fotoklassiker in einem einzigen Raum erlebt? Schlüsselwerke der Fotogeschichte sind es, Meilensteine: Auf dem frühen Bild «The Wall Street» (1915) arbeitet Strand mit Schatten, Architektur und dynamisierenden Elementen wie Fussgängern, um festzustellen, «ob sich diese Art von Bewegung auf eine abstrakte und kontrollierte Art» wiedergeben liesse. Oder dann «The White Fence» (1916, Port Kent), jenes Bild, das ein Fachwerkhaus hinter einem weissen Holzzaun so zeigt, dass der Betrachter das Haus nächstens betreten wird. Die ganze Bedeutung von Heim und von Heimat wird hier sprichwörtlich Bild, wird Metapher und ist doch konkret.
«The White Fence» gehört zur frühen Gruppe von Stadtlandschaften, die das Bild so fragmentieren, dass nicht nur eine, sondern mehrere Geschichten gleichzeitig lesbar sind. Strand hat den fotografischen «Split Screen» erfunden, vor Erfindung des Wortes sogar. Als Beispiel seiner kurzen Episode als Strassenfotograf wiederum glänzt über allem die ikonische «Blind Woman» (1916), das Bild einer Frau, die ein Schild mit der Aufschrift «Blind» um den Hals trägt. Was ist verstörender? Der unübersehbare physische Defekt oder der brachiale Aufruf, der dem Defekt Aufmerksamkeit zollen und bei Passanten eine Geldspende lockermachen soll?
Der Junge ohne Namen
In anderen Sälen hängen die Naturstudien aus Maine von 1926. Und hier glaubt man endlich, was in der Fotogeschichte Legende ist: Strand beherrschte nicht nur die Verwendung des Naturlichts und die lange Belichtungszeit hinreissend. Dem stur Geduldigen gelang auch die Arbeit in der Dunkelkammer meisterhaft. Die Wucht der Details, die hier aus den Abzügen in Richtung des Betrachters schiessen, ist bestürzend. Pilze, Pflanzen, Felsen, Treibholz dringen in komplexen Verwachsungen und Verknotungen aus der Tiefe des Bildraums scheinbar durch die Oberfläche des Bildträgers.
Und dann, endlich, steht man vor dem Gesicht, das alle kennen und doch keiner kennt: Der «Young Boy» (1951, Gondeville, Frankreich) blickt frontal in die Kamera, provokant, intensiv. Er hat keinen Namen, doch ist es wichtig, wie er heisst? Strands Können lässt der Schönheit ihr Geheimnis, und das schliesslich macht Kunst zur Kunst.
© Tages-Anzeiger, mit freundlicher Genehmigung der Autorin.
Ausstellung im Fotomuseum Winterthur bis 17. Mai. Zur Ausstellung erscheint ein umfassender Katalog.
Gespräch mit dem Zürcher Schauspieler Joel Basmann:
«In jeder Rolle steckt etwas von mir drin»
Er wurde schon jung als Jungtalent und Shootingstar gefeiert: Der Zürcher Joel Basman hat innerhalb von gut zehn Jahren eine beachtliche Film- und Fernsehkarriere hingelegt. Nun ist er als junger DDR-Wilder im Szenedrama «Als wir träumten» zu sehen.
Interview: Rolf Breiner
Er pafft, was das Zeug hält, lebt, was die Zeit hergibt, und muss der ungebremsten Lebenslust Tribut zahlen. Im deutschen Szenedrama «Als wir träumten» agiert Joel Basman als junger DDR-Wilder Mark, der mit seinen Kumpels mehr als ein Fass aufmacht. Die DDR hatte sich mehr oder weniger selber abgeschafft und dann, Anfang der Neunzigerjahre, ist der Bär los – auch in Leipzig. Eine Clique Jugendlicher tobt sich in der neuen Freiheit aus, badet förmlich in lustvollem Ungehorsam, nachdem man zu DDR-Zeiten gegängelt, gemassregelt und diszipliniert wurde. Aber schon als 14-, 15-jährige haben die fünf Freunde aufbegehrt. Nun in Zeiten der Wende geniessen sie die Anarchie, kosten die neue Freiheit schier hemmungslos aus, gieren nach Genuss und werden wie im Rausch in den Abgrund gezogen. Was passiert, wenn Jugendliche sich von allen Zwängen befreit fühlen? Regisseur Andreas Dresen bringt es auf den Punkt: «Eben das, wenn Fische aus dem Aquarium ins Meer gespült werden». Manche werden vom Sog in die Tiefe gezogen, könnte man ergänzen. Wir trafen den 25-jährigen Joel Basman im Atelier Basman an der Anwandstrasse in Zürich. Hier führen seine Eltern, Veronika und Menachem Basman, seit 35 Jahren ein Schneidergeschäft. Junior Basman steuert seit zwei Jahren eine eigene Kreation bei.
Nach Deutschland nun die Schweiz – Sie sind auf Promotionstour für den Film «Als wir träumten». Eine lästige Pflichterfüllung oder mehr?
Joel Basman: Präsenz, Interviews – das gehört zu meinen Aufgaben, ist Teil vom Job. In diesem Fall ist es für mich auch ein Bedürfnis und läuft Hand in Hand mit der Filmlancierung. Es ist in diesem Fall keine Last für mich.
Nach der Berlinale ist der Film direkt in Deutschland angelaufen. Sie haben diverse Premieren begleitet. Wie war die Reaktion?
In Berlin fand die Premiere im Friedrichstadtpalast mit 1400 Leuten im Kino statt. Einmalig. Das war sehr schön. Viele Leute waren ‚geflasht‘. Der Film wurde offen aufgenommen.
Und wie war’s im Osten?
Auf unserer Kinotour in Leipzig, Gera und Dresden war’s interessant und spannend. Da kamen Leute ins Kino, die waren in dem Alter wie die Helden, waren Pioniere und kannten die Sprüche und Situationen.
Wie wichtig ist Ihnen der Kontakt zur Öffentlichkeit und zum Publikum?
