«Ein faszinierender Aussenseiter der Schweiz»
Von Rolf Breiner
Ungewollt wurde er in den Siebziger- und Achtzigerjahren zum Liebling linker Aktivisten. Ausbrecherkönig Walter Stürm, der selber mit Politik nichts am Hut hatte, wurde politisiert und als Opfer des Staates deklamiert. Im Spielfilm «Stürm – Bis wir tot sind oder frei» von Oliver Rihs spielt die engagierte Anwältin Barbara Hug (Marie Leuenberger) eine gewichtige Rolle im Leben Stürms (Joel Basman)
Für die einen ein faszinierender Aussenseiter, für die anderen eine zwielichtige Gestalt und notorischer Gesetzesbrecher: Walter Stürm war in der Schweiz der Siebziger- und Achtzigerjahre so bekannt wie Olympiasieger Bernhard Russi oder Fussballer Karl Odermatt. Und das als sogenannter Ausbrecherkönig. Seine Fluchten sind legendär.
Mit Stürms sechstem Ausbruch 1980 setzt der Spielfilm von Oliver Rihs ein. Und es sollte nicht seine letzte Flucht sein. Im Kampf gegen Schweizer Haftbedingungen fand er in der Anwältin Barbara «Babs» Hug eine resolute Verbündete. Sie war eine Idealistin, welche das Schweizer Rechtssystem reformieren wollte. Es ist die Zeit der Jugendunruhen, der Zürcher Krawalle ums AJZ. Leute der linken Bewegung werden auf Stürm aufmerksam, die Schweizerin Hug sucht Kontakt mit einer deutschen Aktionistin (Bibiana Beglau) der «roten Zelle». Der kriminelle Stürm wird zur Symbolfigur für Autonomie und Selbstbestimmung. In der Schweiz gingen junge Bewegte auf die Strasse und protestierten gegen dessen Isolationshaft. Stürm selbst versucht sich 1987 mit einem Hungerstreik gegen die Haftbedingungen zu wehren.
Rihs streut Dokumentarbilder aus jener Zeit in sein Film ein, den man auch als Selbstfindungs- und Beziehungsdrama beschreiben könnte. Denn letztlich rückt das Verhältnis zwischen «Knastbruder» Stürm und «Anwaltsschwester» Hug ins Zentrum. Sie ist fasziniert von diesem Aussenseiter, der stiehlt und überfällt, um seiner Autoleidenschaft zu frönen. Sie scheint verliebt. Er ist und bleibt gleichwohl ein Verbrecher, der seine Freiheit sucht, aber gegen Ende eine absonderliche Zuneigung zum Gefängnis entwickelt. Nach seiner Freilassung 1998 suchte er – im Film – geradezu eine erneute Verhaftung. Stürm beging 1999 im Frauenfelder Gefängnis Selbstmord.
Parallel zu seinem tragischen Ende findet Barbara ihre (physische) Freiheit und schwimmt – offensichtlich geheilt – ins Meer hinaus. Die Entwicklung ihrer Krankheit (sie ist gehbehindert) bleibt im Film diffus. Es geht um eine Nierentransplantation. Verkörpert wird sie von Marie Leuenberger («Die göttliche Ordnung») – phänomenal. Sie wird, positiv gesehen, zur Hauptfigur. Joel Basman («Monte Verità») wirkt etwas zu sympathisch und agil als Räuber mit Charme, aber ohne Horizont. Die Maskeraden tun ihr Übriges, Stürm als wandelndes Unikum wahrzunehmen. Sein Gerede von Freiheit und Unabhängigkeit wirkt leer und geradezu sarkastisch. Ein hoffnungsloser Fall. Die Beziehung zur Strafverteidigerin bleibt vage – eine Liebe auf Zeit? So nimmt man an einer Zeitreise teil – durchaus respektabel rekonstruiert – die trotz exzellenter Schauspieler (Anatole Taubman als Staatanwalt, Jella Haase als Punk der Linken Szene) – phasenweise seltsam flüchtig und fahrig bleibt. Allein Hug/Leuenberger (die echte Strafverteidigerin starb 2005) sorgt für spannende und hoffnungsvolle Momente.
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Joel Basman als Ausbrecherkönig Stürm: «Die Schweiz ist immer dabei»
Interview: Rolf Breiner
Er spielte einen Fiesling im apokalyptischen Schweizer SF-Thriller «Tides», verkörperte den Schriftsteller Hermann Hesse im Spielfilm «Monte Verità» und agiert nun als «Ausbrecherkönig» Walter Stürm im Sozialdrama «Bis wir tot sind oder frei», inszeniert von Oliver Rihs. In deutschen Kinos (und hoffentlich auch bald in der Schweiz) ist das Biopic «Lieber Thomas» über den Schriftsteller und DDR-Rebellen Thomas Brasch angelaufen. Joel Basman spielt dessen Bruder Klaus. Wir trafen den Zürcher Schauspieler in der Helferei, in unmittelbarer Nachbarschaft des Zürcher Grossmünster.
Herr Basman, Sie bespielen ein breites Spektrum an fiktiven und historischen Figuren und Persönlichkeiten. Wie bereiten Sie sich vor, beispielsweise auf die Rolle als Stürm, dem Dieb, der am liebsten aus dem Gefängnis stürmt und zur Ikone der linken Bewegung wurde?
Joel Basman: Ich schau mir an, wie hat er geredet, wie ist er gelaufen, bei Stürm ist dabei auf seinen Ostschweizer Dialekt zu achten. Bei der deutschen Synchronfassung fiel das natürlich weg. Aber insgesamt bleibt doch viel der Phantasie überlassen.
Haben Sie sich in diese Zeit mit dem AJZ, den Zürcher Jugendunruhen befasst und eingelesen?
Auf jeden Fall. Die Schweiz hatte seinerzeit Angst vor dem Kommunismus, hat aber nicht gleich wie die Stasi funktioniert.
Wie bringt man diese Figuren auf die Leinwand: Stürm und seine Anwältin gab es ja wirklich, sie waren real?
Das ist vor allem für das Drehbuch und die Regie anspruchsvoll. Man sagt sich: Ich habe hier eine geile Geschichte und will ihr gerecht werden, Dann schreibst du ein gutes Buch, nimmst den Schauspieler und gibst den Stress an ihn weiter. Und wir wollen dem Buch gerecht werden. Dann kommt der Schnitt, der dem gedrehten Stoff auch irgendwie gerecht werden will.
Wieviel Zeit hatten Sie für die Dreharbeiten?
Die Dreharbeiten dauerten zweieinhalb Monate, vom April bis Mitte Juni 2019, hinzukommen die Vorbereitungen. Der «Stürm» lag länger auf meinem Tisch, aber die Finanzierung stand noch nicht.
Sie sind bekannt, haben einen gewissen Status erlangt, einen gewissen Freiraum. Wie wählen Sie Ihre Rollen aus? Was ist wichtig und entscheidend?
Es ist immer das Buch. Da ist es mir egal, ob ich einen Guten oder einen Bösen spiele, ob die Rolle gross oder klein ist. Ein gutes Beispiel ist die Verfilmung der «Schachnovelle». Ich liebe die Produzenten und habe ihnen gesagt, ihr könnt mich holen, egal für welche Rolle.
Wie wurden Sie zu Hermann Hesse in «Monte Verità»?
Regisseur Stefan Jäger kam auf mich zu.
Zurück zum «Stürm». Waren Sie etwas fasziniert von diesem negativen Helden?
