FRONTPAGE

«Friederike Mayröckers études: Ein Fleckerlteppich aus Lektüren, Bildern und Erinnerungen»

Von Leopold Federmair

Friederike Mayröcker erzählt uns eine Geschichte, ihre eigene, die nun bald neunzig Jahre währt. Die früheste Jahreszahl, die in ihrem neuen Buch «études» genannt wird, ist 1927, die späteste 2012. Liest man die «études» mit wachem Ohr für das Spiel von Thema und Variation, dann erschliesst sich das Buch als Ineinander von Kindheits- und Altersmustern, und zu diesen beiden Websträngen des Anfangs und des (nun doch schon nahenden) Endes gesellen sich weitere Stränge.

 

Gibt es in der Literatur definierbare Merkmale eines Altersstils? Francis Ponge, der französische Posadichter, hat in seiner frühen Schaffensphase die knappen, konzisen, oft formvollendeten Stücke des Parti pris des choses geschrieben, und im Alter dann, Jahrzehnte später, offene Werke geschaffen, grosse Textfelder wie Pour un Malherbe, in die er alle möglichen Spuren einer unvollendbaren Spracharbeit aufgenommen hat, wobei ihm nur ganz selten Prosajuwelen gelingen, die an die frühe Sammlung erinnern. Verloren gegangene Konzentrationsfähigkeit? Der Leser mag sich fragen, ob es denn notwendig sei, all die Annäherungsversuche an das unerreichbare absolute Gedicht in ein Buch aufzunehmen. Dieselbe Frage kann man Friederike Mayröcker stellen, zu deren Lieblingen Ponge gehört. Sie zitiert ihn, und nicht nur einmal, auch in ihrem neuen Buch.

 

Schwankende Worte

Gar nichts zitiert Mayröcker nur einmal. Sie umkreist und benennt versuchsweise Dinge, Erinnerungen und Figuren, um sie festzustellen. Denn fürs erste schwanken sie, unsicher, nur flüchtig wahrgenommen, und ebenso schwanken die Worte, die sie findet und immer wieder neu sucht, neu erfindet. Erst durch die Wiederholung und Variation bekommen sie so etwas wie Beständigkeit. Erst im summierenden Rückblick zeigt sich dem Leser, was er da eigentlich gelesen hat. Und wie das Einzelne zusammenhängt. Nicht logisch, nicht chronologisch, aber irgendwie doch. Vielleicht poetisch, in der poetischen Wölbung, die der Text anstelle eines erzählenden Spannungsbogens schafft.

Mayröcker entfaltet ihre Motive, von denen einige – wie Grotte, Ästchen, Flieder – das Buch beherrschen, andere nur wenige Male auftauchen, ähnlich jenen Komponisten, die sie ebenfalls gern zitiert und deren Musik sie hört und in das cahier ihrer eigenen études einfliessen lässt. Auch das Wort bricolage fällt, und tatsächlich hat ihr Schreiben ja etwas von Bastelei – von Collage, um den in der Kunstgeschichte gebräuchlichen Ausdruck zu verwenden. Sie komponiert ihr poetisches Prosabuch aus allerlei Ingredienzien, aufblitzenden Bildchen der Wahrnehmung und der Erinnerung, aber auch aus Gelesenem, aus älteren, gestrigen, vorgestrigen Notaten, und macht daraus einen Fleckerlteppich, der im Ensemble des Heterogenen seine eigene Leuchtkraft entwickelt.

 

 

Geschichten

Dennoch erzählt uns Mayröcker eine Geschichte. Viele Geschichten und eine, ihre eigene, die nun bald neunzig Jahre währt. Die früheste Jahreszahl, die im Buch genannt wird, ist 1927, die späteste 2012. Eines der tagebuchartigen, weniger bearbeiteten Stücke beginnt so: „Volker Braun’s Geburtstag / kann keine Geschichte erzählen, sage ich abends zu ihm…“ Das könnte man als Party-Affront lesen, das Subjekt der Aussage wird hier aber Mayröcker selbst sein, denn der Suhrkamp-Kollege aus der DDR war ein Geschichtenerzähler („ganz grosze Klasse“), während sie selbst sich gelegentlich mit dem Vorwurf mangelnder Narrativität auseinanderzusetzen hatte.

