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«Hilary Mantel: Geschichten aus dem Geisterreich»
Von Marion Löhndorf
Hilary Mantel besitzt sie, die Gabe, Welten aus ungewöhnlichen Blickwinkeln entstehen zu lassen. Ganz gleich, ob diese Welten historisch weit entfernt sind oder ob sie der Wirklichkeitserfahrung der meisten Menschen widersprechen – sie tut dies mit grosser Autorität.
In ihren meistgelesenen Büchern, dem ersten und zweiten Band der «Wolf Hall»-Trilogie, betrachtet sie das Leben und die Intrigen am Hof Heinrichs VIII. aus der Perspektive seines Beraters Thomas Cromwell. Dessen Geschichte, der das Urteil der Historiker bis dahin nicht sehr gnädig war, macht sie nachvollziehbar. Cromwell wird darin zwar nicht direkt zum Sympathieträger, doch trugen Hilary Mantels Bücher zu einem neuen Verständnis der ihrer Ansicht nach zu Unrecht übel beleumundeten historischen Figur bei.
Zum Kindsein nicht geschaffen
In ihrem jetzt in deutscher Übersetzung erschienenen autobiografischen Werk «Von Geist und Geistern» erweist sie sich als ebenso eigensinnige Erzählerin und Interpretin des eigenen Lebens. Schon auf den ersten Seiten wird das deutlich. Da führt sie die eigene Person mit grosser Überzeugungskraft als Geisterseherin ein. Zwar konzediert sie, dass es sich dabei auch nur um die Aura von sich anbahnenden Migränen handeln könnte. Aber diese Erklärungen erscheinen wie Scheinkonzessionen an den gesunden Menschenverstand oder Ablenkungsmanöver, um auch Ungläubige auf ihre Seite zu ziehen. Hilary Mantels Lebensrückblick, wenn man ihn denn so nennen möchte, wimmelt von Erscheinungen aus einer anderen Welt. Gleich zu Beginn nimmt sie ihren Stiefvater Jack als Flimmern wahr, eine optische Erscheinung, die wiederum Erinnerungen an ihn evoziert, welche am Ende mehr Fragen auslösen als Antworten geben.
Hilary Mantel, 1952 in der Nähe von Manchester geboren, entstammt einer Arbeiterfamilie von irisch-katholischen Einwanderern. Ihre Mutter hatte seit ihrem vierzehnten Lebensjahr in einer Weberei gearbeitet, der Vater war Büroangestellter. Tanten und Grosseltern wohnten in nächster Nachbarschaft. Ihre frühe Kindheit beschreibt sie als glücklich, bis sich das Familienleben veränderte, ohne dass je darüber gesprochen wurde: Vier Jahre lang lebte die Mutter mit dem Vater und einem Geliebten unter einem Dach. Dann zog die Familie in eine benachbarte Grafschaft. Den Vater sah sie nie wieder.
Diese frühen Erinnerungen sitzen am tiefsten. Zum Kindsein, schreibt sie, sei sie nicht geschaffen gewesen. Sie spricht vom Gulag ihrer Kindheit. Dagegen verblassen die Beschreibungen aus ihrem Erwachsenenleben fast: Krankheiten, verheerende ärztliche Fehldiagnosen, lange Auslandaufenthalte. Es fällt übrigens nicht leicht, solche Fakten aus dem Netz der Beobachtungen und Betrachtungen zu filtern, die sich mit Vorliebe Auflösungserscheinungen und der Herausforderung kaum mehr kommunizierbarer Kleinst-Erlebnisse widmen. Darin unterscheidet sich dieses so aussergewöhnliche, wagemutige Buch vollkommen von schärfer konturierten, aber konventioneller gearbeiteten Romanen aus Mantels Werkstatt, den «Wolf Hall»-Büchern zum Beispiel.