Wichtig. Es tut gut, von einer wildfremden Person angesprochen zu werden. Man spürt, der Film hat etwas mit dieser Person gemacht. Das ist auch mein Ziel, mit den Filmen, die ich mache, die Leute zu erreichen.
Es geht in diesem Film um junge Leute in Leipzig, denen nach dem Ende der DDR plötzlich die Welt offen steht. Sie berauschen sich an der neuen Freiheit und Ihre Figur Mark ist mittendrin. Wir sind Sie selber mit dieser speziellen Sturm-und-Drang-Zeit klargekommen?
Es war für mich das Jugendgefühl, das mich interessiert hat, weniger die Zeit. Ich meine, solche Jungs hat’s auch 1788 oder 1530 gegeben. Klar hat die Wende in Deutschland damit zu tun, aber es ging vor allem um diese Jungentruppe. Ich weiss genau, was das für eine Gefühl ist, wenn du meinst: die Welt gehört dir.
Aber die Welt hat zurückgeschlagen…
Das hat Andreas Dresen sehr schön mal gesagt: Wenn du vom Aquarium ins Meer kommst, gibt’s auch tiefe Abgründe. Damit kommt nicht jeder klar.
Wie wichtig ist Ihnen der Zeitbezug, die Nähe zur Geschichte und den Figuren? Wie kommen Sie Ihnen nahe?
Die Neunzigerjahre sind für mich eine greifbare Zeit. Natürlich gab’s gewissen Sachen, die man damals nicht hatte wie Handys und so. Aber grundsätzlich war’s für mich greifbar.
Ein anderes Kapitel Zeitgeschichte schlägt das Drama «Dawn» auf, das eine Episode während des Kampfs um die Gründung des Staates Israel vor 70 Jahren beschreibt? Sie spielen eindrücklich einen jungen jüdischen Untergrundkämpfer. Was ist aus dem Film aus dem Jahr 2014 geworden? Kommt er noch ins Kino?
Ich weiss es nicht genau. Eigentlich sollte er im Kino Houdini in Zürich aufgeführt werden. Aber dann hat es dort gebrannt. Man muss abwarten.
Sie waren in bemerkenswerten Rollen auch in Schweizer Produktionen zu sehen –
beispielsweise als frustrierter Rollstuhlfahrer Valentin in «Vielen Dank für nichts» oder noch früher als russischer Strassenstromer in «Luftbusiness». Nicht selten verkörpern Sie Aussenseiter, die ihren Weg gehen. Zufall oder hat das auch etwas mit Ihnen persönlich zu tun?
Bestimmt hat es auch etwas mit mir zu tun. Ich glaube, je nach Rolle steckt mehr oder weniger von mir drin.
Wie kam’s zum Auftritt im George-Clooney-Film «Monuments Men»?
Ein ganz normales Casting wie auch beim Film «Als wir träumten». Da war eine Rolle vom Juden, der Deutsch spricht. Mit der grossen Rolle klappte es nicht, wohl aber mit einem kleineren Auftritt, und das mit Bill Murray. Das war schon was! Man kann sich kaum vorstellen, welche Maschinerie im Gang gesetzt wird, auch beim Casting.
Auch nach zehn Jahren im Schauspielerberuf werden Sie immer noch als Jungtalent gehandelt. Nervt Sie das?
Das ist der ewige Fluch. Mit 40 werde ich mich darüber freuen.
Was bedeutet Ihnen das Mitwirken im TV-Dreiteiler «Unsere Mütter, unsere Väter», der ja in den USA mit einem Emmy ausgezeichnet wurde. Ein weiterer Karriereschub?
In Deutschland auf jeden Fall, direkt aus Amerika habe ich kein Feedback bekommen. Es ist gut, sagen zu können: Ich war dabei.
Sie haben einige Auszeichnungen und Preise geholt – vom Shooting Star für Ihre Rolle in «Luftbusiness», dazu zwei Schweizer Fernsehpreise 2008 als «Jimmie» und nun 2015 für den Part in «Ziellos». Nun sind Sie für den Prix Walo nominiert. Wie wichtig sind Ihnen solche Anerkennungen?
Es ist eine Freude. Ich drehe ja nicht einen Film und denke, dafür kriege ich einen Preis. Da ist auf gewisse Weise auch ein Leistungsbeweis.
Man hat das Gefühl, dass Sie pausenlos filmen – vom «Tatort: Borowski und der Himmel über Kiel», wo Ihnen die «Rübe», so Ermittler Borowski, abgeschlagen wurde, bis zum Drama über Ausschreitungen in Rostock, «Wir sind jung, wir sind stark» von Burhan Qurbani. Woran arbeiten Sie zurzeit?
In Deutschland laufen zurzeit eben zwei Filme, weil einer – der eben über Jugendliche 1992 – zu spät herauskam, der aber wohl nicht in die Schweiz kommt. Jetzt arbeite ich in einem Kindermärchen und spiele den Mausekönig in «Nussknacker», Anatole Taubman ist übrigens auch dabei.
Neben Ihrer schauspielerischen Tätigkeiten haben Sie sich vor zwei Jahren als Designer hervorgetan und eine eigene Kleiderkollektion vorgestellt. Sind Sie familiär vorbelastet?
Klar, meine Eltern, beide Mode Designer, führen hier in Zürich einen Laden seit 35 Jahren. Ich bin hier aufgewachsen.
Joels Vater Menachem Basman kommt hinzu und erklärt: «Ich bin in Israel geboren, meine Frau Veronika ist Schweizerin, aus Sursee. Ich bin nach Frankfurt a.M gekommen und habe eine Schneiderlehre gemacht und Veronika hat ihre Lehre in Luzern gemacht, wir waren zusammen an der Modeschule in Düsseldorf, in Tel Aviv und dann in Zürich. Joel hat immer seine Kleider selber entworfen. In letzten Jahren kamen immer mehr Freunde, die seine Kleider wollten. Da habe ich gesagt: Hast du nicht Lust, eine Kollektion zu übernehmen. Seine Erfahrungen, sein Erfolg bringt uns viel. Das ist sehr positiv».
