«Alberto Giacomettis Pariser Modelle»
Von Ingrid Isermann
In der Publikation «Engadin – Auf den Spuren von Giacometti, Segantini und Nietzsche» wird auch die Geschichte von Alberto Giacometti mit der Bildhauerin und seinem Modell Flora Mayo thematisiert. Caroline, Giacomettis letztes Modell, wurde vom Romancier Franck Maubert in Paris aufgesucht, die Geschichte einer flamboyanten Liebe.
1925 besuchte der 24-jährige Alberto Giacometti in Paris die Bildhauer-Akademie, wo ihm die 26-jährige amerikanische Studentin Flora Mayo begegnet. Flora Mayo ist die erste grosse Liebe von Alberto Giacometti. Sie studieren gemeinsam an der Académie de la Grande Chaumière bei Antoine Bourdelle. Flora wird zur wichtigen Figur der frühen künstlerischen Anfänge Giacomettis. Sie sitzt für ihn Modell und fertigt von Alberto ebenfalls eine Büste an. Dieses Werk ist nur noch auf einer Aufnahme von 1927 dokumentiert, die ein unbekannter Fotograf von Flora und Alberto machte (siehe Buchcover).
Die wohlhabende Familie, aus der Flora Mayo stammte, besass ein Kaufhaus in Denver/Colorado, A.T. Lewis & Sons, mit Filialen in Paris und London. Mit 19 wird die junge Frau in eine unglückliche Ehe gezwungen, in der sie eine Tochter, Joan, bekommt. Nach fünf Jahren reicht Mayo die Scheidung ein und zieht nach Paris, um Künstlerin zu werden. Eine damals unerhörte Entscheidung. Hier geht sie die Beziehung mit Giacometti ein. Eine Zeit lang geht es ihr finanziell gut, und sie unterstützt den Schweizer Bildhauer, um ihn zu ermutigen, kauft eine Skulptur von ihm, die sie ihm später schenkt. Auch Alberto fertigt von Flora eine Büste an, die in der grossen Giacometti-Retrospektive im Zürcher Kunsthaus (Sept. 2016 bis Jan. 2017) gezeigt wurde (Tête de femme, Flora Mayo, Gips bemalt, 1927, Fondation Annette et Alberto Giacometti, Paris).
Mayos Familie verliert in der Weltwirtschaftskrise 1929 und der darauffolgenden Rezession ihr Vermögen. Flora wird nicht mehr unterstützt und geht 1933 nach Amerika zurück. Dort arbeitet die junge Frau an der Drehbank in einer Waffenfabrik, ihre künstlerischen Ambitionen muss sie an den Nagel hängen.
Das Künstlerduo Teresa Hubbard / Alexander Birchler spürte den bisher ungekannten Sohn Flora Mayos auf. David Mayo ist 82 Jahre alt und lebt in Los Angeles. Die Gespräche mit ihm spielen eine wichtige Rolle in der Video-Filminstallation «Flora, 2017» von Hubbard / Birchler, die gegenwärtig im Schweizer Pavillon der «Biennale di Venezia 2017» zu sehen ist (bis 27. November 2017).
Ihr Sohn erinnert sich, dass Flora gern in Ausstellungen ging, von ihrem Leben als Künstlerin hatte er vor der Begegnung mit Hubbard und Birchler nichts gewusst. Mayo hörte auf, Kunst zu machen, als sie Paris verliess und hatte alle ihre Werke vernichtet, auch die Büste von Alberto. Nach ihrer Rückkehr in die USA war sie so arm, dass sie David in eine Pflegefamilie geben musste. In seiner Garage bewahrte er eine Kiste mit Fotos aus dem Leben seiner Mutter auf. Er hatte sich stets gefragt, wer der Mann mit den wirren Haaren war, er hatte ihn für irgendeinen Russen gehalten. «Flora» ist ein Film über Mayo und Giacometti, aber auch über ein Gespräch zwischen einem Sohn und seiner Mutter in fiktiven und dokumentarischen Szenen. Im Druckgrafischen Kabinett im Schweizer Pavillon steht nun Mayos von Hubbard / Birchler rekonstruierte Büste von Giacometti, in Bronze gegossen. Die dokumentarischen und fiktionalen Aspekte des Films sind getrennt voneinander zu sehen. Im berührenden Film werden Mayos Briefe vorgelesen, David Mayo spricht über seine Mutter. Sie starb verarmt in Los Angeles. Alberto Giacometti wurde weltberühmt, Flora Mayo geriet bis jetzt in Vergessenheit.
In der Publikation ist auch ein wunderbarer Essay von Stefan Zweifel über Giacomettis Atelier enthalten: «Fetisch-Statue des Jetzt».
Drei Visionäre und eine Ode an die Freundschaft
Alberto Giacometti (1901-1966), der berühmte Sohn des Bergells erlangte mit seinen Skulpturen wie «L’homme qui marche» Weltruhm.
Für Giovanni Segantini (1858-1899) hatte das Oberengadin den Zauber einer mystischen Landschaft. Die Intensität des flirrenden Lichts in seinen Gemälden eröffnete ein neues Sehen in der Landschaftsmalerei und in der Kunst. Der Beitrag von Beat Stutzer erläutert einen neuen Rezeptionsansatz für Segantinis grossartige Werke.
