«Françoise Sagan: Ein bisschen Sonne im kalten Wasser»
Von Françoise Sagan
Inconnue, elle était ma forme préférée
Celle qui m’enlevait le souci d’être un homme
Et je la vois et je la perds et je subis
Ma douleur, comme un peu de soleil dans l’eau froide.
Als Unbekannte war sie die mir liebste Gestalt,
Sie, die mich der Sorge enthob, ein Mann zu sein, Ich sehe sie, ich verliere sie und ertrage
Mein Leid: wie ein bisschen Sonne im kalten Wasser.
Paul ÉLUARD
Gilles, 35 Jahre alt, Redakteur bei einer linken Pariser Tageszeitung, erfolgreich und gutaussehend, der in Paris ein ausschweifendes Junggesellenleben führt, leidet an Lebensüberdruss und Depressionen. Verzweifelt flieht er in die Provinz zu seiner Schwester. Dort lernt er auf einer Abendgesellschaft die attraktive, gutsituierte Nathalie Sylvener kennen, die sich augenblicklich in ihn verliebt und Gilles mit ihrer Unbefangenheit und Offenheit entwaffnet.
Wie die Heldinnen Flauberts, Stendhals und Balzacs wirft in Sagans Roman Nathalie ihre bürgerlichen Fesseln ab, um dem geliebten Mann zu folgen. In Paris bewegt sich die kluge und kultivierte Frau jedoch wie ein Fremdkörper zwischen den leichtfertigen, oberflächlichen Pariser Freunden und wird dem wankelmütigen Gilles, der sich ihrer Liebe nicht gewachsen fühlt, bald zur Last …
ERSTER TEIL – PARIS
KAPITEL 1
DAS PASSIERTE IHM jetzt praktisch jeden Morgen. Nur wenn er sich abends heillos betrunken hatte und das Aufstehen, Duschen und Anziehen kaum als anstrengend empfand, weil er alles gleichsam unbewusst und mechanisch tat, fühlte er sich dank der Mattigkeit seiner selbst enthoben oder, besser gesagt, von sich selbst befreit. Aber zahlreicher und anstrengender waren die Tage, wenn er im Morgengrauen mit klopfendem Herzen aufschreckte, weil er – anders ließ es sich wohl nicht mehr bezeichnen – Angst vor den Anforderungen des Lebens hatte und wusste, dass ihn gleich die immer wiederkehrenden Gedanken an seine Beklemmungen, seine Misserfolge und Qualen heimsuchen würden, die jeder neue Tag mit sich brachte. Auch jetzt verspürte er wieder dieses Herzklopfen. Er versuchte, nochmals abzutauchen in den Schlaf, versuchte sich selbst zu entfliehen. Vergeblich. Er setzte sich auf, griff nach der Wasserflasche neben seinem Bett, ließ sich einen Schluck durch die Kehle rinnen, doch dieser kam ihm genauso abgeschmackt, fade und schal vor wie sein Leben in den letzten drei Monaten. Was ist bloß mit mir los? Was nur?, fragte er sich, teils verzweifelt, teils empört. Hochmütig, wie er war, fühlte er sich allein durch den Gedanken schon gedemütigt wie durch eine Ohrfeige, dass es eine Depression sein könnte, wie er sie schon häufig bei anderen Leuten, die er durchaus schätzte, beobachtet hatte. Seit seiner Jugend hatte er sich nie mehr viel mit sich selbst befasst, das Leben, das er führte, hatte ihm genügt. Dass er sich nun plötzlich mit diesem kränklichen, blassen und gereizten Wesen auseinandersetzen sollte, erfüllte ihn mit abergläubischem Entsetzen. Das sollte er sein, dieser Mann von fünfunddreißig Jahren, der noch vor Tagesanbruch ohne erkennbaren Grund zitternd auf der Bettkante hockte? War das das Ergebnis von dreißig Jahren, in denen er alles unbekümmert auf die leichte Schulter genommen hatte, selbst gelegentlichen Liebeskummer? Er vergrub sich wieder ins Kopfkissen, presste es gegen seine Wange, als könnte es ihm den erlösenden Schlaf schenken. Aber seine Augen blieben offen. Bald war ihm kalt und er zog die
Bettdecke hoch, bald war ihm heiß und er warf sie wieder von sich. Und es gelang ihm nicht, diesen Schüttelfrost abzustellen, der von innen kam, der ihn schon fast verzweifeln ließ, ihn zumindest völlig trostlos machte.