Joel Basman: Auch die neue Kollektion ist sehr klassisch und einmalig. Das ausschlaggebende bei uns ist, dass du alle Grössen hast, aber selber entscheiden kannst – über Knöpfe, Futter, Farbe etc. Du kannst also eine individuelle Zusammenstellung machen.
Was kostet bei Ihnen eine Hose, eine Jacke?
Menachem Basman: Eine Jacke kostet zwischen 1250 bis 1500 Franken, eine Hose zwischen 380 bis 510 Franken.
Wann schlägt bei Ihnen denn die Stunde der Modekreation?
Joel Basman: Immer wieder. Die Filme aus den Neunzigerjahre, die ich jetzt gedreht habe, haben mich inspiriert, beispielsweise bei den Jacken. Es sind die Kleinigkeiten, die mich anregen.
Joel Basman
Geboren am 23. Januar in Zürich (Sternzeichen: Wassermann), wollte Joel Basman schon als Junge Schauspieler werden. Jugendtheaterprojekte am Schauspielhaus Zürich (2003), Abschlussarbeiten an der Schauspielschule Zürich (2004/2005). Studium an der European Film Actor School (2008). Rolle des Zizou in der TV-Serie «Lüthi und Blanc» (2004-2006).
Filmauswahl: «Mein Name ist Eugen» (2004), «Cannabis – Probieren geht über Studieren» (2006), «Jimmie» (2007), «Luftbusiness» (2007), «Happy New Year» (2008), «Sennentuntschi» (2010), «Vielen Dank für nichts» (2012), «Draussen ist Sommer» (2013), «Monuments Men» (2014), «Wir sind jung, wir sind stark» (2014), «Als wir träumten» (2015).
Fernsehproduktionen u.a. «Lüthi und Blanc» (2004-2006), «Tatort.
Filmtipps
I.I. Filmemacher Oliver Hirschbiegel (DIANA, DER UNTERGANG, DAS EXPERIMENT) erzählt in seinem neuen Drama «ELSER – ER HÄTTE DIE WELT VERÄNDERT» ein einzelnes Schicksal, das die Geschichte der Nationalsozialisten entscheidend hätte verändern können. Ein wichtiger und prägnanter Film.
Es waren 13 Minuten. 13 Minuten, die gefehlt haben, dass ein Schreiner aus dem schwäbischen Königsbronn im Alleingang Adolf Hitler tötet. Doch es kam anders an diesem 8. November 1939 im Münchner Bürgerbräukeller: Hitler verlässt den Ort des Attentats zu früh – und Georg Elser wird zum Mann, der die Weltgeschichte hätte ändern und Millionen Menschenleben hätte retten können. Wer war dieser Mann, der die Gefahr, die von Hitler ausging, früher erkannte als viele andere, der handelte, als alle anderen mitliefen oder schwiegen? Der Film über Georg Elser (Christian Friedel) erzählt die Hintergründe des fehlgeschlagenen Anschlags im Bürgerbräukeller und zeichnet die Geschichte des Menschen Georg Elser, den sie in seiner Heimat den ‚kleinen Schorsch‘ nannten. Eine Geschichte von seinen frühen Jahren auf der schwäbischen Alb bis hin zu seinen letzten Tagen im KZ Dachau. Wenige Tage vor Kriegsende am 9. April 1945 liess Hitler den vereitelten Attentäter nach fünf Jahren Haft erschiessen.
Während der Jubiläumsrede Hitlers am 8. November 1939 wird ein Mann an der Schweizer Grenze wegen des Besitzes verdächtiger Gegenstände festgenommen. Nur Minuten später explodiert im Münchner Bürgerbräukeller, unmittelbar hinter dem Rednerpult des «Führers», eine Bombe und reisst acht Menschen in den Tod. Der Mann ist Georg Elser (Christian Friedel) aus dem schwäbischen Königsbronn. Als die Schweizer Polizei bei ihm eine Karte des Anschlagsortes und Sprengzünder findet, wird er dem Chef der Kripo im Reichssicherheitshauptamt Arthur Nebe (Burghart Klaussner) und dem Gestapochef Heinrich Müller (Johann von Bülow) zum Verhör nach München überstellt. Hier erfährt Elser, dass sein Plan gescheitert ist, dass Hitler, den er töten wollte, um das Blutvergiessen des gerade im September 1939 begonnenen Weltkrieges zu verhindern, den Bürgerbräukeller Minuten vor der Explosion verlassen hat. Tagelang wird Elser von Nebe und Müller verhört, tagelang schwer gefoltert und widersteht ihren Fragen. Bis er schliesslich auf Androhung, dass man seiner Familie etwas antäte, gesteht und die Geschichte seiner Tat schildert. Das ist höchst authentisch filmisch umgesetzt, wie der Nationalsozialismus langsam in Elsers Heimatdorf mit Mitläufern Fuss fasst und sich ausbreitet. Der Film zeichnet das Bild eines Volkes, dessen anfängliche und später zunehmende Begeisterung für den Nationalsozialismus einen düsteren Wandel heraufbeschwor, der auch das Zusammenleben der Menschen veränderte und sie ins Verderben stürzte. Das hervorragende Drehbuch zu ELSER stammt von Fred Breinersdorfer, der u.a. auch das Drehbuch zu «Sophie Scholl» verfasst hat, sowie Léonie-Claire Breinersdorfer.