Fasziniert war ich auf jeden Fall. Ein Ausbrecher, der Ostern einen Zettel hinlässt mit «Ich bin Eier suchen», hat natürlich etwas. Da war ich schon kleiner Fan. Aber es gibt natürlich genug zweifelhafte Momente, wo ich sagen muss: Du hast aber auch viel Scheisse gebaut.
Wie würden Sie ihn denn umschreiben?
Das ist ein eigennütziger, egomanischer, soziopathisch angehauchter Mensch.
Die Lichtgestalt in diesem Film ist eigentlich Stürms Anwältin. Marie Leuenberger spielt sie. Sind Sie gut mit der Kollegin ausgekommen?
Sehr. Ich würde sie als meine Anwältin nehmen.
Wie sehen Ihre nächsten beruflichen Pläne aus?
Zurzeit bin ich beim Dreh für den Film «Last Song For Stella». Er handelt von einer Berliner Swing Band in den Vierzigerjahren. Herauskommen werden zwei Sechsteiler: «KadeWe» über das berühmte Kaufhaus bei der ARD an Weihnachten, und «Der Überfall» mit Katja Reimann beim ZDF im Januar.
Sie waren also sehr beschäftigt und hatten kaum Zeit für Mode und Design
Richtig, in diesem Jahr kam alles zusammen. Von Januar bis Mitte August habe ich durchgearbeitet.
Ihre Eltern betreiben in Zürich das Geschäft Modeatelier Basman. Dort sind Sie auch aktiv, wenn die Zeit es erlaubt. Wie wichtig ist Ihnen die Schweiz?
Die Schweiz ist immer dabei, wenn ich dabei bin. Ich bin als Schweizer da draussen, werde auch so wahrgenommen. Die Schweiz ist mein ständiger Begleiter.
Sie sind viel unterwegs. Sind Sie denn grundsätzlich ein Bewegungsmensch?
Auf jeden Fall. Aber nicht beim Fussball, eher solo.
Wie stark ist Ihre Selbstreflexion. Wie sehen Sie sich?
Einerseits will ich mir einiges nicht eingestehen, andererseits bin ich aber auch brutal ehrlich. Teils destruktiv, teils konstruktiv eben.
Leben Sie denn in zwei Ich-Welten?
Mindestens in zwei.
Gibt’s eine Wunschrolle?
Ja, die eines Bond-Bösewichts.
Joachim Król: «Mit Humor durch die Zeit gehen»
Interview Rolf Breiner
So verschmitzt wie er, schauspielert keiner im deutschsprachigen Raum. Joachim Król (64) war nicht nur der «Bewegte Mann», Commissario Brunetti oder Mackie Messer. Er konnte auch anders im schrägen Roadmovie von Detlev Buck («Wir können auch anders», 1993) – als Kipp, dem Analphabet vom Lande. Oder als smarter (aber sympathischer und verliebter) Killer in Mennan Yapos Thriller «Lautlos» (2004). Ein Heimspiel für ihn war die Verfilmung des Bestsellers von Hape Kerkeling «Der Junge muss an die frische Luft» (2018). Er war der Grossvater des Knirps aus dem Kohlenpott, den er an die frische Luft schickte.
An den 55. Internationalen Hofer Filmtagen im Oktober 2021wurde ihm eine Hommage gewidmet, bestückt mit neun Filmen. Es war eine Wonne, Joachim Król als unglücklichen Nachbarschafts-Liebhaber in «Die tödliche Maria» (1993) oder Unterweltkönig Peachum wiederzusehen («Mackie Messer – Brechts Dreigroschenfilm», 2018).
Seine Leidenschaft für Fussball konnte der Mime aus Herne, Westfalen, im wunderbaren Dokumentarfilm «You’ll Never Walk Alone» (2017) von André Schäfer ausleben. Ein Film über die weltberühmte Fussballhymne, die in Liverpool, aber auch in anderen Stadien wie in Dortmund zuhause ist, die aber als Musicalsong (aus «Carousel») in den USA seinen Anfang nahm. Joachim Król, selbst Dortmund-Fan, figurierte als Reporter und Gesprächspartner in einem Film, der jedes Fussballherz erfreut. Aber in der Schweiz wohl nicht aufgeführt wurde.
Wir trafen Joachim Król in Hof zu einem Gespräch.
Herr Król, dies ist wohl die erste Retrospektive, die Ihnen gewidmet wurde. Lauter Rückblicke. Wie fühlt sich das an?
Joachim Król: Ich habe gleich gesagt, als mir diese Hommage mitgeteilt wurde, dass es eine Ehrung in der Mitte meines Schaffens sei. Wenn ich mir mal einen der älteren Filme anschaue, sind es meistens schöne Momente.
Auch wenn man sich so jung sieht…
Klar. Wenn man die drei Filme von 1993/94 anschaut wie «Wir können auch anders», «Die tödliche Maria» und «Der bewegte Mann», sieht man, wie einige Schauspieler ein Versprechen später eingelöst haben– für Til Schweiger, Katja Riemann, Rufus Beck, Armin Rohde oder Katja Studt. Das ist ja auch ein schöner Aspekt unserer Arbeit, dass wir kleine Zeitreisen machen können.
Weniger bekannt ist bei uns, dass Sie auch ein Buch herausgebracht haben: «Was wollen die denn hier?» Wann ist das denn erschienen, und was hat es damit für eine Bewandtnis?
Das war vor zwei Jahren. Es war eine Idee von Lucas Vogelsang, sich nochmals auf den Weg zu machen, den wir im Film «Wir können auch anders» zurückgelegt haben – eben auch, nach dreissig Jahren Mauerfall zu schauen, was da passiert ist. Vom Ruhrgebiet ausgehend, wo ich herkomme, bis nach Oldenhagen an der Ostseeküste.
Ein Reisebericht?
Ja, Lucas ist ja Journalist. Ich habe die Gespräche geführt, und er hat die Aufzeichnungen gemacht. Die kurzweilige Lektüre macht Spass. Man macht sich ja keine Vorstellung, dass es schon dreissig Jahre seit der Öffnung her ist. Viele junge Leute kennen die Mauer und die DDR ja gar nicht mehr.
Gehen Sie 2022 wieder auf Lesetournee?
Ja, toi toi toi. Ich warte noch auf die Termine und Orte. Wir, die Musiker und ich, sind wieder verabredet mit derselben Geschichte, nämlich Albert Camus‘ «Der erste Mensch». Es werden wohl um die zehn Termine im Januar sein.
Haben Sie schon in der Schweiz gearbeitet?
Ja, da war ein Gastspiel im Pfauen-Theater, Zürich, und zwar mit «Kirschgarten». Vor 34 Jahren habe ich auch mal in Basel in der Alten Komödie gastiert, die leider abgerissen wurde. Und mit dem Schweizer Urs Egger, der leider viel zu früh verstorben ist, habe ich drei Filme gemacht, so letztlich 2019 den Film «Tod eines Keilers».
Wie sind Sie durch Pandemiezeit gekommen?
Zuerst Lockdown. Ich habe das als ganz organische Auszeit nehmen können. Das war mein Glück. Es zog sich schon über ein halbes Jahr hin, dass ich gar nichts gemacht habe. Aber damit ich hatte ich kein Problem.
Sind Sie denn in diesem Jahr noch vor der Kamera aktiv?
Ja, ich drehe einen Kinofilm mit Mark Rothemund («Sophie Scholl – Die letzten Tage», 2005). Eine Vater-Sohn-Geschichte mit dem Titel «Wir Wochenendrebellen». Der Vater geht mit Sohn, der Asperger hat, auf Reise und schaut sich Fussballspiele quer durch Deutschland an –entstanden nach wahren Begebenheiten. Den Vater spielt Florian David Fitz und ich bin der Grossvater.