Friedrich Nietzsche (1844-1900) verbrachte die Sommer in Sils Maria, wo «Finnland und Italien zum Bunde zusammen gekommen sind», hier entstanden bedeutende Werke wie «Zarathustra». Hans Ulrich Obrist über das Nietzsche-Haus in Sils.
Die Publikation ist eine Hommage an das Engadin, die Magie und Philosphie einer Landschaft mit Fotos und Texten verschiedener Autoren, poetische Streifzüge und Impressionen lichtvoller Kultorte in Graubünden, Natur & Kultur, Museen und Hoteltipps.
https://www.suedostschweiz.ch/kultur-musik/2017-09-27/engadin-fuer-anfaenger
Ingrid Isermann
Engadin – dem Himmel so nah.
Auf den Spuren von Giacometti, Segantini
und Nietzsche
Mit Beiträgen von u.a. Stefan Zweifel, Beat Stutzer,
Hans Ulrich Obrist, Daniele Muscionico,
Leta Semadeni, Leo Tuor.
64 S., Paperback, Texte und Fotos,
CHF 25
ISBN 978-3-906064-76-5
www.somedia-buchverlag.ch
www.suedostschweiz.ch
«Caroline –
Alberto Giacomettis letztes Modell»
Caroline – das ist die letzte Geliebte, das letzte Modell Alberto Giacomettis. Zwischen Mai 1961 und Ende 1965, wenige Wochen vor seinem Tod, besucht sie ihn beinahe täglich in seinem Atelier. Zahlreiche Porträts entstehen und gehören mittlerweile zu den teuersten Werken auf dem Kunstmarkt. Der aktuelle Biopic-Spielfilm «The Final Portrait» (2017) von Regisseur Stanley Tucci zeigt auch die Liaison Giacomettis mit Caroline in Paris.
Wer ist diese Frau? Kein Kunsthistoriker, kein Giacometti-Spezialist ist dieser Frage je methodisch nachgegangen. Erst ein Schriftsteller kam auf die Idee, sich auf die Suche nach ihr zu begeben. Franck Maubert fand Caroline, verarmt, kränklich und verbittert,
in einem Billigwohnheim in Nizza. Von der Kunstwelt vergessen, führt die Frau ein Leben gänzlich am Rande.
Einen Tag verbringt der Romancier mit der Frau, die sich Caroline nennt. Sein Bericht ist stupend. Herzergreifend, tief traurig und anrührend – letztlich verrückt. Er offenbart eine Geschichte einer flamboyanten Liebe, einer wahren Amour fou, und eines ebenso grossen, schmerzhaften Verlusts. Ohne Pathos und Larmonyanz schildert Maubert diese späte Begegnung und wird damit der Kargheit und Wahrheit der Werke Alberto Giacomettis auf zauberhafte Weise gerecht. Der flirrende Text liest sich wunderbar leicht und berührt durch seine respektvolle Intimität.
Das 2012 erschienene Buch wurde bisher in zwölf Sprachen übersetzt und mit dem «Prix Renaudot Essai 2012» ausgezeichnet.
«Am Nachmittag unserer ersten Begegnung in jenem Sommer vor mehr als dreissig Jahren hatte ich mich, einer enttäuschten Liebe wegen düster gestimmt, in die kühlen Säle des Musée d’Art geflüchtet. Ich ging wie ein Schlafwandler, verloren inmitten einer Ausstellung von Porträts, und achtete kaum auf die Werke. Bis mich ein Gemälde festhielt, oder vielmehr ein Blick. Der Blick einer jungen Frau, dem Maler gegenübersitzend, in einem roten Kleid, die Hände auf den Schenkeln. Zunächst unterschied sich dieses Gemälde in nichts von einem anderen. In meinen Augen jedoch sehr wohl. Denn ebendieses Porträt sprach zu mir. Ein Sonnenstrahl fiel schräg auf das Gesicht des Modells und schimmerte wie vergoldetes Email. Unter dem Netz der dunklen Striche fesselte mich die Kraft ihrer tiefliegenden, gleichsam in die Materie gegrabenen Augen. Und je länger ich sie ansah, desto stärker zogen sie mich an, als drehten sie sich leicht in ihren Höhlen, um mich zu hypnotisieren. Sie agieren von selbst, ohne jede äussere Unterstützung. Dein Blickfeld umfasst den ganzen Raum, alle Bilder ringsum, und plötzlich hält ein Gemälde dich gefangen, ein einziges, es gibt nur noch dieses, du bist mit ihm allein».
Franck Maubert (*1955) ist Schriftsteller und Kunsthistoriker. Obwohl seine Bücher sich in Frankreich grosser Beliebtheit erfreuen und bislang in über ein Dutzend Sprachen übersetzt wurden, ist er im deutschen Raum noch fast unbekannt. Er hat Romane und Werke zur bildenden Kunst veröffentlicht. Maubert lebt in Paris und in der Touraine.
Franck Maubert
Caroline
Albert Giacomettis letztes Modell
Aus dem Französischen von
Eva Moldenhauer
Deutsche Erstübersetzung
16 Tafelbilder Caroline, von Giacometti
104 S., Paperbeck
Piet Meyer Verlag, Bern/Wien 2017
ISBN 978-3-905799-43-9
CHF 23.90