FRONTPAGE

«Grandioser Untergang der Männerwelt»

Von Michael Böhm

«Unnerröck an Bord, dat gifft Malheur» – «Frauen an Bord bringen Unglück», besagt ein seemännischer Aberglaube. Und bei Harry Altwasser ist das Unglück gross: Denn wenn bei ihm Frauen als Chefinnen von Sicherheitsteams mit Auszubildenden in den Kojen von Walfängern verschwinden oder als Piratinnen alte Seebären mit Tritten in die Kniekehle überwinden, dann fällt die letzte Bastion der Männer überhaupt – dann fahren die «letzten Fischer» auf See.

 

Nach seinen Romanen «Letzte Haut» und «Letztes Schweigen» lässt Harry Altwasser in einem fulminanten Hochsee-Epos die maskuline Welt der Fischer und Walfänger aufleben, wie sie Melville in «Moby Dick» oder Hemingway in «Der alte Mann und das Meer» beschrieben haben: samt ihrer kindlich anmutenden Charaktere, die der Sicherheit des festen Landes, das waghalsige Spiel mit dem Elementaren auf See vorziehen; samt ihrer archaischen Freude an Jagd und Fang, bei der Harpuniere den Finger kaum vom Knopf der Bordkanone lassen können, samt ihrer derben Rituale, die auf dem unbeständigen Meer zu Kameradschaft und Verlässlichkeit zusammen schweissen.
Tommy, der als Walfängerlehrling auf der «Rimbaud» seine erste Reise unternimmt, weiss, dass er der letzte seiner Art ist. Und auch Robert, der mit dem Fischereischiff «Saudade» vor der somalischen Küste kreuzt, ahnt, dass seine Zeit auf See bald vorbei ist. Denn seit langem versuchen Umweltschützer Walfänger zu kapern, damit diese nicht mehr Jagd auf die letzten, noch verbliebenen Meeressäuger machen, entstehen auf dem Land «Aquakulturen», in denen «Fischbauern» Kaviar und Lachse halten: gefüttert von aus Fischresten bestehenden Mehl, behandelt mit infektionshemmenden Antibiotika.
So bröckelt auch die Welt der Männer an Bord, bricht dort, wo ansonsten geschwiegen und das «Private an Land» gelassen wird, das Weibliche herein: In den Gesprächen über den Sinn des Berufes, die Tommy mit Luise, der Kampfschwimmerin führt; in den Nöten, die Robert seinen Kollegen offenbart, weil ihn seine depressive Frau Mathilde am liebsten an Land behalten will.

 

Scharfsinnig, poetisch und traurig blickt Altwasser im letzten Teil seiner Triologie über einsame schweigende Männer auf die moderne, die natürlichen Ressourcen restlos vernutzende Welt. In ihr ist das Weibliche dominant, jagt man nicht mehr beschwerlich, sondern züchtet effizient. Bezeichnenderweise lässt er Luise zu Tommy sagen: «Die letzten Männer in ihren alten Rollen, deine heissgeliebten Hochseefischer, die müssen das Reden lernen, wenn sie auf dem Kontinent nicht untergehen wollen. Das Schweigen war gestern, das Erleiden war gestern, jetzt kommt das Reden. Arbeit als Freizeitbeschäftigung, als Hobby, mit dem man Geld verdient. In Europa müssen Erzeugnisse nur noch vermarktet werden, hergestellt werden sie ganz woanders. Und das Vermarkten haben Frauen ja schon siebenhunderttausend Jahre geübt ».

 

Doch nichtsdestotrotz ergeht sich dieser Seefahreroman noch einmal in grandios-drastischen Darstellungen, wie die Männer Wale erlegen, Rotbarsche verarbeiten oder mit Piraten kämpfen. Altwassers Erzählkunst zieht den Leser dabei in einen Sog, wie er wohl nur bei Untergängen entstehen kann: Bei ihnen hört er, wie das Tosen der Wellen die geschrieenen Worte der Männer auf See reist und sie als Gischt zurückspuckt; schmeckt die salzige Seeluft, die sich mit dem süsslichen Geruch des Walbluts vermengt, riecht den Dunst der verqualmten Messe, in der bärtige Matrosen Labskaus essen, Zigaretten rauchen und unanständige Witze reisen.
Exklusive Erstpublikation für Literatur & Kunst.

Volker Harry Altwasser:
Letzte Fischer
Matthes & Seitz, Berlin 2011.
503 S., geb., CHF 34.90, Euro 24.00,
ISBN 978-3-88221-554-0

Volker Harry Altwasser, 1969 in Greifswald geboren, absolvierte die Realschule und anschliessend eine Lehre zum Elektronikfacharbeiter. Er war u.a. tätig als Heizer in der Reichsbahndirektion, Matrose in der NVA, Gefreiter auf der Fregatte «Bremen», wo er nicht zum Obergefreiten befördert wurde, weil er auf Las Palmas das Auslaufen des Schiffes «verpasste». 1998-2002 studierte er am Deutschen Literaturinstitut der Uni Leipzig. Er veröffentlichte mehrere Bücher, darunter 2003 seinen Debütroman «Wie ich vom Ausschneiden loskam». Bei Matthes & Seitz Berlin erschienen bisher – neben «Letzte Fischer», mit dem er für den Deutschen Buchpreis 2011 nominiert war: «Letzte Haut» (2009) und «Letztes Schweigen» (2010). 2011 erhielt Volker Altwasser den renommierten Italo-Svevo-Preis.

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