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SF-Thriller Ex Machina
I.I. Im Science-Fiction-Thriller Ex Machina verliebt sich Programmierer Caleb in die schöne Ava, eine mit künstlicher Intelligenz ausgestattete Roboterfrau. Internetmogul Nathan (Oscar Isaac) lässt den 24-jährigen talentierten Programmierer Caleb (Domhnall Gleeson), der einen firmeninternen Wettbewerb gewonnen hat, für eine Woche nach Alaska in sein abgelegenes Forschungslabor einfliegen. Die Aussenaufnahmen wurden in Norwegens zerklüfteter Berglandschaft gedreht. Nach dem ersten Drink weiht der mysteriöse Hausherr den Gast in sein Experiment ein: Der junge Programmierer soll Ava (Alicia Vikander), eine mit künstlicher Intelligenz ausgestattete verführerische Roboterfrau auf ihr (Selbst-)Bewusstsein testen. Caleb, zunehmend von den intelligenten Dialogen mit Ava fasziniert, beginnt Gefühle für sie zu entwickeln, sich von seinem Chef zu distanzieren und plant mit Ava die Flucht. Nach einer Woche soll ihn der Helikopter wieder aus der Ödnis abholen. Doch die eigenständige Ava hat anderes vor und das Experiment nimmt eine unerwartete Wendung. Alex Garlands elegantes Regiedebüt ist ein raffinierter zeitgeistiger Psychothriller, der zum packenden Gender-Drama mutiert und Unterschiede zwischen Mensch und Maschine verwischt, wo es um Gefühle, Bewusstsein und Sexualität geht. Zuvor war Garland als Drehbuchautor tätig («The Beach», «28 Days Later», «Sunshine» und «Dredd»).
Ex Machina bezieht sich auf das lateinische «Deus Ex Machine», übersetzt «Gott aus der Maschine», den in griechischen Tragödien angewendeten Einfall, einen Schauspieler auf einer maschinellen Plattform auf die Bühne herabzulassen, damit er dort Sorgen und Probleme aller lösen kann.
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Als wir träumten
rbr. DDR-Kids unter Strom. Sie sind jung, ungestüm und hemmungslos: Die vier Burschen um die 17 Jahre berauschen sich an der neuen Freiheit – nach dem Mauerfall und der Selbstaufgabe der DDR. Rückblenden skizzieren Schulalltagsszene, als sich Dani, Rico, Pitbull und Paul plus Sternchen Katharina als 13-,14-jährige Schüler in Leipzig, diszipliniert wurden, aber stellenweise aufmuckten. Dann vier, fünf Jahre nach der Wende nehmen sich die Teenager alles, was sie kriegen können: Sie rauchen, saufen (das «Bier der Gewinner»), stehlen, demolieren und eröffnen in einem verfallen Kino die Techno-Disco «Eastside». Sie haben Erfolg und Neider und bekommen den Hass der faschistoiden «Glatzen» zu spüren. Der Rausch mündet in einem Desaster für jeden einzelnen, die Clique zerfällt. Dani (Merlin Rose), Tagträumer und Erzähler, verliert ebenso den Boden unter den Füssen wie «Bruder» Mark (Joel Basman), der Drogen verfällt. Rico (Julius Nitschkopf), ein mässiges Boxertalent, fällt ebenso auf die Schnauze wie Paul (Frederic Haselon). Pitbull (Marcel Heuperman) verkommt zum Drogendealer, der Mitschuld am Tode Marks trägt. Das von Dani und Rico angehimmelte Sternchen (Ruby O. Fee) landet im Milieu, strippt und verkorkst ihr Leben.
Andreas Dresen hat den Roman von Clemens Meyer rau, dicht und rabiat verfilmt. Dröhnende Disco-Musik, dunkle Aufnahmen, harte Schnitte kennzeichnen diese grenzenlose Konsumzeit. Weiche, farbige Bilder «verschönern» die Erinnerungen an die DDR-Schulzeit (Kamera: Michael Hammon). Kaum je im deutschen Kino wurden Zwang und Aufbruch, Rausch und Gewalt, Entwurzelung und Fall Jugendlicher in der Post-DDR so schonungslos dargestellt wie im Spielfilm «Als wir träumten». Das gnadenlose, authentisch anmutende Zeitbild beschreibt Euphorie, zerplatzte Träume, Leere und aufkeimende Gewalt faschistoider Gruppierungen – meisterhaft.
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Driften
rbr. Täter und Opfer. Robert (Max Hubacher, «Stationspiraten», «Der Verdingbub») wird entlassen, er hat vier Jahre abgesessen – wegen Raserei mit Todesfolge. Er versucht, wieder Boden unter den Füssen zu bekommen und keine illegalen Strassenrennen mehr zu fahren. Er fühlt sich zu der mehr als zehn Jahre älteren Englischlehrerin Alice (Sabine Timoteo) hingezogen, der Mutter des Unfallopfers. Er lässt sie im Unklaren, dass er der Todesfahrer war. Schuldbekenntnis, Wiedergutmachung? Sie verlieben sich… Karim Patwas erster abendfüllender Kinofilm überrascht durch seine Reife und Sensibilität. Er elektrisiert – auch dank der Hauptdarsteller Hubacher und Timoteo. Diese Geschichte (Drehbuch von Patwa zusammen mit Michael Pröhl verfasst) fesselt, weil Gefühle und Gefahren, Verzweiflung, Hoffnung und Enttäuschung, intime Momente und Speed-Action raffiniert verzahnt werden. Das Drama um Schuld und Sühne und Liebe hat tragische Dimensionen. Es verschönt und romantisiert nicht und wirkt beim Zuschauer nach. Eine gewisses Unsicherheit, Irritation und Unbehagen bleiben. «Driften» wurde beim Max Ophüls Preis in Saarbrücken dreifach ausgezeichnet: «Lola» – Preis des Ministerpräsidenten, Drehbuchpreis und Preis der Ökumenischen Jury. Beim Schweizer Filmpreis Quartz 2015 ging er fast leer aus: Allein Sabine Timoteo erhielt den Darstellerpreis.