Der Text, unter dem Titel «Giving Up the Ghost» schon 2003 im englischen Original erschienen, ist denkbar weit entfernt von der selbstgefälligen Aufstiegsgeschichte einer Erfolgsautorin. Und überhaupt ist der Blick hier weniger rückwärts als vielmehr nach innen gerichtet. Lange habe sie gebraucht, berichtet die Autorin in diesem Werk, um überhaupt über sich selbst schreiben zu können. Viel leichter sei es ihr gefallen, fiktionale Charaktere zu schaffen und auszudeuten. Das Buch ihres Lebens sei bis dahin von anderen Menschen verfasst worden, «von meinen Eltern, dem Kind, das ich einmal gewesen war, und meinen eigenen ungeborenen Kindern, die ihre Geisterfinger nach einem Stift ausstreckten». Der autobiografische Text sei der Versuch gewesen, «das Urheberrecht für mich zu reklamieren», sich das Leben zu erschreiben, oder eine mögliche Version davon. Das ist ein Gedanke, auf den die Schriftstellerin immer wieder zurückkommt.
Mantel hängt ihren Widerspruchsgeist nicht an die grosse Glocke. Dabei nimmt ihre Rebellion gegen bestimmte Konventionen früh schon breiten Raum im Energie- und Seelenhaushalt der Erzählerin ein. Der erste Akt des Widerstands gilt der Schule, die für sie eine ständige Einschnürung bedeutete, das systematische Unterdrücken jedweder Spontaneität. Den Schulbetrieb, Lehrer und Mitschüler empfand sie als Bedrohung der eigenen Identität: «Ich durfte nicht akzeptieren, dass Dinge über meinen Verstand hinausgingen, nur weil sie es mir sagten; ich musste versuchen, diese Dinge zu verstehen. So kam es zu einem inneren Kampf, und es kostete mich Unmengen von Energie, die eigenen Gedanken intakt zu halten. Aber wenn ich diese Anstrengung nicht unternahm, würde ich ausgelöscht werden.»
Eingebettet ist dieser Erinnerungssplitter in Impressionen vom Schulweg, vom Tod einer Tante und in Reflexionen über das Wesen der Erinnerung, die sich für Mantel nicht in proustschen Momenten zu manifestieren scheint, sondern in «einem proustschen Super-8-Film». So elliptisch und assoziativ, zwischen den Zeiten und Welten wandernd, geht sie in ihrem Rückblick auf Erlebtes durchweg vor. Der Blick aufs Ganze oder auf zusammenhängende Teile des Ganzen setzt sich jeweils aus zahlreichen Details zusammen – oder vielmehr: Der Versuch, das Puzzlespiel zu vervollständigen, bleibt der Leserin überlassen.
Ein Rest von Geheimnis
Doch auch beim Versuch dieser unsentimentalen, oft bizarr witzigen Selbstvergewisserung – oder Selbstbehauptung – enthüllt Hilary Mantel nie die ganze Geschichte. Sosehr sie an einzelnen Stellen auch in die Tiefe oder in die Grossaufnahme geht, bleiben doch immer Teile im Verborgenen oder im Geheimen. So beschreibt sie ein nicht näher identifizierbares Schreckenserlebnis, das sie als kleines Mädchen im Garten hat. Obwohl ausser ein paar Fliegen nichts zu sehen ist, überfällt sie das Gefühl eines unaussprechlichen Horrors. Offen bleibt, ob es aus einer Art emotionalen Missbrauchs resultiert – oder hatte sie etwa den Teufel gesehen? Dessen Existenz erschien ihr im geistigen Rahmen der katholischen Kirche, in dem sie aufgewachsen war, durchaus plausibel. Es gibt Erklärungen auf verschiedenen Ebenen – psychologische, theologische –, aber sie widersprechen einander nicht. Anstatt Bedeutungen auszuschliessen, öffnet Hilary Mantel ihren Text. Das hat nichts damit zu tun, dass sie Dinge im Unklaren lassen will. Vielmehr arbeitet sie in diesem Buch mit grosser Sorgfalt an der Beschreibung des Unbeschreiblichen.
(Erstveröffentlichung NZZ v. 21.4.2015, mit freundlicher Genehmigung der Autorin).
Hilary Mantel
Von Geist und Geistern
Autobiografie.
Deutsch von Werner Löcher-Lawrence.
DuMont, Köln 2015.
240 S., CHF 28.50.