Noch mehr Filme im Köcher?
Abgedreht ist ein ZDF-Film in Rumänien mit dem Arbeitstitel «Der Bär», eine Crime-Story mit politischem Hintergrund um die Holzmafia und die Siebenbürgener Sachsen.
Gibt es andere Ambitionen zum Bespiel hinter der Kamera?
Regieambitionen für Filme habe ich nicht. Da ist mir das ganze Umfeld zu komplex, zu technisch. Mir geht es sehr gut mit dem, was ich tue.
In vielen Rollen haben Sie etwas Verschmitztes und Lebensbejahendes…
Wenn’s gefragt oder gebraucht wird – das muss dann passen. Aber ich glaube nicht, dass man je den privaten Mensch Król gesehen hat – in welcher Rolle auch immer. Natürlich bringt man immer einen Teil seiner Persönlichkeit mit. Die äussere Erscheinung erzeugt schon Resonanz beim Betrachter.
Sie sind schon humorvoll angelegt oder…?
Ich hoffe. Wir sollten alle mit Humor durch diese Zeit gehen, sonst hält man’s ja nicht aus.
«Fotostiftung Schweiz: Fotografie im 19. Jahrhundert»
Die Fotostiftung Schweiz feiert dieses Jahr ihr 50-jähriges Bestehen: 1971 setzte eine Gruppe von fotobegeisterten Persönlichkeiten ihre Vision in die Tat um – ohne Ressourcen, aber mit Courage und Engagement. So entstand die erste Fotoinstitution der Schweiz, mit dem Ziel, Fotografie als bedeutendes Kulturgut unserer Zeit zu erhalten und zu vermitteln.
I.I. Heute umfasst die Sammlung der Fotostiftung rund 100 Archive, Teilarchive oder repräsentative Werkgruppen von Fotografinnen und Fotografen. Ihre Ausstellungen und Publikationen stellen wichtige Werke der Schweizer Fotografie vor und regen zur Auseinandersetzung mit einem Medium an, das sowohl Dokument als auch künstlerisches Ausdrucksmittel ist»
Schon einige Monate vor der offiziellen Gründung wurde im Zürcher Centre Le Corbusier eine Ausstellung mit Werken von Werner Bischof, Robert Capa und weiteren Vertretern einer «engagierten Fotografie» organisiert. The Concerned Photographer – produziert vom International Fund for Concerned Photography in New York – stiess auf grosses Interesse, was die Gründer der Stiftung ermutigte, mit einem damals kühnen Vorschlag ans Kunsthaus Zürich heranzutreten: Erstmals sollten die Geschichte der Fotografie in der Schweiz dargestellt, Fragen der aktuellen Fotografie diskutiert und herausragende Figuren präsentiert werden.
Photographie in der Schweiz 1840 bis heute
Tatsächlich konnte die neue Stiftung im Herbst 1974 im Kunsthaus Zürich eine Ausstellung eröffnen, die als Meilenstein der institutionellen Auseinandersetzung mit Fotografie in der Schweiz gilt. Unter dem Titel Photographie in der Schweiz von 1840 bis heute wurden im Bührlesaal 1200 Fotografien aus allen Sparten – Reportage, Mode, Werbung, künstlerische Fotografie usw. – von 180 Fotoschaffenden gezeigt, begleitet von einer gleichnamigen Publikation, die einen Überblick über die Entwicklung des Mediums und seine vielen Facetten bot. Diese erste umfassende Foto-Ausstellung in einem Schweizer Kunstmuseum wurde in 10 Wochen von 70‘000 Personen gesehen und trug wesentlich zur öffentlichen Anerkennung der Fotografie bei.
Der erfolgreiche Auftritt war auch ein Schlüssel für das weitere Gedeihen der Fotostiftung: Die Ausstellung wanderte in einer verkleinerten Version um die ganze Welt und machte die Stiftung bekannt; sie legte das Fundament für eine nationale Fotosammlung; und sie war der entscheidende Schritt, dem eine von der Stiftung bespielte «Photo-Galerie» und viele weitere Ausstellungen im Kunsthaus folgten. Von 1976 bis 2001 durfte die Fotostiftung auch Büros und Archivräume im Kunsthaus nutzen.
2003 übersiedelte sie nach Winterthur, um gemeinsam mit dem Fotomuseum ein neues Fotozentrum einzurichten. Zu den frühen Ausstellungen in der «Photo- Galerie» zählt eine Hommage an Ernst A. Heiniger (1979) – dieser Vorgeschichte ist es auch zu verdanken, dass die Fotostiftung Schweiz heute das Archiv von Heiniger betreuen darf.
Nach der Natur: Schweizer Fotografie im 19. Jahrhundert
Nachdem die Fotografie 1839 in Paris als französische Erfindung proklamiert worden war, eroberte das neue Medium in kürzester Zeit ganz Europa. Der Wettlauf um technische Verbesserungen ging zwar von den kulturellen Zentren aus, doch bald wurden die schweren Kameras auch in die Dörfer und aufs Land, in abgelegene Täler und auf die Berge getragen, wo die Fotografen mit ihren Aufnahmen «nach der Natur» Aufsehen erregten. Wie war es möglich, dass sich die Fotografie so rasant verbreitete?
Wer waren die Schweizer Pioniere, die sich immer neue Anwendungen ausdachten, vom repräsentativen Porträt bis zum Fahndungsbild, von der Natur- und Landschaftsstudie bis zur Darstellung von Industrie und Technik, von der wissenschaftlichen Vergrösserung bis zur Dokumentation von Ereignissen?
Die Überblicksschau Nach der Natur beleuchtet erstmalig die ersten 50 Jahre des neuen Mediums in der Schweiz und zeigt ein bisher wenig erforschtes Kapitel der Schweizer Fotografie. Die Ausstellung führt exquisite Werke aus zahlreichen öffentlichen und privaten Sammlungen zusammen, um die folgenreiche Erfindung in ihrer künstlerischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bedeutung zu erfassen.
Es erscheint eine umfassende Publikation in einer deutschen und französischen Fassung im Steidl Verlag, Göttingen.
Eine Koproduktion von Fotostiftung Schweiz, Museo d’arte della Svizzera italiana, Lugano und Photo Elysée, Lausanne.
Ausstellung 23.10.2021 – 30.01.2022
Filmtipps
Madres Paralelas
rbr. Mütter, Kinder und ein (Franco)-General. Die Altmeister des Arthouse-Films tauchen in die Vergangenheit, baden in ihren Lieblingsthemen. Woody Allen reflektiert sein Alter ego und schickt einen Filmdozenten auf die Festivalreise nach San Sebastian – in «Rifkin’s Festival» (demnächst im Kino). Der spanische Meister Pedro Almodóvar versammelt eine Schar seiner Filmheroen wie Penélope Cruz, Julietta Serrano oder Rossy de Palma um sich und inszeniert ein Beziehungsreigen um das Thema Mutterschaft. Der Konflikt ist durchsichtig für den gewieften Zuschauer, aber…: Zwei Frauen werden ungewollt schwanger, entbinden und lernen sich im Spital schätzen, doch dann trennen sich ihre Wege. Die reife Janis (Penélope Cruz) um die 40 ist überglücklich. Doch ihr Partner Arturo (Israel Elejalde) glaubt nicht recht, dass er der Vater ihres Babys ist.
Die 17-jährige Ana (Milena Smit) ist skeptisch, weiss nicht, wer der Vater ist. Von ihrer Mutter Teresa (Aitana Sánchez-Gijón) ist keine Hilfe zu erwarten, denn die hat nur ihre Karriere im Kopf. Zu allem Unglück verliert Ana ihr Kind. Man ahnt es: Zwei Babys, zwei Mütter und eine fatale Verwechslung.