 

 

Kindheits- und Altersmuster

Liest man die études aber so, wie sie es fordern, d. h. mit wachem Ohr für das Spiel von Thema und Variation, dann erschliesst sich das Buch als Ineinander von Kindheits- und Altersmustern, und zu diesen beiden Websträngen des Anfangs und des (nun doch schon nahenden) Endes gesellen sich weitere Stränge, Liebschaften, Begegnungen, Verluste sowie bevorzugte, herausragende Orte und Landschaften. All das blitzt auf, vergeht, wiederholt sich. Aufblende, Abblende, Aufblende. Wegtauchende Sätze, die man noch eine Weile schwingen hört, während das Textgewebe weiterläuft, in eine andere Richtung. –
«und ich werde alles verfluchen weil ich nicht davon will weil die Erde doch so wunderschön (…) es hüpft mein Herz so liebe ich dieses Leben (…) welch ein Unfug dasz wir davon müssen», so liest man auf der letzten Seite, kurz vor dem Ende. Le kitsch? fragt sich die Autorin selbst immer wieder, und es fällt auf, dass sie als Textbastlerin das allzu Schöne gern konterkariert.

 

Auch ihre über die Jahrzehnte hinweg gepflegten sprachlichen Marotten und Manierismen tragen dazu bei, das SZ und 1 (nicht „ein“) Unfug, auch die Abkürzungen, kl. und gr. und freundl. und usw. Lieblichkeiten zuhauf in diesem Studienheft, „Finken aller LIEBST“, aber dann plötzlich: „er hatte so lieb geschissen“. Auch das kommt vor, muss vorkommen, damit sich der Kitsch nicht breitmachen kann und Friederike Mayröcker uns auf ihre alten und neuen Tage von der Schönheit der Erde und der Sprachmusik, an der sie unverdrossen arbeitet, vorzwitschern kann.

 

(Erstveröffentlichung NZZ, 14. Januar 2014, mit freundlicher Genehmigung des Autors).

 

 

Friederike Mayröcker

études

Suhrkamp Berlin 2013
180 S., CHF 29.90

 

 

«Durs Grünbein und Aris Fioretos: Verabredungen»
Gespräche und Gegensätze über Jahrzehnte. Kontrovers, spielfreudig, pointiert – ein Duett in Gesprächen.

 
Nach Mauerfall und 9/11, zwischen Ragnarök und Apocalypse Now, über die Kunst, das Leben und den Rest
Wenige Jahre nach dem Fall der Mauer: Ein deutscher Dichter und ein schwedischer Romancier lernen sich kennen, schließen Freundschaft.

 

Beide am Anfang ihrer schriftstellerischen Laufbahn, beide aber in den zeitgenössischen Debatten zu Hause, den ästhetischen, weltanschaulichen, politischen. Beide weder ortsgebunden noch ortsfest, ständig auf Reisen hin und her. Wo immer ihre Wege in den folgenden zwanzig Jahren sich treffen – in der Wüste von Las Vegas oder in der ehemaligen Wohnung eines RAF-Anwalts in Berlin –, sie verwickeln sich in Gespräche, zeichnen sie auf.
Sechs davon sind hier dokumentiert: Kreuz- und Querzüge, vorgeschobene Positionen, mutwillige Kontroversen, geistesgegenwärtige Schlagabtäusche, gut gelaunte Stimmen, die einander mit Volten und Finten überraschen. Aber auch nach den Trennungen, aus der Ferne, hört ihr Dialog nicht auf. Pointiert, im Austausch von Postkarten, stellen sie Fragen und geben Antworten: Zwischenspiele mit vorderseitigen Motiven und hintergründigen Bezügen – ein Dichterduett à la carte. (I.I.)

 

 


Durs Grünbein/Aris Fioretos
Verabredungen
Gespräche und Gegensätze
über Jahrzehnte.
Suhrkamp Berlin 2013
252 S., geb.
CHF 38.50. € 28.
ISBN 978-3-518-42388-2

 

 

 

«Paul Nizon: Die Belagerung der Welt» – Journale 1960er-2000er Jahre
Paul Nizon, *1929 in Bern, hat zeitlebens Journale geführt und in atemberaubender Intensität und Unmittelbarkeit vom Handwerk des Schreibens, von der Verzauberung durch die Liebe, von seiner Sehnsucht nach Neugeburt durch die Metropole Paris und nicht zuletzt von den Lektionen, die das Schreiben, das Leben und die Frauen ihm erteilt haben.
(Auszug)
Die 1960er Jahre
Die Wirklichkeit, die ich meine, ist nicht ein für allemal abzuziehen oder abzufüllen und in Tüte, Schachtel oder Wort mitzunehmen. Sie ereignet sich. Sie will verdeutlichend mitgemacht werden, zum Beispiel im Medium der Sprache. Deshalb schreibe ich. Die in der Sprache zustandekommende Wirklichkeit ist die einzige, die ich kenne und anerkenne. Sie gibt mir das Gefühl, vorhanden und einigermassen in Übereinstimmung zu sein mit dem, was sich insgeheim wirklich tut. Mein Leben, von dem ich annehme, es sei einmal und einmalig, läuft auf diese Weise weniger Gefahr, in blind übernommenen Konventions- oder in irgendwelchen Idealkanälen dahinzufahren oder auf Lebzeit in Untermiete eingelagert zu werden. Es setzt sich nicht auf Dienstwegen mit der treibenden Instanz auseinander, sondern empfängt seine Impulse direkt.
(…)