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Les combattants
rbr. Gegensätzliche «Waffenbrüder». Sommerzeit. Der junge Arnaud (Kévin Azaïs) freut sich auf einen entspannten Sommer, will seinem Bruder beim Hobeln, Zimmern und Holzhäuschenbauen im Familienbetrieb helfen. Doch dann gerät er an die burschikose Madeleine (Adèle Haenel), die ihn bei einem Gerangel kurzerhand aufs Kreuz gelegt. Arnaud hat angebissen und folgt dem toughen Girl, das sich rau, maskulin und überlegen gibt. Madeleine geht stets ans Limit, will bei einer drohenden Katastrophe fit sein und will ein militärisches Trainingscamp absolvieren. Der sanfte, hilfsbereite Arnaud folgt ihr. Die Bewährungsprobe folgt bei einer Überlebensübung. Als es nicht so läuft, wie es sich Madeleine vorstellt, verlässt sie den Trupp ab, und abermals folgt ihr Arnaud. Das Ausreisserpärchen kommt sich am Busen der Natur näher, entdeckt die Liebe. Doch was sich wie ein wildromantisches Liebesabenteuer anfühlt, wird zum Überlebenskampf. Thomas Cailley, Regie und Drehbuch zusammen mit Claude le Pape, hat in der freien Natur in Aquitanien um Südwesten Frankreichs gedreht. Hier ist er aufgewachsen. Das romantische Abenteuer überzeugt durch Natürlichkeit und zwischenmenschliche Spannungen. Nach dem bewährten Motto «Was sich liebt, neckt sich» erzählt Cailley die Geschichte einer Annäherung, Freundschaft und Liebe, sein einfühlsam und hautnah. Sein Debütfilm (englischer Verleihtitel «Love at First Fight») ist wohltuend anders, fast etwas altmodisch. Die Hauptdarsteller Haenel und Azaïs als «Waffenbrüder» tragen wesentlich dazu bei, dass «Les combattants» in Cannes 2014 mit dem Kritikerpreis ausgezeichnet wurde.
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Une nouvelle amie
rbr. «Eine neue Freundin»: Unter diesem Titel läuft der elegante Beziehungsfilm von François Ozon. David (Romain Duris) verliert seine Frau und muss nun allein fürs Baby sorgen. Laura ist tot, und Freundin Claire (Anaïs Demoustier) hat ihr versprochen, sich im Fall der Fälle um den Witwer zu kümmern. Das tut sie denn auch, und entdeckt ein Geheimnis, nämlich Davids Vorliebe für Frauenkleider. Wie sich die beiden annähern, geradezu intim werden, wie Claires misstrauisch gewordene Ehemann (Raphaël Personnaz) reagiert und wer schlussendlich welche Rolle spielt und einnimmt, sei hier nicht verraten. Regisseur Ozon spielt meisterhaft auf der Tastatur geheimer Wünsche, Neigungen und Zuneigungen – berührend, melodramatisch und belustigend zugleich. Das macht ihm so schnell kein Filmemacher mit französischem Esprit nach.
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Little Death
rbr. Amüsante Tode. «La petite mort» ist die französische Beschreibung für Orgasmus. Der «kleine Tod» kommt über gewisse Paare oder auch nicht. Er wird ersehnt, erstritten, erarbeitet, beredet. In der Liebesepisoden-Komödie von Josh Lawson rackern sich diverse Pärchen Mitte dreissig ab, ihren Liebestraum zu verwirklichen. Paul, gespielt vom Regisseur Lawson selber, wird mit dem Wunsch seiner Frau Maeve konfrontiert, eine Vergewaltigung zu erleben. Phil ergötzt sich an seiner schlafenden Frau Maureen, die sonst nur an ihm rummäkelt, und forciert ihr Schlafbedürfnis. Evie und Dan kommen sich erst wieder auf Anraten eines Ehetherapeuten etwas, aber nur poberflächlich näher, als sie es mit Rollenspielen versuchen. Rowena und Richard wollen gern ein Baby, doch ihr Sexleben ist zur Routine verkommen. Rowenas Erregung wird erst wieder geweckt, wenn ihr Mann weint. Da helfen nicht nur Zwiebeln… Monica versieht Telefondienste und fungiert als Dolmetscherin für Gehörlose am Skype-Telefon. Sie soll für den Teilnehmer Sam die Verbindung zu einer Sex-Hotline herstellen und übersetzen. Das erregt gewissermassen, fragt sich nur wen? Fünf Paare in Liebesnöten. Das erotische Puzzle (ohne plakative Sexszenen!) des Australiers Lawson amüsiert mal mehr, mal weniger. Es versteht sich als Kommentar auf unsere Gesellschaft, auf Beziehungsdürre, Befriedung und geheime Wünsche. Eine augenzwinkernde Farce auf Lust und Liebe, wobei besonders die «Telefonsex»-Episode am Ende köstlich verschroben ist.
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Leviathan
rbr. Russische Tristesse und Entwurzelung. Eine karge Landschaft an der Barentsee. Ödnis pur in einem Küstenstädtchen. Das Gerippe eines gestrandeten Wals erinnert an ein biblisches Seeungeheuer (Buch Hiob) und signalisiert, dass hier nicht nur Tiere veröden und verenden. Der Automechaniker Nikolai «Kolja» Sergejew (Alexej Serebryakov) fristet ein kümmerliche Dasein mit seiner Frau Lilia und Roman, Sohn aus erster Ehe, auf dieser Halbinsel. Der korrupte gierige Bürgermeister Wadim Schelewjat will Kolja dessen Grundstück, seit Generationen in Familienbesitz, abluchsen, wenn nötig mit Macht und Gewalt. Das Stückchen Land hat dank der Lage einen besonderen Wert. Doch der Mechaniker wehrt sich, holt einen Freund aus Moskau, Dmitri, den Anwalt. Wie Don Quichotte gegen Windflügel oder Hiob gegen die Machenschaften des Teufels kämpft der redliche Kolja gegen Korruption, Niedertracht, gegen Amtsgewalt und -missbrauch. Er verliert Haus und Herd, seine Frau an den Freund und mehr. Lilia wird tot im Meer gefunden, und ihr Mann des Totschlags angeklagt, quasi versorgt. – Andrei Swjaginzew, der zusammen mit Oleg Negin das Drehbuch schrieb, beschreibt ein tristes Leben, schäbige Verhältnisse und perfide Machtträger. Man kann seinen Film als Allegorie auf ein marodes, amoralisches Russland lesen oder universell als Beispiel eines Menschen, der vom Schicksal, sprich politischer Macht und doppelzüngiger Kirche, verraten und geschlagen wird, dem Unrecht widerfährt und der von allen verlassen wird. Ein starkes Bildwerk voller Düsternis. Da bleibt nicht ein Hoffnungsschimmer. Leviathan ist übrigens ein bösartiges Seeungeheuer aus der Bibel, gegen das kein Mensch, nur Gott ankommt (Buch Hiob).