Eigentlich hätte er sich Eloïse wieder zuwenden und mit ihr schlafen sollen. Aber er konnte nicht. Seit drei Monaten hatte er sie schon nicht mehr angerührt, und seit drei Monaten hatten sie kein Wort darüber verloren. Die schöne Eloïse … Merkwürdig, wie sie das ertrug. Als würde sie etwas Krankhaftes, etwas Fremdes an ihm wittern, als hätte sie Mitleid mit ihm. Und der Gedanke, sie könnte Mitleid mit ihm haben, war vernichtender, als wenn sie wütend gewesen wäre oder ihn gar betrogen hätte. Was hätte er nicht darum gegeben, sie begehren zu können, sich wild auf sie zu werfen, in die Wärme eines anderen Körpers einzutauchen, es heftig zu treiben, sich zu vergessen, das wäre doch etwas ganz anderes als einfach nur zu schlafen … Aber er konnte nicht. Und ihre wenigen zaghaften Annäherungsversuche hatten bei ihm nur unvorstellbaren Ekel ausgelöst. Er, der geradezu liebestoll gewesen war und das auch immer in jeder Lebenslage hatte beweisen können, egal, ob die Umstände nun höchst lächerlich oder sonderbar gewesen waren, ausgerechnet er war nun impotent, lag, in den Kissen vergraben, neben einer Frau, die ihm gefiel, die schön war und die er sogar gern hatte.
Wobei, ganz so schlimm war es nun auch wieder nicht. Ein Mal, vor drei Wochen, nach dem denkwürdigen Abend bei Jean, hatten sie doch miteinander geschlafen. Aber er hatte keine Erinnerung mehr daran, weil er – nicht ohne Grund – viel zu viel getrunken hatte und sich nur noch an ein obskures und wirres Gerangel in seinem großen Bett erinnerte, aber auch an seine Erleichterung beim Aufwachen, nun doch wieder einmal gepunktet zu haben. Als sei dieser flüchtige Augenblick geschenkter und empfangener Lust ein Ausgleich für die vielen Nächte voller Unbehagen, fadenscheiniger Entschuldigungen und geheuchelter Ungezwungenheit gewesen. Nicht gerade eine Glanzleistung. Das Leben, das ihm bis dahin doch alles geschenkt hatte – zumindest glaubte er das und sah darin einen Grund für seinen Erfolg –, dieses Leben zog sich nun zurück wie das Meer, wenn es plötzlich zurückweicht und einen Felsen sich selbst überlässt, als hätte es ihn schon zu lange liebkost. Die Vorstellung, dass er selbst solch ein alter Felsen sei, ließ ihn kurz und bitter auflachen. Aber es stimmte ja, das Leben schien ihm tatsächlich durch eine verborgene Wunde zu entweichen. Die Zeit verstrich nicht mehr, sie zerrann. Auch wenn er sich immer wieder sagte, dass sein jetziges Leben ihm noch allerlei zu bieten hatte – er sah gut aus, hatte einen abwechslungsreichen Beruf, war in jeder Hinsicht erfolgreich –, erschien ihm das alles neuerdings eintönig und belanglos wie gebetsmühlenartiges Gefasel. Blutleere, leblose Worte. […]
Aber, was tun? Wer könnte einsamer sein als ein Mann, der, natürlich ganz instinktiv und mit wohlwollenden Zynismus, bislang stets die angenehmen Seiten des Lebens zu genießen wusste, und dem nun mit einem Mal, im Jahre des Herrn 1967, mitten in Paris, alles entgleitet? Allein schon der Gedanke an einen Psychiater kam einer Demütigung gleich, ja, er wies ihn entschieden von sich, hatte er doch seine geistige Überlegenheit bisher für seine beste Eigenschaft gehalten. Deswegen war er zum Schweigen verdammt. Und zum Weitermachen. Oder vielmehr dazu, es zumindest zu versuchen. Außerdem hatte er dem Leben, seinen Irrungen und Wirrungen immer blind vertraut, und daher glaubte er, dass ‘das alles’ nur ein vorübergehender Zustand sei. Die Zeit, die einzige Macht, die er für sich gelten ließ, hatte ihm schon so manche Liebschaft, so manches Glück, so manchen Kummer, zuweilen auch all seine Pläne zerstört, also gab es keinen Grund, dass sie nicht auch „diese Sache“ beseitigen würde. Nur war ‘diese Sache’ farblos, namenlos, er wusste nicht einmal, was es war. Und vielleicht hat die Zeit nur Macht über das, was man kennt.