Nun begnügt sich Almodóvar nicht mit einer Beziehungsgeschichte über «Paralelle Mütter», sondern baut ein Kapitel jüngerer spanischer Geschichte ein. Arturo, forensischer Anthropologe, soll eine Ausgrabung vorantreiben: In Janis‘ Dorf wurden unter dem Franco-Regime Menschen ermordet und verscharrt. Die überlebenden Frauen und Verwandten wollen Aufdeckung, Genugtuung und eine anständige Beerdigung der faschistischen Opfer. Almodóvar fügt diese verschiedenen Ebenen überzeugend und spannend zusammen, eine private und eine politische. Gewohnt setzt er starke Frauen prägnant ins Bild – von Penelope Cruz, überragend, über Aitana Sánchez-Gijón als selbstherrliche, egozentrische Mimin bis zur Entdeckung Milena Smit als verlorene Ana, die am Ende Erfüllung findet. Ein reifes packendes Beziehungsdrama in mehrfacher Hinsicht.
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Taming the Garden – Grosser Baum auf Reise
rbr. Entwurzeln. Man stelle sich vor: Ein Baum schwimmt auf dem Meer. Eine Fata Morgana, ein filmischer Trick? Nein, Realität! Die Regisseurin Salomé Jashi hat diesen unwirklichen Transport dokumentiert. «Taming the Garden» – so der Originaltitel ihres Films bedeutet soviel wie Bändigung oder Zähmung des Gartens. «Der Titel steht für Verschiedenes», erklärte die Filmerin, «einerseits für den Garten wie Garten-Eden, andererseits für den Garten als eigene Welt. Taming bedeutet Zähmung der Wildnis, eines wildes Pferdes oder von Löwen im Zirkus. Dahinter steckt der Wunsch, sich etwas oder jemanden zu eigen zu machen.»
Die 40jährigen Filmerin aus Tiflis realisierte ihren dritten Langdokumentarfilm. Wie kam sie auf die Idee, über diese Aktion einen Film zu drehen? «Der erste Baumtransport war ein grosses Ereignis – in ganz Georgien», erzählte sie in einem Gespräch. «Das war für mich einerseits ein faszinierender Anblick, andererseits aber auch erschütternd und aufwühlend. Es verbarg sich mehr dahinter, dachte ich. Die Bilder der Bäume, die durch die Landschaft ziehen sind vielschichtig, einerseits durchaus poetisch, andererseits stehen sie auch für Macht und das Verlangen nach immer mehr.»
Von 2016 bis 2019 hat sie diese Verpflanzungen verfolgt. In ihrem Film geht es denn auch um mehr als einen Baum. Insgesamt hat der Initiator dieser «Umsiedlung» rund 200 Bäume verpflanzt – vom Festland in seinen privaten Sekvetili Park an der Schwarzmeerküste, der 60 Hektaren umfasst und öffentlich zugänglich sei, bestätigte Salomé Jashi. Begründer und Investor ist der frühere Premierminister Georgiens, Bidsina Iwanischwili. Der Milliardär zieht heute noch die Fäden in Georgien, hält sich aber im Hintergrund. Die Filmerin hat ihn persönlich nicht kennengelernt, er war auch nicht am Film beteiligt.
Es handelt sich bei den Bäumen nicht um Sprösslinge, sondern um ausgewachsene Baumriesen, bis zu 15 Stockwerke hoch, für deren Transport Strassen angelegt und andere Bäume gefällt werden mussten. Es gibt eine Sequenz, in dem Anwohner den Transport wie bei einer Prozession begleiten, die einen andächtig, andere erbost. «Tatsächlich ist das Dorf dem Transport gefolgt. Das Ereignis war einfach überwältigend. Es wirkt wie eine Prozession, aber auch wie ein Begräbniszug. Ein Zeichen von Beileidsbekundung. Die einen lachten und gratulierten sich, andere waren tief erschüttert», berichtet Jashi.
Überhaupt, die Bilder von den schwimmenden Bäumen bleiben haften. Sie faszinieren, wirken surreal und sind doch wirklich. Und sie werfen Fragen auf. Sind sie Symbole für eine gesellschaftliche Situation, Parabeln? «Ja sicher, aber nicht nur für Georgien, sondern auch anderswo. Sie stehen für den Umgang mit Werten, aber auch für Macht und Geld.», unterstreicht Salomé Jashi. «Diese Eindrücke beschreiben das Verhältnis von Mensch zu Natur und zeigen eine Haltung, in der Macht und Geld zur Hauptsache werden.»
Jashis Film ist kommentarlos. «Die Bilder sprechen für sich», meint sie. «Das Publikum soll den Film selber interpretieren.» Der Film «Grosser Baum auf Reise – Taming the Garden», eine schweizerisch-deutsche-georgische Koproduktion, hat eine weiter Reise hinter sich, vom Sundance Filmfestival über Berlin nach Locarno letzten Sommer. Nun startet er in der Schweiz und Deutschland und wurde am 8. Dezember auch in Tiflis aufgeführt. Die Publikumsreaktion? «Die meisten Zuschauer sehen, dass ein Baum nicht nur ein Baum ist, sondern auch eine Metapher für Entwurzelung, für die Macht von Geld und die Wirkung menschlichen Handelns auf die Natur. Der Baum steht in unserem Film auch für Menschen, die ihre Verbindung zur Umgebung verlieren, physisch wie mental. Es geht im wahrsten Sinne des Wortes um Entwurzelung.» Salomé Jashi lebt und arbeitet in Tiflis.
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West Side Story
rbr. Liebestragödie à la Spielberg. Das Liebesdrama «Romeo und Julia» inspirierte Komponist Leonard Bernstein, Autor Arthur Laurents und Songtexter Stephen Sondheim 1957 zum Musical «West Side Story». Vier Jahre später feierte die Verfilmung von Robert Wise Premiere. Und nun erweckte Steven Spielberg die alte Romeo-und-Julia-Tragödie zu neuem Kinoleben.
Eine Trümmerlandschaft wie nach dem Zweiten Weltkrieg. Doch der Schauplatz ist nicht Berlin oder Dresden, sondern New York in den Fünfzigerjahren westlich vom Broadway. Die Häuser sind zerfallen, teilweise nur noch Ruinen. Die Abbruchbirne schwingt. Das Quartier wird platt gemacht. Hier stromern zwei Jugendbanden, suchen die Konfrontation, die weissen US-Jets und die Sharks, puertorikanische Einwanderer. Man trifft sich auf maroden Plätzen und Strassen, lässt Aggressionen raus. Beim Jugendball in einer Turnhalle kommt es zur Konfrontation. Jet-Anführer Riff (Mike Faist) stachelt seine Anhänger zu einer Schlacht gegen Bernardo (David Alvarez) und dessen Sharks an.
Der frühere Jet-Leader Tony (Ansel Elgort) will sich aus bitterer Erfahrung aus dem Scharmützel raushalten. Just an diesem Tanzevent verliebt er sich in die attraktive Maria (Rachel Zegler), die Schwester Bernardos. Der Ball artet aus. Die Liebenden nehmen Reissaus und schwören sich auf einem Balkon («Romeo und Julia» lassen grüssen) ewige Liebe: «Tonight». Marias Freundin Anita (Ariana DeBose) soll Tony eine Botschaft überbringen, Valentina (Rita Moreno), Shop-Besitzerin und Tonys Arbeitgeberin, kann knapp eine Vergewaltigung Anitas verhindern. Aber das Verhängnis hat längst seinen Lauf genommen. Die angefeindete Liebe kann nur in einem Desaster enden, wie Shakespeare-Kenner wissen.