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A Most Violent Year
rbr. Redlich gegen alle Vernunft? New York um 1981. Der Unternehmer Abel Morales (Oscar Isaac) hat sich geschworen, sich nicht korrumpieren zu lassen, sich nicht Gangstermethoden zu bedienen, sondern mit Redlichkeit und Tüchtigkeit zum Erfolg zu kommen. Die Konkurrenz setzt alles daran, seine erfolgreiche Heizölfirma und ihn mürbe zu machen. Man überfällt seine Öltransporter, bedroht ihn und seine Fahrer, bis sich einer von ihnen gegen den Willen des Chefs bewaffnet und sich wehrt. Der Staatsanwalt Lawrence (David Oyelowo) hat Morales im Visier, und der verliert einen Bankkredit, den er dringend für eine Grundstücksinvestition braucht. Die jüdischen Besitzer haben ihm ein faires Angebot gemacht und verlängern die Frist. Und als ihm seine Frau Anna (Jessica Chastain) mit Geldern unter die Arme greifen will, die sie heimlich gebunkert hat, will er aus moralischen Gründen nicht darauf eingehen. Der Heizöllieferant geht quasi an Krücken, aber das mit Rückgrat.
J.C. Chandor hat einen eleganten Thriller inszeniert, der fast ohne Ballerei und Action auskommt, sondern subtil und konsequent seinen Weg geht. Bisweilen erinnert er an die grossen Mafia-Epen von Francis Ford Coppola oder die Gangster-Streifen von Sidney Lumet, doch Chandor entwickelt seinen eigenen untergründigen Stil. Man fürchtet jeden Moment, dass Gewalt ausbricht, dass etwas Fürchterliches passiert oder dass ein Chaos alles verschlingt. Doch Chandor hat alles unter Kontrolle. Sein Drama besticht durch Andeutungen und Auslassung, durch unterschwellige, aber kontinuierliche Spannung, Ästhetik und Noblesse – trotz Dreck und Blut. Am Ende bleibt keine Weste weiss, aber Härte, Hartnäckigkeit und Unbeugsamkeit zahlen sich aus, vielleicht auch auf politischer Ebene, signalisiert der Schluss.
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Pink Apple zum 18.
rbr. Schwullebisches Filmfestival in der Schweiz. Zum 18. Mal startet das Filmfestival, das sich gezielt lesbischen, schwulen und verwandten Themen widmet, in Zürich (29. April bis 7. Mai). Anschliessend wird eine Filmauswahl in Frauenfeld gezeigt (8. bis 10. Mai). Die Zahl 18 brachte die Veranstalter auf die Idee, nun speziell auch Filme zu zeigen, die mit dem Schutzalter 18 etikettiert wurden. Ein Special ist auf den Portugiesen Antonia Da Silva zugeschnitten, der die Grenzen zwischen Kunst und Pornografie verwischen möchte. Er wird Zürich einen Besuch abstatten.
Der Eröffnungsfilm stammt von der litauischen Regisseurin Alanté Kavaïté. Er heisst «Sangailé» und schildert die Liebe zwei junger Mädchen in Litauen. Weitere Filmschwerpunkte befassen sich mit Schwulen und Lesben in Kuba, mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem New Queer Cinema. Erstmals in seiner Geschichte lässt sich das Filmfestival nicht lumpen und vergibt einen Pink Apple Festival Award, dotiert mit 3000 Franken. Der Lausanner Lionel Baier (40) wurde zum Preisträger erkoren. Er drehte unter anderem einen Dokumentarfilm über die erste Gay Pride in Sion und den Film «Garçon stupide» (2004). Das genaue Festivalprogramm erscheint am 14. April 2015.
www.pinkapple.ch
Les ponts de Sarajevo
rbr. Eine Stadt – viele Geschichten, Perspektiven und Impressionen. Dreizehn Filmer und Filmrinnen, u.a. anderen auch Jean-Luc Godard und Ursula Meier, haben aus ihrer Sicht Mosaiksteine zu einem facettenreichen Stadtbild gesammelt: Sarajevo – vom Attentat auf Erzherzog Ferdinand 1914 bis zur wiedergenesenen Stadt heute. Die Ermordung des österreichischen Thronfolgers und seiner Frau in Sarajevo war ein auslösender Faktor zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Der Zusammenbruch Jugoslawiens und der folgende Ethno-Krieg auf dem Balkan 1992-1995 haben der bosnischen Stadt Sarajevo Zerstörung und Tod gebracht. Dreizehn Kurzfilme schlagen den historischen und gesellschaftlichen Bogen von 1914 bis 2014. Es sind Beiträge ganz unterschiedlicher Art von nachgestellten historischen Szenen, essayistischen Betrachtungen bis zu handfesten dokumentarischen Beispielen. Verzahnt werden die einzelnen Versatzstücke durch animierte Zeichnungen von François Schuiten, sie bilden Schnittstellen, gleichzeitig auch Brücken, trennende, zerstörte und verbindende. Jeder Filmer, jede Filmerin war frei, sich auf seine Weise mit dem Komplex, dem Kapitel Sarajevo auseinanderzusetzen.
Der Serbe Vladimir Perišić beschreibt in seinem Beitrag «Au gré de nos ombres» einen «Schatten», eben den Attentäter, der mit seiner Tat Jugoslawien einigen will. 60 Jahre später nach diesem historischen Mord ist Jugoslawien zerbrochen, sind die Brücken von Sarajevo zerstört. Folgerichtig nennt Jean-Luc Godard sie in seinem flüchtigen Filmessay «Die Brücken der Seufzer» (Le pont des soupirs). Die Schweizerin Ursula Meier («Home»), die zuvor Sarajevo nicht persönlich kannte, beschreibt den zehnjährigen Mujo beim Fussballspielen, der einen Elfmeter haushoch verschiesst. Der Ball landet auf dem Friedhof – mit Steinen des Anstosses, der Erinnerungen: «Silence Mujo». Man kann nicht sagen, dass sich am Ende der filmischen Partikel, Betrachtungen und Sichten ein rundes Stadt- oder Geschichtsbild Sarajevos ergibt. Zu divergierend sind die Beiträge, zu unterschiedlich in Qualität und Befindlichkeiten. Das Mosaik ist brüchig, fragmentarisch, vermittelt gleichwohl interessante Denkanstösse und erweist sich als ungewöhnliches europäisches Produkt.
