FRONTPAGE

«Hans Schärer im Aargauer Kunsthaus in Aarau: Madonnen & Erotische Aquarelle»

Von Niklaus Oberholzer

Das Aargauer Kunsthaus widmet dem Maler Hans Schärer (1927-1997) eine grosse Ausstellung, die zwei Themen gewidmet ist – den «Madonna»-Bildern, denen sich der Maler ab den späten 1960er Jahren während 15 Jahren widmete, und den gleichzeitig entstandenen erotischen Aquarellen.

 

«Madonnen & Erotische Aquarelle»? Die Titelei des Kunsthauses in Aarau klingt nach Provokation oder mindestens nach extremer Gegensätzlichkeit. Doch der erste Blick auf den vielleicht befremdlichen Titel täuscht. Die beiden in der Präsentation fein säuberlich getrennten Ausstellungsteile erschliessen zwei Seiten der einen Sache – der Erotik als einer lebensbestimmenden Thematik, die sich durch die ganze bildende Kunst und auch durch die Sakralkunst zieht. Hans Schärer verstand unter „Madonna“ wohl nicht nur, aber auch Maria, die in der christlichen Ikonographie seit frühchristlicher Zeit eine wesentliche Rolle spielt. Der Künstler verwies in Gesprächen denn auch oft auf das byzantinische Marien-Mosaik in Kirche Santa Maria Assunta in Torcello bei Venedig, das die hieratisch starre blaue Gestalt im Goldhimmel der Apsis-Kalotte schweben lässt. Schärers Bildfindung, die er in weit über 100 zum Teil grossformatigen Ölmalereien formulierte, gilt aber in sehr viel umfassenderem Sinn der archaisch anmutenden Vorstellung jener Ur-Frau, die den Menschen seit jeher als faszinierendes und fesselndes, aber oft zugleich als bedrohliches und besitzergreifendes Wesen gegenübertritt.

 

 

Zug ins Magische
Im intensiven persönlichen Erleben dieser Faszination liegt sicher auch der Grund dafür, dass Schärer das Thema während so langer Zeit variierend abhandelte, dabei aber dem Grundschema stets treu blieb. Dieses an eine Ikone der Ostkirche gemahnende Grundschema der langen „Madonna“-Reihe: In einem hochrechteckigen Bildraum zeigt Hans Schärer vor meist einfarbigem und hellem Hintergrund eine hoch aufragende armlose Gestalt, die uns aus mandelförmigen, dunkel umrahmten Augen starr anblickt. Unter diesem Augenpaar findet sich, ebenso extrem akzentuiert, ein mit furchterregenden Zähnen besetzter Mund. Die Nase fehlt. Den Kopf umrahmt ein dunkler Schleier oder dunkles Haar. Auf der Brust sitzt ein Mal in der Form einer Vagina. Mitunter deuten konzentrische Kreise oder Spiralen die Brüste an, die wie Reliefs plastisch hervortreten können. Immer wieder arbeitete Hans Schärer, was er an Materialien um sich fand, in die oft während mehreren Jahren stets erneut in pastosen Schichten übermalten Bilder ein: Haare, Textilien, Muscheln, Steine, Nägel, Farbtuben. Das alles gibt diesen Werken ein archaisch anmutende rohes Aussehen und zugleich einen Zug ins Magische. Mitunter wurde Hans Schärer wegen dieser sehr eigenständigen und sich allen Kunstströmungen verweigernden Ausdrucksweise vor allem von Interpreten, die ihn nicht persönlich kannten, als eine Art Kuriosität in die Nähe des Art brut oder einer Aussenseiter-Kunst gerückt (so an der Biennale Venedig 2013). Doch das ist ein Missverständnis. Mit ihm lässt sich dem Werk des gebildeten und breit interessierten Künstlers kaum beikommen, der sich einer weit gefächerten künstlerischen Klaviatur bediente und auch mit Texten, mit comic-ähnlichen Zeichnungen, mit Klavierspiel und mit selbst komponierten kleinen Musikstücken zu überraschen wusste.
Kunsthaus-Direktorin Madeleine Schuppli reiht die über 100 „Madonna“-Bilder Hans Schärers in einer langen Folge auf. Das lässt die Besucher einerseits Vielfalt und Variantenreichtum der Arbeiten, andererseits aber auch die Macht des einmal gefundenen Bildtypus erleben. So wird deutlich, dass sich nicht nur Hans Schärer in einer Art Obsession dieses Themas annahm, sondern dass auch die Figur des Ur-Weiblichen von ihm so sehr Besitz ergriff, dass er sich kaum entziehen konnte. Dazu fügt sich der Umstand, dass der Künstler seine Bilder nicht nur oft nach Jahren übermalte, sondern sie auch, als sollte ihre Kraft gebannt werden, mit Brettern vernagelte oder im Garten vergrub.