Steven Spielberg zieht alle Register seiner Erfahrung von knapp vierzig Filmen. Smart ist die Idee, die Auseinandersetzung in einem maroden Abbruchquartier zu lokalisieren. Sympathisch der Clou, die 90jährige Rita Morena, die im Wise-Film Anita spielt, als verständige Betreiberin des Doc’s Store auftreten und singen zu lassen («Somewhere»). Die Tanzszenen haben Feuer, sind virtuos wie auch die Gesangsleistungen der Hauptdarsteller. Ansel Elgort als Tony ist freilich eine Fehlbesetzung. Der coole, scheinbar abgeklärte Jet-Leader wirkt eher wie ein White Boy aus der Buchhaltung – ein blasser geglätteter Typ. Das kann man von der zwanzigjährigen Rachel Zegler nicht sagen: Sie überzeugt voll und ganz als Maria. Fraglos hat Steven Spielberg mit seiner Neuversion gezeigt, dass dieses Musical zeitlos ist – in Musik und Thematik. Rassistische und soziale Konflikte wie in «West Side Story» sind aktuell wie eh und je. Eine fulminante, hinreissende Tragödie in Nostalgieverpackung.
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The House of Gucci
rbr. Liebe, Gier und Rache. Sie ist die tragische oder genauer gesagt die mörderische Drahtzieherin in der Gucci-Familiensaga. Patrizia Reggiani, eine heissblütige Proletarierin mit Ambitionen, wickelt Maurizio Gucci (Adam Driver) um den Finger und heiratet in die Modedynastie Gucci ein. Das Paar scheint ein Herz und Seele, bis sich Patrizia in die Geschäfte des berühmten Modehauses einmischt und mitmischt. Der alte Patron Rodolfo Gucci (Jeremy Irons) ist tot. Danach spielen verschiedene Charaktere und Interessen mit. Man engagiert und bekämpft sich: Der Bruder des Gründers, Aldo Gucci (Al Pacino), emigrierte und agiert in New York und setzt auf mehr Quantität als auf Qualität. Sein Sohn Paolo (Jared Leto) träumt von einer Designer-Karriere und wird zum familiären Spielball. Firmenmanager Domenico De Sole (Jack Huston) ist nicht nur Anwalt und Beisitzer, sondern auch heimlicher Mitstreiter. Maurizio Gucci, Erbe und Chef des Gucci-Imperiums, stellt seine Ehefrau Patrizia kalt und legt sich eine Geliebte zu. Darauf sinnt die abgehalfterte Ehefrau auf Rache und engagiert 1995 zwei Killer, unterstützt von der Wahrsagerin Pina (Salmy Hayek).
Die tragische Saga um das (ehemalige) Mode-Imperium wartete nur darauf, als Filmstoff zu dienen. Ridley Scott, der aktuell mit seinem Mittelalterepos «The Last Duel» im Kino vertreten ist und demnächst eine Neuverfilmung von «Tod auf dem Nil» präsentieren wird, stellt in seinem Gucci-Drama die umstrittene Aufsteigerin Patrizia Reggiani ins Zentrum – ihre Ambitionen, Liebe, Verletzung und Rache. Pop-Ikone Lady Gaga («A Star Is Born») macht eine gute Figur – impulsiv, leidenschaftlich, explosiv. Respektabel, doch von einer Sophia Loren (die von Mădălina Diana Ghenea im Film verkörpert wird) ist sie (noch) weit entfernt.
Das etwas zu lange Drama zwischen Liebesclinch, Firmentragödie und Thriller hat grosse Kinoqualität. Weshalb der Brite Ridley Scott ein Sprachkauderwelsch veranstaltete, ist unverständlich. Lady Gaga müht sich mit italienischem Akzent ab, Al Pacino und Adam Driver wechseln zwischen Englisch und Italienisch. Ein Manko, das den Kinogenuss dieser gehobenen Unterhaltung für einige Ohren mindert.
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Petite maman
rbr. Magische Begegnungen. Eine Zeitreise der anderen, poesievollen Art: Die achtjährige Nelly hilft ihren Eltern beim Entrümpeln im Hause ihrer Grossmutter, die gestorben ist. Nach der Abreise ihrer Mutter, der eine Operation bevorsteht, ist sie auf sich allein gestellt und macht im Wald die Bekanntschaft eines gleichaltrigen Mädchens, das sich wie Nellys Mutter Marion nennt. Gemeinsam wollen sie eine Waldhütte bauen. Nelly wird bewusst, dass sie mit der Vergangenheit konfrontiert wird – mit ihrer Mutter vor 25 Jahren. Die beiden Mädchen verstehen sich, fühlen sich tief verbunden, und wissen, dass ihnen nur wenig Zeit bleibt, denn Marion steht ein Spitaltermin bevor.
Der französischen Regisseurin Céline Sciamma gelang bereits mit «Portrait de la jeune fille en feu» (2019), einem Liebesdrama um zwei Frauen im 18. Jahrhundert, ein sensibles, filmisches Kleinod. In «Petite maman» inszenierte sie eine Zeitreise – ohne augenscheinlich an der Zeit zu drehen, in Kostümen zu schwelgen. Insofern ist ihr wundervoller, poetisch-magischer Film zeitlos. Die Geschichte von Mutter und Tochter verschmilzt, bedingt und ergänzt sich. Obwohl ein Kind im Zentrum steht – die Freundinnen Nelly und Marion werden von den Zwillingen Joséphine und Gabrielle Sanz ideal verkörpert – ist dieses zauberhafte Beziehungsspiel kein konventioneller Jugend- oder Familienfilm. Es ist eine intelligente märchenhafte Ode, eine phantasievolle Meditation über Freundschaft, Verbundenheit und das Leben. Die Filmerin versteht ihren Film als «intime Zeitreise, bei der es weder um Zukunft noch um Vergangenheit geht, sondern um eine gemeinsame Zeit.» Dem ist nichts hinzuzufügen.
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Servants
rbr. Falsche und standhafte Diener. Bisweilen ist es ein weiter Weg von Festivals in die Kinos. Der osteuropäische Spielfilm aus dem Jahr 2020 fand an den Filmfestspielen Berlin, in Gent, Prag oder Stockholm Aufmerksamkeit. Der slowakische Regisseur Ivan Ostrochovsky greift ein schwieriges zeitloses Thema auf: der Druck der Staatsmacht auf Institutionen wie die Kirche. Die Tschechoslowakei wurde in den Achtzigerjahren von einem totalitären Regime geknechtet. Staatshandlanger übten massiv Druck auf kirchliche Einrichtungen aus, so auch auf ein kirchliches Institut in Bratislava. Die kommunistischen Machtinhaber wollen ihre «Schäflein» auf den «rechten Weg» dirigieren, heisst zwingen. Dazu dienten um 1980 einmal der restriktive Verein «Pacem in terris», andererseits Sicherheitsdienstler und opportunistische Priester. Es gibt Widerstand und Opfer: Der standhafte Priester Coufar (Vladimir Obšil) wird zu Tode gefoltert.
Die Freunde Juraj (Samuel Skyva) und Michal (Samuel Polakovič) sind Seminaristen einer theologischen Fakultät in Bratislava. Sie geraten unter Druck, werden in die Enge getrieben. Der eine nimmt aktiv an einer Untergrundorganisation teil, der andere wird gezwungen, der Staatssicherheit als Informant zu dienen. Opfer und Täter sind nahe beieinander. Geistliche und Staatsorgane gingen dazumal ein teuflisches Bündnis ein. Die Organisation der «Friedenspriester» (Pace moin Terris) existierte tatsächlich bis 1989.