ZWEITER TEIL – LIMOGES
KAPITEL 1
ER LAG BÄUCHLINGS AUSGESTRECKT im Gras und beobachtete, wie dort hinten, über dem Hügel, die Sonne emporstieg. Seit er hier war, wachte er regelmäßig zu früh auf und schlief insgesamt schlecht, weil die Ruhe auf dem Land ihn ebenso zermürbte wie die Hektik in Paris. Das wusste auch seine Schwester, bei der er wohnte, und sie empfand es insgeheim als Beleidigung. Kinderlos, wie sie war, hatte sie in Gilles immer eine Art Sohn gesehen. Und dass es ihr in vierzehn Tagen nicht gelungen war, ihn, wie sie sagte, ‘wieder auf die Beine zu bringen’, zeugte aus ihrer Sicht von seiner unverhohlenen Missachtung des Limousin, der guten Landluft und der Familienbande ganz allgemein. Von ‘Depressionen’ hatte sie natürlich auch schon gehört, das stand ja in den Zeitungen, aber in ihren Augen ähnelte so etwas doch eher einer Marotte als einer Krankheit. Odile, die sich nun schon seit vierzig Jahren gleichermaßen hingebungsvoll ihren Eltern, dann ihrem Ehemann und der Führung des Haushalts gewidmet hatte, war zwar völlig phantasielos, aber voller Herzensgüte, und konnte es beim besten Willen nicht fassen, dass Ruhe, dicke Beefsteaks und Fußmärsche nicht jede Unpässlichkeit zu beseitigen vermochten. Aber Gilles wurde zusehends dünner und schweigsamer, verließ manchmal sogar fluchtartig den Raum, wenn sie mit Florent, ihrem Mann, über Dinge zu plaudern begann, die sich kürzlich ereignet hatten. […]
Den Entschluss fortzugehen hatte er am Morgen nach jenem quälenden Tag in Paris gefasst, und da er eigentlich nur noch Schulden hatte und außerdem vor jedem Unbekannten angstvoll zurückschreckte, war er zu Odile ins schon leicht baufällige Elternhaus geflohen, das sie geerbt hatten und wo seine Schwester seither mit ihrem Mann, dem sanftmütigen Florent, wohnte, der Notar war, aber offensichtlich weder fähig, Geld zu verdienen noch Nachwuchs zu zeugen. Und so lebten sie, bescheiden und alles andere als zeitgemäß, von ein paar Pacht- und Zinseinkünften. […]
Das war nun schon zwei Wochen her, und er war restlos verzweifelt. Dass die Landschaft schön war, wusste er, empfand es aber nicht, auch das Haus war ihm vertraut, aber er lief darin herum, ohne sich heimisch zu fühlen, und jeder Baum, jede Mauer, jeder Flur schien ihm zuzurufen: Einst warst du glücklich hier, fühltest dich wohl. Dabei schlich er verstohlen durch Alleen und Flure wie ein Dieb, ein Dieb, dem man alles gestohlen hatte, selbst seine Kindheit.
Die Sonne war jetzt da, begann die Wiese zu überfluten, und Gilles rieb sein Gesicht im feuchten Gras, sog einmal, zweimal langsam den Duft der Erde ein und versuchte ganz gezielt, jenes himmlische Glück, das er früher dabei empfunden hatte, wieder heraufzubeschwören. Aber selbst solch harmlose Freuden ließen sich nicht herbeizitieren, und so sah er sich angewidert dabei zu, wie er den Naturliebhaber mimte, vergleichbar mit einem ehemals leidenschaftlichen und mittlerweile abgestumpften Liebhaber, der, im Bett mit der einst heißbegehrten Frau, noch immer die gleichen Worte und Gesten benutzt, jedoch mit leerem Herzen und voller Bestürzung.
Er stand auf, stellte verärgert fest, dass sein Pullover ganz nass war, und ging zum Haus zurück. Es war ein altes graues Steinhaus mit blau schimmerndem Dach und zwei kleinen kuriosen Giebelaufsätzen, einer Terrasse vorne und einem Hügel hinten – ein typisches Haus des Limousin, in dem es immer, unabhängig von der Jahres- oder Uhrzeit, nach Lindenblüten, Sonne und warmen Sommerabenden duftete. So kam es ihm zumindest vor, selbst in diesem morgendlichen Licht, als er fröstelnd die Küche betrat, wo Odile, die bereits aufgestanden war, im Morgenrock damit beschäftigt war, den Kaffee aufzubrühen. Er gab ihr einen Kuss, und sie brummelte etwas von Lungenentzündung, die man sich leicht holen könne, wenn man sich im taunassen Gras herumwälze. Trotzdem fühlte er sich wohl in ihrer Nähe, er sog den Duft ihres Eau de Cologne, des Kaffees und des Holzfeuers im Kamin ein, und gerne hätte er mit dem großen, fuchsroten Kater getauscht, der sich jetzt auf der Truhe zu räkeln begann und sich allmählich bequemte, wach zu werden. Das Leben, Gott, mein Gott, es ist ja da, so schlicht, so still …, dachte er. Zu dumm, dass er sich nicht länger als ein paar Minuten an derlei Klischees klammern konnte und sein Leben, seine Obsessionen ihn sofort wieder einholten wie eine blutrünstige Meute, die dem Hirsch eine dreiminütige Verschnaufpause lässt, nur, damit die Jagd noch länger dauert.