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Une heure de tranquillité
rbr. Nur eine Stunde Ruhe. Aber die kriegt er nicht, der leidenschaftliche Jazz-Fan Michel (Christian Clavier). Er hat eine «antike» Schallplatte entdeckt und erstanden. Sein grösster Wunsch: Die Platte in aller Seelenruhe anzuhören und zu geniessen. Das ist zwar kein abendfüllendes Spielfilmthema, eher geeignet für einen netten Theaterabend (und das ist «Une heure de tranquillité» von Florian Zeller auch ursprünglich), aber Komödienjongleur Patrice Leconte macht daraus eine komische Tour de famille. Bei Michel, dem Egomanen und Egoisten, kommt vieles zusammen: Seine Ehefrau Nathalie (Carole Bouquet) ist doch nicht so koscher wie gedacht, seine Geliebte Elsa (Valérie Bonneton), zu allem Überfluss auch noch die Freundin Nathalies, funkt dazwischen, die Haushilfe Maria (Rossy de Palma) nervt Michel ebenso wie Nachbar Pavel (Stéphane de Groodt) mit einer Nachbarschaftsparty. Das haut den stärksten Ochsen um! – Lecontes Grosserfolg «Monsieur Claude und seine Töchter» ist kaum zu toppen. Seine jüngste Familienturbulenz ist dagegen – nicht überraschend – nur ein heisses Lüftchen, manchmal heftig, meistens linde. Der Spass hält sich in vorsehbaren Grenzen. Loriot hätte mehr aus dieser gutbürgerlichen Farce gemacht.
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Theeb
rbr. Ein Wolf in Beduinenklamotten. 1916 irgendwo in der Wüste zwischen Jordanien, Syrien und Palästina. Das Osmanische Reich wird von arabischen Revolten zwischen 1916 bis 1918 erschüttert. In diesem Wüstenkrieg gelang es den Drahtziehern Grossbritannien und Frankreich, besagtes Reich zu erschlagen. Sie teilten es unter sich auf. In dieser Zeit spielt das Drama um den Knaben «Theeb», was so viel wie Wolf bedeutet. Der aufgeweckte Beduinenjunge (Jacir Eid) ist nach dem Todes des Vaters seinem älteren Bruder Hussein (Hussein Salameh) quasi treu ergeben. Er folgt ihm, als der den Briten Edward (Jack Fox) als Ortkundiger auf einer heiklen Mission begleitet. Das Trüppchen gerät in einen Hinterhalt, Hussein und der Brite sterben. Der Knabe Theeb ist inmitten der Wüste allein auf sich gestellt und muss sich notgedrungen einem (verletzten) Räuber anschliessen, der vorgibt, ein Pilgerführer zu sein. – Nein, «Theeb» ist nur dem äusseren Anschein ein Abenteuerfilm. Er beschreibt in grandiosen Bildern (Kamera: Wolfgang Thaler) Theebs Reise vom schutzlosen Jungen zum Erwachsenen. Er ist ein wachsamer Beobachter, ein kleiner Wolf im Beduinenpelz. Der erste jordanische Spielfilm «Theeb» von Naji Abu Nowar, 1981 in Oxford geboren und seit 2005 definitiv in Ammann wohnhaft, schuf einen Film weit über Wüste und kriegerische Welten hinaus: Eine Entdeckung fürs Kino, wie sie vor Jahren aus Asien zu uns ins Kino kamen.
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Zu Ende leben
rbr. Die Prognose ist niederschmetternd eindeutig: Thomas Niessl, ehemaliger Motocrossfahrer und Velomechaniker, hat einen Gehirntumor. Operationen sind unausweichlich. Man weiss nicht genau, wieviel Lebenszeit und Lebensqualität ihm noch bleibt – zwei, drei oder sechs Jahre? Der bald 53jährige Thomas Niessl hat sein Schicksal angenommen. Nein, er laufe dem Tod nicht hinterher, meint Tom einmal und bietet ihm die Stirn. Trübsal blasen ist nicht sein Ding. Auch eine weitere Operation wirft ihn nicht aus der Bahn. Selbst der kurvige Verlauf der Narbe auf seinem Kopf gibt ihm Anlass zu scherzen. Rebecca Panian hat Tom aus Wetzikon über Monate begleitet – von Zürich bis Finnland (Nordlichter). Jung-Regisseurin Panian, gelernte Schriftenmalerin, Journalistin, Autorin, Produzentin, begleitete nicht nur Niessl über Monate, sondern liess auch das heikle Thema reflektieren, etwa durch Prominente wie TV-Moderator Kurt Aeschbacher, die Schriftsteller Pedro Lenz und Franz Hohler. Immer wieder streut die Filmerin Bilder vom Baum ein, der gefällt, zersägt und dessen Holz schliesslich zu einer Wiege verarbeitet wird. Wenn man so will – ein Lebensbaum, der sich wieder erneuert. Und so ist die Grundstimmung dieser innigen Dokumentation eines Lebenskampfes, stets warm und hoffnungsvoll – trotz Damoklesschwert, das über Toms Haupt schwebt. Ein geerdeter, positiver Film unter dem Eindruck der Endlichkeit. Vorgängig zum Film ist das Buch «Zu Ende leben» entstanden, von Panian und Elena Ibello im Wörthersee Verlag.