Das aufrüttelnde schwarzweisse Filmdrama «Servants», das wie ein Dokumentarfilm wirkt, legt ein bitteres Zeugnis über falsche «Diener» und Kollaborateure, Mitläufer und Mittäter, über physische und geistliche Unterdrückung ab. Ein unspektakuläres, aber ergreifendes Lehrstück über eine historische Zeit und Begebenheit hinaus.
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True Mothers
rbr. Zwei Mütter und ein Sohn. Die Problematik ist bekannt: Ein Ehepaar wünscht sich sehnlichst ein Kind, kann aber kein eigenes haben. Eine allzu junge Mutter muss sich von ihrem Baby trennen und zur Adoption freigeben. Diese Konstellation, die naturgegeben schwelenden Konfliktstoff in sich birgt, hat die Japanerin Naomi Kawase in ihrem Beziehungsdrama «True Mothers» aufgegriffen, basierend auf dem Roman von Mizuki Zsujimura aus dem Jahr 2015.
Dabei schälen sich drei Kapitel oder Entwicklungsstufen heraus. Die Adoption: Das Ehepaar Satoko (Hiromi Nagasaku) und Kiyokazu (Arata Iura) konnte endlich seinen Kinderwunsch erfüllen, ein Baby adoptieren und grossziehen. Der Hintergrund: Die 14jährige Hiraki (Aju Makita) hat sich in einen Mitschüler verliebt, ist unachtsam und wird schwanger. Es ist zu spät für eine Abtreibung und so drängt die Familie Hikari dazu, ihr Kind im Heim «Baby Baton» auszutragen. Die Gründerin und Leiterin Shizue Asami (Miyoko Asada) kümmert sich liebevoll um sie und andere junge Mütter. Hikari lässt sich davon überzeugen, den Säugling Asato zur Adoption freizugeben. Die Konfrontation: Asato (Reo Sato) wächst heran, und eines Tages meldet sich seine leibliche Mutter, sucht Kontakt mit ihren Sohn, will ihn zurückhaben. Die verständigen Zieheltern fürchten um die Folgen für sie und den Sohn und werden mit einer Erpressung konfrontiert.
Regisseurin Naomi Kawase («Kirschblüten und rote Bohnen») ist bekannt für ihre sensiblen, einfühlsamen zwischenmenschlichen Dramen. Gern greift sie auf Rückblenden zurück und bebildert ihre Geschichte mit poetischen Impressionen (Kirschblüten etc.). Alltägliche Konflikte lösen sich nicht einfach in Minne auf, sondern werden von den Betroffenen begriffen, ertragen, getragen und gelebt.
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Encanto
rbr. Bedrohte Idylle und Magie. Wer wäre wohl besser geeignet, Magie (auf der Leinwand) zu retten als die Disney-Fantasy-Factory? Und das geschieht bereits vor Weihnachten: Das 60. abendfüllende Animationswerk «Encanto» ist ein Multikultimärchen um Magie und menschliche Werte. An einem verborgenen Dschungelflecken in Kolumbien namens Encanto (Spanisch für Zauber oder Charme) leben Dorfbewohner um die Familie Madrigal glücklich und zufrieden. Kein Wunder, sind alle mit Wunderkräften ausgestattet: Lolita buckelt mühelos ein halbes Dutzend Esel auf den Schultern oder hebt eine Brücke aus den Angeln. Schönheit Isabelle ist perfekt, nur die junge Mirabel hat Kummer, weil sie eben nicht einer besonderen magischen Gabe gesegnet ist.
Das ist der springende Punkt in dieser rasanten Actionanimation mit temperamentvollen Tanz- und Gesangseinlagen (zumeist Englisch und Spanisch): Den Zauber und die heile Welt darf man nie selbstverständlich nehmen. Die Encanto-Idylle bekommt Risse und ist in Gefahr. Eine Bewährungsprobe für die kecke Mirabel. Denn: jeder hat eine Gabe, es kommt nicht auf Magie und Zauberei an, sondern auf Charakter, Courage und Verantwortung (auch für andere). Die temporeiche Animation (Regie: Byron Howard und Jared Bush) legt ein rasantes Tempo vor und dürfte jüngste Kinobesucher bisweilen überfordern. Andererseits unterhält «Encanto» fabelhaft und könnte auch als Parabel für Krisenzeiten gelesen werden. Es kommt auf Menschen und Solidarität an.
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Copilot
rbr. Verhängnisvolle Liebe. Der deutsche Filmtitel ist verheissungsvoll und verfänglich zugleich: «Die Welt wird eine andere sein» (Copilot). Ein Liebesdrama nach wahren Ereignissen. Die türkischstämmige Medizinstudentin Asli (Canan Kir) verliebt sich in den Libanesen Saeed (Roger Azar), der nach dem Willen seines Vaters ungern Zahnmedizin studiert. Die Eltern sind gegen die Liaison Christin-Araber. Heimlich heiraten die beiden, Asli vertraut ihm blind und beugt sich den «Ansprüchen» (Forderungen) ihres Ehemanns. Sie gehorcht und schweigt, als er für Monate verschwindet. Sie reist zu Saeeds Familie nach Beirut, die auch nichts Genaueres über sein Verschwinden weiss, bis eine Nachricht aus dem Jemen kommt. Tatsächlich steht Saeed eines Tages wieder vor der Tür in Hamburg und versucht die Gründe seiner viermonatigen Abwesenheit zu verschleiern. Sein grösster Wunsch scheint es, eine Pilotenausbildung zu absolvieren, seine Frau nennt er zärtlich «mein Copilot». Eine Ausbildungschance bekommt er in Florida. Asli reist ihm nach und wird nach ihrer Heimkehr mit der Nachricht konfrontiert, dass er erneut verschwunden ist. Man schreibt den 11. September 2001.
Aus der Perspektive der jungen Frau beschreibt Anne Zahra Berrached die fatale Geschichte einer Liebe in fünf Kapiteln (Jahren) – vom Aufkeimen ihrer Liebe und der Veränderung ihres Geliebten (er verweigert plötzlich Sex mit ihr, obwohl sie bereits miteinandergeschlafen haben), über die heimliche Heirat, Saeeds Radikalisierung und Verschwinden bis zu Aslis Suche, ihr Wiedersehen und die letzte fatale Offenbarung. Die Regisseurin, Tochter eines Algeriers in der DDR aufgewachsen, beschreibt den Konflikt zweier Menschen zwischen den Kulturen, die Tragödie einer blinden Liebe, die Folgen von Verrat und Täuschung aus radikalen Gründen. Der Film lehnt sich ans Leben des libanesischen Terroristen Ziad Jarrahs an. Doch sein Tun und Lassen steht in «Copilot» nicht im Fokus.
Das Drama dreht sich um die intelligente Medizinerin Asli, deren Verhalten und Verdrängen für viele kaum nachvollziehbar sind. Sie begreift zu spät, wie hörig sie einem Mann wurde, der sie liebte und gleichzeitig betrog. Die Welt wurde nicht nur für sie eine andere, sondern auch für West wie Ost (Asien). Ein packendes brisantes Zeit- und Liebesdrama, gesellschaftspolitisch relevant und kompromisslos.
