«Francesca Melandri: Alle, ausser mir»
Von Ingrid Isermann
Kennen Sie Ihren Vater? Wissen Sie, wer er wirklich ist? Was für eine Frage, bis ein junger Afrikaner bei der vierzigjährigen römischen Lehrerin Ilaria Profeti auftaucht, der den Namen ihres Vaters Attilio Profeti trägt und behauptet, ihr Neffe zu sein. Francesca Melandri enthüllt neben Elena Ferrantes neapolitanischer Saga, die just für eine TV-Serie verfilmt wird, die bröckelnde Grandezza der italienischen Gesellschaft. Brillant!
Eine Familiengeschichte über drei Generationen und die verdrängte italienische Kolonialgeschichte des 20. Jahrhunderts in Äthiopien und Eritrea, eine Entdeckungsreise mitten ins Herz der Schlüsselfragen unserer Zeit: Was es bedeutet, zufällig im richtigen Land oder Kontinent geboren zu sein und wie Zugehörigkeit und Nähe sich daraus ergeben.
Noch bis vor kurzem landeten die übervollen Schlauchboote aus Arika vor Lampedusa. Die Rettungsschiffe, die Flüchtlinge aufnahmen, dürfen nicht mehr in italienischen Häfen anlegen. Italien fühlt sich von der EU im Stich gelassen. Die ungelöste Flüchtlingsfrage wird zur Kernbelastung der europäischen Union. Der Deal mit der Türkei steht auf tönernen Füssen, Griechenland kommt nicht aus der Eurokrise und ist mit den ankommenden Flüchtlingen ebenfalls überfordert.
Den Hintergrund des packenden Romans der römischen Autorin Francesca Melandri bildet die italienische Geschichte des Kolonialismus, die bis in die Gegenwart reicht. Die Autorin verwebt die dramatischen Geschehnisse im Leben des jungen Äthiopiers, der Addis Abeba verlassen musste, weil ihm die Ermordung durch die Regierung von Meles Zenawi drohte, und nach einer dreijährigen Odyssee durch Afrika über Lybien in Rom bei seinen Verwandten auftaucht. Die Zeiten Berlusconis der politischen Lügen und der Justizbehinderung fallen mit dem schleichenden Aufstieg der Rechtspopulisten zusammen.
Der junge Afrikaner kommt in die Familie des 95jährigen Patriarchen Attilio Profeti, längst dement, der seine erste Frau mit seiner späteren Frau betrog und beide mit einer Äthiopierin. Ein Antifaschist, wie er sich selbst bezeichnete, war er mitnichten, sondern im Auftrag Mussolinis in Afrika tätig. Korrupte Schmiergelder und Netzwerke bescherten ihm ein üppiges Einkommen und sorgenfreies Leben. Als die Aktion Mani pulite (saubere Hände) griff, wurde Profeti als zu kleiner Fisch nicht erfasst. Zu gerne hätte er einen Gefängnisaufenthalt als Krönung seiner beruflichen Karriere erlebt.
Seine Tochter Ilaria, die im ehemals noblen Römer Viertel Esquilin lebt, glaubt an die gesellschaftsverändernde Kraft linker Ideen, wird aber die Geliebte eines Abgeordneten aus der Partei Silvio Berlusconis. Derartige Widersprüche, die Ironie des Schicksals und der Fatalismus, der das historische politische Leben Italiens prägt und lähmt, ist hier auf unnachahmliche Weise in Szene gesetzt. Das macht die grosse Authentizität des Romans aus, der ein schillerndes und zutreffend analytisches Bild der italienischen Gesellschaft abgibt.
Die Verlotterung des Stadtteils Esquilin, der auf Roms höchstem Hügel liegt, erinnert literarisch nicht von ungefähr an Ferrantes Neapel-Saga und den Niedergang einer in sich selbst gespaltenen Gesellschaft. Forza Italia oder Lega wie Cinque Stelle zeugen von der Ohnmacht, die Würde des Landes zu bewahren. Alle, ausser mir ist das Motto von Attlio Profeti, alle ausser ihm möge es hinwegraffen. Profeti stirbt fast hundertjährig, ohne klares Bewusstsein für die Verantwortung seiner Kolonialzeit. Man wünschte sich ebenfalls eine Verfilmung dieses anrührenden Epos in hektischen Flüchtlingszeiten!