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Das Deckelbad
rbr. Eine Frau wird «gedeckelt». Zwischen 1935 und 1981 wurden Tausende von Männern und Frauen in der Schweiz von Amts wegen ergriffen, entmündigt, entsorgt und behandelt – ohne Gerichtsurteile. Sie landeten in Gefängnissen, Erziehungs- und Psychiatrieanstalten, weil sie nicht gesellschaftlichen Normen entsprachen. So einen Fall aus den Fünfzigerjahren schildert der Ostschweizer Kuno Bront in seinem Spielfilm «Das Deckelbad». Die alleinerziehende Bergbäuerin Katharina Walser (Simona Specker) aus dem Österreichischen verdingt sich als Magd und Serviertochter in einer Bergbeiz, hoch über dem Rheintal. Sie ist alleinerziehend, fesch und selbstbewusst, bis der Wirt sie vergewaltigt und in Verruf bringt. Tres Tannbühler (Gian Rupf), «Wilderer» und Kandidat für den Wildhüterposten, liebt und heiratete sie. Sie leben auf Distanz zum Dorf – glücklich, bis Katharinas Bub beim Holzfällen tödlich verunglückt. Tres wird beim Wildern erwischt und ins Gefängnis gesteckt. Dem Gemeindeammann Lukas Gantenbein (Hans-Peter Ulli) ist die eigenständige Katharina ein Dorn im Auge. Er lässt sie enteignen, nimmt ihr die Kinder weg und weist sie in ein Waisenhaus ein. Dem Wahnsinn halb nah, wird sie aufgegriffen und auf Gantenbeins Betreiben in eine psychiatrische Anstalt gesteckt – für zehn Jahre. – Eine Frau entmündigt, gemassregelt und in das so genannte Deckelbad gesteckt. Das bedeutet: Sie muss stundenlang in einer Badewanne zubringen, eingesperrt bis zum Hals unter einem Deckel. Das düstere Bergdrama schildert, wie Menschen bis Anfang der Achtzigerjahre aus dem «Verkehr» gezogen wurden, weil sie einen schlechten Leumund hatten, verleumdet wurden oder anders waren. Bront (Regie, Buch) schuf einen wichtigen ausserordentlichen Heimatfilm – ungeschminkt, kompromisslos, aber auch stimmig und ergreifend.
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Viktoria – A Tale of Grace and Greed
rbr. Zürcher Hoffnung und Elend. Das Ziel des Begehrens heisst Schweiz. Sogenannt leichte Mädchen kehren heim nach Budapest, protzen und preisen die Schweiz als Konsumparadies an. Das verlockt auch die junge attraktive Roma Viktoria (Franciska Farkas), die sich nicht ganz ahnungslos auf das Schweizer Abenteuer einlässt Sie landet bei einem gnadenlosen Zuhälter auf dem Strassenstrich am Sihlquai. Zusammen mit ihrer Zimmergefährtin Blondie (Angéla Stefanovicz) erledigt sie lustlos und leidvoll ihren Job, beobachtet von der Alten, gemassregelt und ausgebeutet vom Zuhälter, Junior genannt (Zsolt Nagy). Als Viktoria an einem Abend «frei» nimmt, um mit dem schwarzen Callboy Lamin (Foscky Pueta) tanzen zu gehen, rastet der Zuhälter aus. Junior schlägt zu und nimmt den Mädchen ihre Ersparnisse. Viktoria und Blondie sind gefangen und sehen ihre einzige Chance in einem Befreiungsschlag. Der Churer Men Lareida lieferte mit dem Dokumentarfilm über «Jo Siffert – Live Fast, Die Young» (2005) sein Gesellenstück. Zusammen mit Anna Maros hat er seit fünf Jahren am Spielfilmdebüt «Viktoria» gearbeitet. Seine dokumentarischen Ambitionen sind unverkennbar, er ist nahe dran am Milieu, an den Menschen. Gier und Gnade – zwischen diesen Polen bewegen sich die Prostituierten und ihre Gefühle. Doch die Gnade erweist sich als gnadenlos. Lareida zeichnet ein realistisches, weitgehend düsteres Bild des Zürcher Strichmilieus, dabei streut er Lichter und Hoffnungsschimmer ein, ohne irgendetwas zu beschönigen.
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Big Eyes
rbr. Abgründiges Fälscherdrama um Kunst und Kommerz. Auch in diesem Fall wird eine Frau «gedeckelt.» Margaret Ulbrich, später Keane (Amy Adams), malte wie besessen Kindergesichter mit überdimensionierten, traurigen Augen. Sie hat Erfolg, doch erst als ihr Mann, der windigen Pseudokünstler Walter (Christoph Waltz), der es nur zum Genremaler gebracht hat, sie vermarktet, freilich unter seinem Namen. Sie muss im Hintergrund bleiben, wird zur «Gebärmaschine» von Bildern. Und die lässt er vervielfältigen – als Poster, als Karten, als T-Shirt. Ein kolossaler Verkaufserfolg in den Fünfziger- und Sechzigerjahren. Doch die scheue Margaret muss im Verborgenen bleiben, macht ihr der smarte geltungssüchtige Walter klar. Doch eines Tages hat sie genug und will nicht mehr mit der Künstlerlüge leben: Sie outet sich Mitte der Sechzigerjahre. – Tim Burton, eher bekannt für schräge düstere Filme wie geprägt «Edward mit den Scherenhänden» oder «Alice im Wunderland», griff eine wahre Begebenheit auf. Er inszenierte keine Dokufiction, sondern ein etwas fragiles, auch fragwürdiges Spiel um Wahrheit und Fälschung, Kunst und Kommerz, Geltungssucht und Genügsamkeit. Das etwas betuliche Drama wirkt geschönt trotz aller Tragik. Oscar-Preisträger Christopher Waltz bleibt eindimensional als Hochstapler und Kunstfälscher. Die Schöpferin der «Big Eyes», jene Margaret Keane, wird von Amy Adams verkörpert – mit grosser Empathie und Einfühlung. Insgesamt wird Burtons Bildwerk jedoch in eine schöne glamouröse Tunke getaucht. Ein bisschen mehr Bissigkeit und weniger märchenhafte Schönfärberei wären wünschenswert gewesen.
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