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The Power of the Dog
rbr. Abgehalftert. Montana in den Zwanzigerjahren. Ein Bruderpaar, das unterschiedlicher nicht sein könnte. Der hartgesottene, grobschlächtige Cowboy Phil (Benedict Cumberbatch) betreibt zusammen mit George (Jesse Plemons) eine grosse Ranch. Sein Bruder «Fatso» (Fettsack) George, so der despektierliche Rufname, den Phil ihm gegeben hat, achtet auf gute Kleidung und Manieren. Er fährt lieber Auto, als den sattelfesten Cowboy zu mimen. Der Ranch-Segen hängt völlig schief, als George die Witwe Rose (Kirsten Dunst) heiratet und sie zusammen ihrem Sohn Peter (Kodi Smit-McPhee) auf der Ranch einquartiert. Die Fronten verhärten sich – hier der gnadenlose Zyniker Phil, dort der sanfte Familienmensch George. Ausgerechnet der scheinbar schwächelnde Teenager Peter weckt aus welchem Grund auch immer das Interesse des zynischen Cowboys, dessen Zeit längst abgelaufen ist. Er nimmt des jungen Burschen an, wohl auch weil er in die Rolle seines Vorbildes Bronco Henry schlüpft, der ihn einst zum «Mann gemacht hat».
Die Neuseeländerin Jane Campion («The Piano», «Holy Smoke») inszenierte einen Western, der wenig mit den Revolver- und Männlichkeitsattitüden des Wilden Westen zu tun hat. Ihr raues und sanftes Beziehungsdrama dreht sich um Verständnis und Verlangen, Leiden und Leidenschaft. Der harte Kerl wird weich, und der «Weichling» stärker. Campion nutzt Klisches und Kulisse des Westerngenres, um Männlichkeitswahn zu hinterfragen und zu entlarven, aber auch um Geschlechterrollen zu hinterfragen. Insofern ist «The Power of the Dog» (der Titel bezieht sich auf einen Berg und eine Story) seelenverwandt mit dem Spätwestern «First Cow» von Kelly Reichardt. Beide sehr sehenswert.
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Grosse Freiheit
I.I. Der Paragraf 175 des deutschen Strafgesetzbuchs wurde erst 1994 abgeschafft. Die grosse Freiheit wird ersehnt, ist hier aber nicht gegeben. Denn homosexuelle Liebe wurde lange Jahre gemäss Paragraf 175 in der BRD verfolgt. Regisseur Sebastian Meise nimmt sich der Geschichte an, die zwei Männer in Strafanstalten, inhaftiert wegen ihrer sexuellen Orientierung, erleben. Hans (Franz Rogowski) wird nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erneut ins Gefängnis aufgrund seiner Homosexualität verbannt. Er trifft dort auf den wegen Mordes verurteilten Viktor (Georg Friedrich), der Homosexualität ablehnt und Franz schikaniert. Im Gefängnishof hat er das Sagen und beobachtet, wie Franz unter die Räder gerät. Langsam entwickelt sich trotz aller Gegensätzlichkeit eine zarte Freundschaft, da Hans immer wieder entlassen und neu eingewiesen wird und auf Viktor trifft, der eine lebenslage Haftstrafe abzusitzen hat. Gefilmt wurde das Drama in einem realen Gefängnis in Sachsen-Anhalt, das früher als Stasi-Gefängnis diente. Es erinnert an brutale Verhältnisse wie in Sing-Sing. Das Duo Rogowski und Friedrich verkörpern kongenial authentisch und virtuos die Auswirkungen der Kälte, Isolation und Härte der gesetzlichen Massnahmen, die unmenschlich für lange Zeit Realität waren. Menschenwürde ist hier in den Gefängnismauern ein Fremdwort und auch unter den Insassen herrscht eine brutale Hierarchie. Homosexuelle Männer wurden in der Nazi-Zeit ins KZ gesteckt und als Verbrecher und Staatsfeinde behandelt. Der verdienstvolle Film von Sebastian Meise setzt diese erschreckende Zeit subtil und ohne falsches Gefühlspathos in Szene. Der Film wurde auch im Fokus Wettbewerb des diesjährigen ZurichFilmFestival gezeigt.
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Tove
rbr. Die Mutter der Mumins. Ihr grösster Wunsch war es, Malerin zu werden. Sie hatte ihrem Vater Modell gestanden, der sich als Bildhauer in Finnland einen Namen gemacht hatte. Doch ausgerechnet der spricht ihr jegliches künstlerische Talent ab. Tove Jansson arbeitet als Zeichnerin und Illustratorin, war aber verzweifelt, weil sie als Malerin abgelehnt wurde. Erst Politiker Atos Wirtanen, verheiratet, mit dem sie eine intime Beziehung hatte, konnte sie überzeugen, Geschichten ihrer drolligen Trollfiguren zu publizieren. So wurden die «Mumins» in den Vierzigerjahren zum Leben erweckt. Ein schwedisches Blatt, dessen Herausgeber Wirtanen war, druckte 1947 ihre ersten Comics – ohne sichtlichen Erfolg. Sie wurden nach einem halben Jahr abgestellt. Dann griff die britische Zeitung «The Evening News» zu. Die Mumins erschienen dort von 1954 bis 1959 – wöchentlich.
«Das Leben ist ein wunderbares Abenteuer» frohlockt Tove Jansson, die sich als Künstlerin verstand, aber als Comicautorin und Zeichnerin erfolgreich war. Zaida Bergroth hat ihr einen Spielfilm gewidmet, in dem sie weniger die Erfolgsstory der Mumins erzählt, sondern die Befindlichkeiten, Gefühlswelt und inneren Konflikte der Künstlerin beschrieben wird. Tove Jansson, innig und wunderbar verständig von Alma Pöysti dargestellt, war ein verletzter Mensch, der mit Comics erfolgreich war, sich aber zur Malerin berufen fühlte. Tove hatte ein inniges Verhältnis zum Liebhaber (zeitweise) und Protegé Wirtanen (Shanti Roney), liebte aber die Theaterregisseurin Vivica Bandler (Krista Kosonen), die sie zu einem Mumin-Theaterstück animierte. Doch Tove fühlte sich von der flatterhaften Lesbe Vivica ausgenutzt und verraten. Ihr «Heim», ihre Liebe fand sie letztlich in der Grafikerin Tuulikki (Joanna Haartti).
Alle Menschen, die ihr nahestanden, tauchen auch in den «Mumin»-Comics auf – als Tofsla und Vifsla (Tove und Vivica), als Schnupferich (Wirtanen) oder Tooticki (Tuulikki). In Finnland war «Tove» ein grosser Kinoerfolg. Ein Biopic, das vor Lebensfreude (mit allen Schattierungen) sprüht. Der Film mag etwas altmodisch anmuten, hat aber Anmut und Sinnlichkeit, zeichnet das Bild einer Frau in einer konservativen Zeit, die ihre Identität, künstlerische wie sexuelle Erfüllung sucht.
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Harald Naegeli – Der Sprayer von Zürich
rbr. Kunst oder kriminelles Vergehen? Es sei ein Schelm, der sich Böses dabei denkt, sagt eine Spruchweisheit. Nein, Schelme sind sie nicht, die Diener der Obrigkeit, die Staatsanwaltschaft und ausführende Organe. Aber Böses haben sie sich wohl dabei gedacht, als sie Harald Naegeli, den Sprayer von Zürich, verfolgten und kriminalisierten. Künstler, Rebell, Quertreiber, Provokateur, Humorist oder Gesetzesbrecher? Oder alles zusammen und obendrein noch Schelm?