[…] Fröstelnd wandte Gilles sich zum Fenster hin. Wahrlich ein toller Tag, der ihm bevorstand! Nachher würde er mit seiner Schwester zum Einkaufen ins Dorf fahren, Zeitungen und Zigaretten besorgen, wieder zurückkommen, auf der Terrasse bis zum Mittagessen lesen, vergeblich versuchen, eine Siesta einzulegen, dann lustlos einen Waldspaziergang zu machen, nach seiner Rückkehr, noch vor dem Abendessen, mit Florent einen Whisky trinken und dann früh, sehr früh zu Bett gehen, damit seine Schwester endlich den Fernseher einschalten durfte, was sie seit acht Uhr kaum mehr erwarten konnte. Warum er sich so vehement dagegen sträubte, wusste er eigentlich selbst nicht. Mit welchem Recht versagte er seiner Schwester dieses harmlose Vergnügen, fragte er sich in einem kurzen Aufblitzen von Reue. Nur weil er selbst es tödlich langweilig fand? Besonders abwechslungsreich war ihr Leben doch wirklich nicht.
„Heute Abend werde ich mit euch fernsehen“, sagte er, ihr zugewandt. „Heute Abend bestimmt nicht“, entgegnete sie. „Wir sind doch, wie ich dir neulich schon gesagt habe, bei den Rouargues eingeladen.“
„Dann werde ich eben allein fernsehen“, scherzte er.
„Du bist wohl verrückt“, empörte sich Odile. „Du kommst mit! Madame Rouargue hat es eigens betont. Sie kennt dich seit deinem fünften Lebensjahr.“ […]
KAPITEL 2
IN LIMOGES GAB ES noch ein paar von den blauen Salons, die immer seltener wurden, und der Salon der Rouargues war einer der letzten. Jahre zuvor schien nämlich die ganze Stadt einer Marotte anheimgefallen zu sein: blauer Samt als Innendekoration. Und in gewissen Häusern war er noch immer vorhanden, wenn auch wohl meistens aus finanziellen Gründen. Als Gilles nun den Salon der Rouargues betrat, hatte er daher gleich das Gefühl, wieder von seiner Kindheit eingeholt zu werden: Die ewig gleichen Nachmittagseinladungen, die unzähligen langweiligen Stunden, wo man artig auf einem Hocker auf die Eltern zu warten hatte und vor verschossenem Blau vor sich hin träumte! Doch schon drückte ihn die Hausherrin, rosige Wangen und weiße Haut, an ihren Busen.
„Gilles … mein lieber Gilles … zwanzig Jahre ist es her, dass ich Sie nicht gesehen habe … aber Ihre Artikel, das sollen Sie wissen, die lesen wir immer, mein Mann und ich, wir verlieren Sie nicht aus den Augen … Natürlich können wir nicht alles automatisch gutheißen, denn ein wenig reaktionär waren wir ja schon immer“, fügte sie hinzu, als wollte sie auf einen kleinen Makel hinweisen – „aber Ihre Karriere verfolgen wir durchaus … Werden Sie für länger hier bleiben? … Odile sprach von einer leichten Anämie? … Wie schön, dass Sie heute bei uns sind! … Kommen Sie, ich möchte Sie all meinen Gästen vorstellen.“
Sie hatte ihn überrumpelt, mundtot gemacht, und so musste er sich von dieser alten Dame abküssen, betätscheln, belobigen lassen. Der Salon war voller Menschen, alle standen, nur drei alte Herren saßen wie festgenagelt auf ihren Stühlen. Gilles spürte, wie die Panik in ihm hochstieg. Er warf seiner Schwester einen wütenden Blick zu, doch diese segelte in ihrer Begeisterung durch den Salon und umarmte reihum auch ihr völlig Unbekannte. […] Schließlich flüchtete er sich in die Nähe eines der drei sitzenden Herren, der sich als alten Freund seines Vaters bezeichnete und ihn nun nach seiner Meinung zur aktuellen politischen Lage fragte, sie ihm aber sogleich selbst zu erklären begann. Gilles hatte sich leicht hinunter gebeugt und gab sich den Anschein, dem alten Herrn zuzuhören, als Madame Rouargue ihn am Ärmel fasste.
