FRONTPAGE

«Francesco Chiesa: Hören in finsterer Nacht»

Von Ingrid Isermann

 

Als Francesco Chiesa 1971 seinen letzten Lyrikband «Sonetti di San Silvestro» veröffentlichte, war er hundert Jahre alt und im Tessin fast schon zu einer Legende geworden. Die jüngere Generation hatte sich längst von ihm abgewandt und ging eigene Wege. Aber deren literarisches Terrain hatte Chiesa zu Beginn des 20. Jahrhunderts bereitet, durch sein unermüdliches Schaffen sowie die Hinwendung zu Italien, zur «Italianità».

Seinen ersten Gedichtband hatte Francesco Chiesa 1897 veröffentlicht. Mit «Calliope», einem dreiteiligen Poem aus 220 Sonetten, gelang ihm 1907 in Italien der Durchbruch. Die «Sonetti di San Silvestro» stellen den Höhepunkt seines lyrischen Schaffens dar. In ihrer Zeitlosigkeit, ihrer «Immobilität» haben diese Gedichte nichts von ihrem ursprünglichen Reiz eingebüsst. In ihnen spielt Chiesa liebevoll mit der Form des Sonetts, die es ihm dank überraschenden Lösungen zu erneuern gelingt. Christoph Ferber hat aus dem heute weitgehend vergessenen und nicht mehr greifbaren lyrischen Werk Chiesas dreissig Sonette ausgewählt und übersetzt. Längst ist es fällig, dass der in Vergessenheit geratene Autor wiederentdeckt wird.

 

 

Es dämmert. Und die Nacht steigt blass und rauchig,

als schwelte es von Feuern noch, aus Gründen,

die niemand kennt, und röchelnd ist ihr Atem,

als käme er aus todgeweihten Lippen.

 

 

Es sind des Lebens Lippen, welche sterben;

der Himmel schaut sie an mit leisem Lächeln,

doch sieh: sein Blick verschleiert sich, und mählich

sind’s Tränen, die aus seinem Antlitz quellen.

 

 

Und aus der Erde, aus der Luft, den Wolken,

dringt nun das Dunkel, festigt sich, wird bleiern

und mischt zu einer einzigen die Farben.

 

 

Die Stimmen werden nun ein Dröhnen, Rauschen,

ein Labyrinth die Schritte, und sie steigen

durch Schächte tief hinab in finstre Gräber.

 

 

 

 

Nicht Freude, nicht Schmerz, heute, nur Friede,

als hätte es Krieg überhaupt nie gegeben,

nicht Wind und nicht Rauschen gepeitschter

Wälder; auf jeder Glut ein Schleier von Asche.

 

 

Himmel und Erde ein einziges Schweigen. Stumm ist

die Erde, und sie weiss nict, ob grün oder rot

ihre Wasser, die Ufer, die Berge, die Schlünde;

und was immer missfällt, ist, als ob es gefiele.

 

 

Gut und Böse, alles und nichts in einer dunklen

Wahrheit vermengt, weder voll erscheint’s mir

noch leer, wo mit dem Finger ich taste.

 

 

Nicht Trauer ist es, nicht Angst, dieses ein wenig

mehr Schweigen, dieses weniger

Atmen und Wünschen – und Schliessen der Augen.

 

 

 

 

Der Himmel hüllt sich heut in armes Grau;

doch wenn sein Kleid er nur ein wenig lüftet,

verdeckt er wieder gleich das bisschen Blau,

so dass das Aug nur trübe Ödnis sichtet.

 

 

Verschwommen wie ein Wunder ohne Blut,

fast seelenlos: der Himmel – wie die Erde,

und schliesse ich die Augen, ist mir so

als ob rings alles sterbe und nicht sterbe.

 

 

Und ohne Lücke – öffne ich das Aug –

seh ich den Himmel, und wie unter Wasser,

als hätte Gott sie ausgelöscht, die Erde,

 

 

und eine Angst erfüllt mich – und ich hauch,

ich rufe und ich schreie wie im Fieber:

Wo seid ihr denn geblieben? Menschen! Brüder! …

 

 

 

Francesco Chiesa

Hören in finsterer Nacht / Udire a notte buia

Sonette

Limmat Verlag, Zürich 2016

Übersetzt und mit einem Nachwort von Christoph Ferber

88 Seiten, geb. mit Schutzumschlag

CHF 29.50.  € 29.50.

ISBN 978-3-85791-785-1

 

Francesco Chiesa (1871–1973) galt lange Zeit als Patriarch und Übervater der Tessiner Literatur. Er war während Jahrzehnten der einzige Tessiner, der auch in Italien anerkannt war und gelesen wurde. Berühmt wurde er vor allem durch seinen Roman «Tempo di marzo». Chiesa war auch Rektor des Liceo Cantonale in Lugano sowie Präsident der kantonalen Denkmalkommission und der Kommission für Natur- und Heimatschutz. Verfasser zahlreicher Beiträge zu Literatur, Kunst und Gesellschaft sowie ein unermüdlicher Verfechter der «Italianità». Christoph Ferber, geboren 1954, Studium der Slawistik, Romanistik und Kunstgeschichte in Lausanne, Zürich und Venedig. Tätigkeit als freier Übersetzer fast ausschliesslich lyrischer Texte aus dem Italienischen, dem Russischen und dem Französischen. Wohnt auf Sizilien. 2014 Auszeichnung mit dem Spezialpreis Übersetzung des Schweizerischen Bundesamts für Kultur.
Christoph Ferber.

Geboren 1954. Aufgewachsen in Sachseln, Obwalden. Studium der Slawistik, Romanistik und Kunstgeschichte in Lausanne, Zürich und Venedig. Dort Promotion mit einer Arbeit zum russischen Symbolismus. Tätigkeit als freier Übersetzer. Wohnt auf Sizilien. 2014 Auszeichnung mit dem Spezialpreis Übersetzung des Schweizerischen Bundesamts für Kultur.

Übersetzungen, fast ausschliesslich lyrischer Texte, aus dem Italienischen (Gaspara Stampa, Vincenzo Cardarelli, Eugenio Montale, Salvatore Quasimodo, Attilio Lolini, Giorgio Orelli, Giovanni Orelli, Pietro de Marchi, Remo Fasani, Aurelio Buletti, Francesco Chiesa, aus dem Russischen (Michail Lermontow, Fjodor Tjutschew, Sinaida Hippius, Fjodor Sologub, Wjatscheslaw Iwanow, David Samojlow), dem Französischen (Stéphane Mallarmé, Werner Renfer), dem Polnischen (Juliusz Slowacki) und Bulgarischen (Dimtscho Debeljanow). Mitarbeit bei der Neuen Zürcher Zeitung sowie an Lyrikanthologien der Verlage Suhrkamp, Schwabe, S. Fischer.

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