In ihrem Film ist Nathalie David Naegelis Spurern gefolgt, dokumentiert Sprayzeichnungen an Wänden, Mauern und andere künstlerische Arbeiten. Sie hat ihn an Wirkungsstätten begleitet, an «Tatorten» wie dem Züricher Grossmünster gefilmt und befragt. Wir lernen einen sanften Weisen, einen charismatischen Protestler kennen, der Ende der Siebzigerjahre als «Sprayer von Zürich» weltbekannt wurde. Die Zürcher Justizbehörden warfen ihm illegale und böswillige Sachbeschädigung vor, der anonyme Sprayer wurde bei einer nächtlichen Aktion gefasst, 1981 zu neun Monaten Haft verurteilt. Geflohen, gefasst, in den Knast gesteckt. Ein Schelm, der sich Böses dabei denkt. Es musste ja Recht und Ordnung in der Zwingli-Stadt herrschen. Viele Persönlichkeiten von Willy Brandt bis Joseph Beys haben sich für ihn eingesetzt – vergebens.
Seine Zeichnungen wurden entfernt, verteufelt und gefeiert. Heute wird er als Graffiti-Künstler anerkannt, auch in seiner Heimat Zürich, wenngleich die Wiedergutmachung und Anerkennung nur halbherzig scheint. Der «Totentanz», einer seiner bekannten Werke, wurde entfernt, er durfte es quasi im Grossmünster erneuern, doch das Unternehmen scheiterte aus Platzgründen.
Die Französin Nathalie David schuf ein wohlwollendes Porträt des unbequemen Künstlers, ging auch der Frage nach Kunst und Vergehen, Legitimation und Verurteilung nach – warum hat eigentlich kein filmschaffender Schweizer diese Themen aufgegriffen? Naegeli, bald 82 Jahre alt, Schweizer Pionier der Street Art, hat sein Werk von den Graffiti bis Zeichnungen und Keramikarbeiten abgeschlossen. Im Zusammenhang mit dem «Totentanz» nach dem Tod befragt, antwortete er: «Ich habe keine Angst vor dem Tod, aber vor dem Sterben.»
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Cry Macho
rbr. Ritt zum Mannsein. Rüstig wie ein altes Reitpferd: Westernhaudegen Clint Eastwood setzt sich in seinem jüngsten Film, dem 40. (!) als Regisseur, wieder in den Sattel. Der Mann ist 91 und fit wie ein alter Sattel, wenn er mal drin sitzt. Das Gesicht ist verknittert wie die Sierra Nevada, der Gang eher schleppend, die Haltung verhalten, heisst abwartend, defensiv. Clint Eastwood ist sich (und seinem Alter) treu geblieben. Er beschönigt nichts, trickst nicht und glorifiziert nichts und niemanden – schon gar nicht sich selbst im Roadmovie «Cry Macho».
Mike Milo (Eastwood), ein in die Jahre gekommener Cowboy und ehemaliger Rodeoreiter, wird vom Boss Howard (Countrybarde Dwight Yoakam himself, auch schon 65 Jahre rüstig) ausgemustert. Mürrisch akzeptiert der Oldie den Rausschmiss, will aber gegenüber dem Macho (Grossrancher) nicht unhöflich werden und schweigt. Wenige Monate später sucht Howard seinen alten Kämpen heim und will einen Gefallen einlösen. Mike soll seinen Sohn Rafael «Rafo» heimholen, der bei seiner Mutter in Mexiko lebt. Und so tuckert Mike mit seinem klapprigen Wagen gen Mexiko, taucht bei Rafos zwielichtiger Mutter (Ana Rey) auf und wird abgewimmelt. Doch der lässt nicht locker und lockt den Zögling, der von Mutter und Vater nicht viel hält, mit ihm nach Texas zu fahren.
Der Alte und sein «Macho»-Teenager kommen sich nicht nur am Lagerfeuer näher. Dabei geht der kantige Leitwolf Mike gegen falsche Gefühle und Sympathien an. Er will den Jungen vor allem davon überzeugen, dass Machotum out ist. «Cry Macho» mag betulich und altmodisch wirklich, dennoch hat der Spätwestern ohne Westernattitüden seine Qualitäten. Er ist nachsichtig, milde, auch selbstironisch (Eastwood) und geradezu familiär.
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Piedra sola
rbr. Zwischen Himmel und Erde. Mensch und Natur – hier ist das Verhältnis noch lebendig, alltäglich, wenn auch nicht unproblematisch. Schauplatz ist der öde Flecken El Cóndor in den Anden auf rund 4000 Metern. «Piedra Sola» ist einsamer Felsen, der für einen Lama-Hirten, für seine Familie und die Bergbewohner eine tiefere Bedeutung hat. Ein karger harter Alltag. Wir erleben, wie der Mann den mühsamen Weg in den nächsten Marktflecken bewältigt, um dort Lammfell und Fleisch zu verkaufen, wie man sich im Dorf berät, einem Puma Herr zu werden, der Tiere reisst, oder wie ein Lamm geschlachtet wird, um es zu opfern.
Der geradezu archaische Film des Argentiniers Alejandro Telémaco ist wie diese raue Andenlandschaft – spröde, rissig, elementar. Laiendarsteller verkörpern diese Erdenbewohner von El Cóndor, denen der Himmel so nah ist wie die Erde, Regisseur Telémaco versucht dem Mythos seiner Heimat, seiner Bewohner beizukommen. «Piedra sola» sei ein Film, sagt er, der von den universellen Archetypen und der Kosmovision der Anden inspiriert sei, wo die Vergangenheit als zukünftig und die Zukunft als vergangen betrachtet würde. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verschmelzen. So überlappen sich im Film, der absolut authentisch wirkt, Wirkliches und Vorstellbares, Wahres und Visionäres. Am Ende tragen Männer eine Puppengestalt mit Hut zum Piedra Sola, um ihn zu verbrennen. Ein unauslöschliches Bild.
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Supernova
rbr. Abschied. Eine Reise fast ans Ende der Welt, genauer ans Ende des Lebens. Sam (Colin Firth) und Tusker (Stanley Tucci) sind ein Paar – und in die Jahre gekommen. Sam hat seinen Job, seine Berufung als Pianist aufgegeben, um seinem Freund und Lebenspartner nahe zu sein. Denn Tusker ist krank, nicht auf den ersten Blick und auch nicht auf den zweiten. Er, der Schriftsteller, leidet an Demenz, die schleichend daherkommt. Einmal ist Tusker auf ihrem Trip durch den englischen Lake District verloren gegangen, in einem Dorf findet ihn Sam wie erstarrt. Sein Gefährte hat die Orientierung verloren. Ihre Reise zu Freunden und Verwandten, auch zur Einsamkeit ist eine in die Endlichkeit. Harry Macqueen (Buch und Regie) begleitet quasi zwei Freunde, wobei der eine nicht loslassen will, gegen den Verlust kämpft, während der andere ein festes Ziel vor Augen hat. Der Kranke muss dem Gesunden Trost spenden und Heil sprechen. Die Angst vor der unmittelbaren Zukunft ist bei Sam grösser als bei Tusker.
Sehr einfühlsam, fast poetisch hat Macqueen die Abschiedsreise inszeniert, kein Krankheitsdrama, sondern ein Liebesfilm, getragen von den beiden Hauptdarstellern Firth und Tucci, die auch privat befreundet sind. Da kommt keine falsche Sentimentalität auf, keine gespielte Gefühlsduselei, sondern nur schlicht Ergriffenheit. Ironie und britischer Humor gehören auch dazu, wenn Sam Tuskers Abschiedsrede vorträgt: «Es wird eine Zeit kommen, da werde ich sogar vergessen, wer da eigentlich vergisst, und dann bin ich völlig sorgenlos.» Selten wurde ein derart ernstes, fast trostloses Thema so innig und liebevoll, fast beiläufig und tröstlich nahe gebracht, ja gelebt.
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to be continued