Gestern Frisch getroffen: Hatte den Eindruck, dass er zu meinem Begräbnis gekommen war. Er hatte sich einige Tage in Zürich über den «Fall Nizon» informieren lassen, hatte festgestellt, dass ich es fertiggebracht habe, sehr viel Missgunst, Hohn, Unwillen auf mich zu ziehen. Ich fragte ihn, wie er die jetzige Situation des Canto beurteile. Er meinte, das Buch sei nicht untergegangen, nicht begraben, aber sehr mit Fragezeichen belastet, mit Infragestellung. Mit dieser schweren Belastung sei es vorläufig noch «da». Warum die Grossen unter den Berufskritikern nicht an das Buch herangingen, fragte ich, was seine Meinung sei. Lustlosigkeit, wenig Anreiz, kein Interesse vielleicht, meinte er. Aber das bleibt merkwürdig. Und bisher unerklärt. Keiner der das wirklich Experimentelle darin erkennt, keiner der auf die Sprache, die Sprachexpedition eingeht. Aufs Instrumentarium. Ob sie’s nicht sehen? Martin Walser meinte, es sei in dem Buch ein Widerspruch zwischen dem Aufbau, der «spinnend», unter Verzicht auf Anfang und Ende und jeden Ideal-Zusammenhang und jede Ideal-Rundung, ohne Handlung, ohne solche «Kunst» auskomme und eine äusserste Position der Innovation bezeichne und der Sprache, die gefrässig, schwelgerisch, reich, ungewohnt verspielt sei. Hätte ich ein klar erkennbares Rezept als Aufhänger mitgegegeben, dann würde es das Buch leichter gehabt haben.
Frisch: An manchen Stellen sei für die meisten Leser einfach kein «Problem» zu erkennen, es bleibe bei einem Privatproblem – überall da, wo kein «Stoff», keine Anleitung, kein Unterbau mitgeliefert werde. Da, wo das Material für die Problematik, das epische Material dabei sei, aus dem der Canto gewonnen werde, sei’s gut. Vielleicht. Aber ein Sprachbuch. Man nehme mir übel: Arroganz, das durch und durch Unsolidarische, das bis zum Verleumderischen gehe. (I.I.)

 

 

Paul Nizon
Die Belagerung der Welt
Suhrkamp Verlag Berlin 2013
352 S., broschiert
CHF 28.50. € 19.95
ISBN 978-3-518-42386-8

 

 

LEE MILLER Fotografin, Muse, Model: «Mode als Akt des Widerstands»
Lee Miller (1907-1977) gehört zu den bedeutendsten Fotografinnen des 20. Jahrhunderts. Die Amerikanerin wurde zunächst als Model des Fotografen Edward Steichen und als Muse des Surrealisten Man Ray berühmt. Doch schon bald machte sie sich als selbständige Fotografin einen Namen.

 

Als eine der wenigen weiblichen Kriegsreporterinnen der US-Army lieferte Miller einmalige Bilddokumente von der Invasion der Alliierten bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs, die u.a. in der «Vogue» publiziert wurden. Um dem Kriegselend entgegenzuwirken, das ihr psychisch zusetzte, schuf sie zur gleichen Zeit Fotografien, die bewiesen, dass Mode auch ein Akt des Widerstands sein konnte. Das nach Kriegsende einsetzende Comeback der französischen Modeindustrie wurde von ihr eindrücklich fotografisch dokumentiert.
Doch viele ihrer Bilder für die Modewelt blieben unbeachtet oder gerieten in Vergessenheit. Der Autorin Becky Conekin ist es jetzt gelungen, diese Lücke zu schliessen. Das reichhaltig illustrierte Buch enthüllt eine eher unbekannte Seite der Ikone Lee Miller. Eine grandiose Entdeckung, nicht nur für Modefans.

 


 

Becky Conekin
Lee Miller
Fotografin Muse Model
Scheidegger & Spiess Zürich 2013
224 Seiten, geb., 41 farbige und 101 sw Abbildungen
18.5 x 24.5 cm
CHF 44. € 38.
ISBN 978-3-85881-386-2

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