Leseprobe:
2008
Es ist das Jahr 2008, und der Junge ist etwas mehr als einem Jahr raus. Seit drei Jahren fliesst wieder Blut in den Strassen von Addis Abeba, wieder verschwinden Menschen, wieder sind Mütter von Soldaten geschlagen worden, als sie nach dem Verbleib ihrer Söhne fragten. Die Alten wie ayat Abeba haben sich auf die Stirn geschlagen und gestöhnt: «Nein, nicht noch einmal!».
Jetzt steckt der Junge eingeschlossen in diesem Kasten aus Nichts. Hier wartet man, hier lebt man nicht, selbst überleben wäre zu viel gesagt. Dem Glück am nächsten kommst du mit sechs Bodenfliesen, drei sind Verzweiflung. So vergehen Wochen und Monate. So vergehen Jahre.
2010
Es heisst, bei der Abschiebepolizeit hält es niemand länger als ein paar Monate aus, es sei denn, er ist ledig oder geschieden. (…) Heute aber hat Barozzino etwas Erstaunliches erlebt wie noch nie – ein Festgehaltener aus Äthopien mit zwei Ablehnungbescheiden, der fast zwei Jahre untergetaucht war, und nun auf seinen eigenen Beinen das CIE verlässt anstatt an Bord eines Streifenwagens in Richtung Flughafen. Der zudem aber auch noch ein hellgelbes Blatt Papier in der Hand hält: die verlängerte Aufenthaltsgenehmigung für ein Jahr auf seinen Namen, die per Dringlichkeitsschreiben aus dem Ministerium gekommen ist. Der Assistente Capo beobachtet, wie der Junge schlaksig durch das Metalltor geht, als wäre er ein Filmstar, der das Grand Hotel verlässt, der den gepflasterten Platz überquert und in seine Limousine steigt. Die zwar ein Panda ist, aber die gleiche Wirkung erzielt. Erwartet von einer dünnen Frau und einem jüngeren Mann, der ihr ähnlich sieht, aber zu alt ist, um ihr Sohn zu sein. Sie umarmen sich, er steigt ins Auto, und sie fahren los.
In Italien ist nichts unmöglich für denjenigen, der Einfluss hat. Piero benötigte nicht mehr als ein paar Telefonate. Schon war der Junge aus dem CIE raus, war kein Illegaler mehr, von heute an kann er sogar eine Arbeit annehmen. Es war alles ganz einfach. Danach hat Piero aber einen weiteren Freund im Aussenministerium angerufen, der bis vor wenigen Monaten in Addis Abeba tätig war. (…) Ilaria sieht in den Rückspiegel und forscht im Gesicht des Jungen. Er starrt vor sich hin, noch ganz betäubt. Sein Blick ist der eines alten Mannes
geworden, denkt sie.
Francesca Melandri, 1964 in Rom geboren, hat sich in Italien als Autorin von Drehbüchern wichtiger Kino- und Fernsehfilme einen Namen gemacht. Mit ihrem ersten Roman »Eva schläft« wurde sie einem breiten deutschsprachigen Lesepublikum bekannt. Ihr zweiter Roman »Über Meereshöhe« wurde von der italienischen Kritik als Meisterwerk gefeiert. Ihr drittes Buch »Alle, ausser mir« wurde für den Premio Strega nominiert und steht seit Wochen auf der Bestsellerliste.
Francesca Melandri
Alle, ausser mir
Aus dem Italienischen von Esther Hansen
Wagenbach Verlag, Berlin 2018
608 Seiten. Gebunden mit Schutzumschlag
26,– € / E-Book 23,99 €
ISBN 978-3-8031-3296-3