„Edmond, Sie können unseren jungen Freund doch nicht so vereinnahmen. Kommen Sie, Gilles, ich möchte Sie mit Madame Sylvener bekannt machen. Nathalie, dies ist Gilles Lantier.“
Gilles wandte sich um und sah sich einer hochgewachsenen, bildschönen Frau gegenüber, die ihn anlächelte. Sie sah ihn aus grünen Augen unverfroren an, ihr Gesicht, umrahmt von rotem Haar, verriet einen gewissen Hochmut, aber auch Warmherzigkeit. Sie lächelte, sagte mit dunkler Stimme „Guten Abend“ und entfernte sich sogleich wieder. Irritiert blickte er ihr nach, dieser geradezu gleißenden Lichtgestalt, die so gar nicht in den kleinen, altmodischen, verblassten blauen Salon zu passen schien.
„Das ist eine Prestigefrage“, hub der redselige Edmond von Neuem an. „Ach so, die schöne Madame Sylvener hat’s Ihnen angetan? Die Königin unserer Stadt … Tja, wäre ich noch so jung wie Sie! … Um aber auf die Außenpolitik zurückzukommen, ein Land wie das unsrige …“
Das Dîner zog sich endlos in die Länge. Gilles, am anderen Ende der Tafel platziert, fing von Zeit zu Zeit einen Blick der schönen Madame Sylvener auf, einen ruhigen, wohlbedachten Blick, der zu ihrem sonstigen Benehmen eher nicht zu passen schien, denn sie redete viel, und alle um sie herum lachten viel, was Gilles mit leichter Ironie konstatierte. Sie schien sich wirklich wie die Königin des Limousin zu fühlen und diesem Unbekannten aus Paris, der auch noch Journalist war, imponieren zu wollen. Ein netter Zeitvertreib, hätte er sich früher gedacht, ein zweiwöchiges Techtelmechtel mit der Gattin eines Provinzbeamten, das er später in Balzacscher Manier den Freunden hätte schildern können. Doch das reizte ihn jetzt überhaupt nicht. Er starrte auf seine Hände, wie sie da dürr und nutzlos auf dem Tischtuch lagen, und hatte nur den einen Wunsch, diesen Ort zu verlassen.
Als das Essen endlich vorbei war, drängte er sich wie ein Kind an seine Schwester heran, die, als sie seine angespannten Gesichtszüge, seine zitternden Hände und den fast flehenden Blick in seinen Augen sah, zum ersten Mal wirklich Angst um ihn hatte. Sie verabschiedete sich von Madame Rouargue, zog den leicht beschwipsten Florent hinter sich her, damit sie drei, soweit das in einem Provinzsalon überhaupt möglich war, ohne Aufsehen zu erregen die Gesellschaft verlassen konnten. Als Gilles dann zitternd und zusammengesackt hinten im Auto saß, kaute er gar an seinen Fingernägeln. Nie mehr, das schwor er sich, würde er sich auf solch ein Abenteuer einlassen.
Nathalie Sylvener indes liebte ihn, kaum dass sie ihn erblickt hatte.
Françoise Sagan
Ein bisschen Sonne im kalten Wasser
Aus dem Französischen neu übersetzt
von Sophia Sonntag
Edition Ebersbach, Berlin 2014
272 S., Halbleinen, Fadenheftung
€ 24.
ISBN 978-3-86915-092-5
«Künstlerinnen 2015» – Jahreskalender Edition Ebersbach
Man darf sie getrost Jahrhundertkünstlerinnen nennen; die grosse Schauspielerin Ingrid Bergman und die kleine Sängerin Edith Piaf, deren 100. Geburtstag wir im August respektive im Dezember 2015 feiern. Aus Anlass eines runden Geburtstags- oder Todestages hat die Edition Ebersbach für diesen Kalender Gedanken, Zitate und Aphorismen von 53 Künstlerinnen zusammengestellt, die in der Literatur, im Film, in der Musik, in der Malerei und Fotografie, im Tanz oder auch im Bereich Design Herausragendes leisteten; darunter Charlotte Brontë, Agatha Christie, Marie von Ebner-Eschenbach, Sarah Kirsch, Bette Midler, Zadie Smith, Anne Bancroft, Lale Andersen, Clarice Lispector, Kate Winslet uva. Ein Kaleidoskop der Träume, Phantasien und des Glamour.
Edition Ebersbach, Berlin 2014
ISBN 978-3-869-150-857
€ 22.
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