 

 

Das Satyrspiel
Die Erotik der „Madonna“-Bilder trägt in ihrer Ambivalenz – die Konturen der Halbfiguren lassen sich durchaus auch als phallisch interpretieren – und in ihrer unvermittelten Direktheit und Härte dramatische Züge. Was der Künstler in den im gleichen Zeitraum geschaffenen „Erotischen Aquarellen“ vor Augen führt, wirkt wie ein die Tragödie karikierendes Satyrspiel. Die sorgfältig ausgefertigten Aquarelle sind schön komponiert und von erlesener Farbigkeit. Diesen formalen Aspekten widerspricht aber eine oft mit ganz direkten Derbheiten spielende Inhaltlichkeit der Blätter, die von Sarkasmus, Groteske und böser Ironie nur so sprühen. Zu sehen sind drastischste sexuelle Szenen – Frauen mit prallen Brüsten mit überdimensionierten blutroten Brustwarzen und mit breit ausladenden Gesässen, mit fletschendem Gebiss und langen Zungen. Sie masturbieren oder spielen unter grellem Gelächter mit riesigen Penisse, die sie handkehrum devot verehren. Und der Mann? Ihm bleibt in diesen Orgien der Lust nur die Rolle des ohnmächtigen und mickrigen kleinen Wichtes oder auch einmal des Dompteurs in einem von Hohngelächter erfüllten Zirkus.
Zur Ausstellung erschien in den Edizioni Periferia in Luzern eine Publikation mit zahlreichen Abbildungen sowie mit Texten von Madeleine Schuppli, Elisabeth Bronfen und Max Christian Graeff sowie mit einem Interview mit dem Künstler Ugo Rondinone, der selber eine “Madonna“ Hans Schärers besitzt.
Aargauer Kunsthaus Aarau
Bis 2. August. www.aargauerkunsthaus.ch
Die Ausstellung wird später in reduzierter Form
im Swiss Institute in New York gezeigt.

 

 

Hans Schärer
1927 wird Hans Schärer in eine Berner Arzt-Familie geboren. Ab 1945 Besuch einer Handelsschule in Lausanne. Um 1947 Abbruch der Schule und Hinwendung zur Malerei. Aufenthalte im Süden Frankreichs und in Paris. Es entstehen Porträts, Genreszenen, Landschaften sowie Gedichte. Gleichzeitig widmet sich der Künstler dem Klavierspiel, teils mit eigenen Kompositionen. 1956 Heirat mit der Luzerner Künstlerin Marion Bucher und Wohnsitznahme in St. Niklausen bei Luzern. Bald erste Einzelausstellungen sowie Preise. 1969 entwickelt er aus einem während zwei Jahren bearbeiteten Porträt den Bildtypus der „Madonna“. Bis 1984 entstehen weit über 100 Werke dieser Gruppe in Öl und Mischtechnik. 1982 zeigt das Kunsthaus Aarau eine Retrospektive über sein Schaffen. Danach widmet sich Hans Schärer in oft paradox-absurd anmutenden, zwischen Zeichnung und Malerei oszillierenden Werken von hintersinnigem Charakter dem Rummelplatz des Lebens» (Beat Wismer). 1997 stirbt Hans Schärer in St. Niklausen.
2001 erscheint im Verlag Martin Wallimann, Alpnach, das Buch «Weiss kommt von Wissen» mit Gedichten Hans Schärers. 2004 publizieren die Edizioni Periferia Luzern im Faksimile Hans Schärers «Stundenbuch» mit Ideenskizzen, Bilder und Texten aus der Zeit von 1960 bis 1960. Der von Beat Wismer herausgegebene Begleitband enthält Texte von Ursula Pia Jauch, Beat Wismer, Bruno Steiger und Niklaus Schärer sowie eine ausführliche Bibliographie.

 

 

 

 

Kunstmuseum Luzern


«Diamonds Always Come in Small Packages»

 
Von Niklaus Oberholzer


17 Künstlerinnen und Künstler oder Künstlerpaare – manche mit Luzern verbunden, manche auch international in Ausstellungen präsent – lud Direktorin Fanni Fetzer zur Sommerausstellung ins Kunstmuseum Luzern. Der Titel der Sommerausstellung ist poetisch und (fast zu) vieldeutig: «Diamonds Always Come in Small Packages».

 
Alicja Kwade, 1979 geborene deutsche Künstlerin polnischer Abstammung, suchten in den Strassen Berlins 100 unscheinbare Kieselsteine und liess sie in Diamanten-Manier schleifen – so, dass der Materialverlust möglichst gering blieb. Nun liegen diese Steine und Steinchen in einem abgedunkelten Museumsraum unter gleissendem Licht, das ihre Facetten je nach Einfallswinkel des Blicks zum Glitzern und Leuchten bringt. Wer hätte sich ausgemalt, wie sehr der perfekte Schliff das Schlichte und Einfache höchst prezios erscheinen lässt! Alicja Kwade, Meisterin der kleinen Gesten und des Unscheinbar-Kostbaren, bringt, was Fanni Fetzer im Kunstmuseum Luzern mit «Diamonds Always Come in Small Packages» anpeilt, auf den Punkt: Besucherinnen und Besucher sollen nicht mit dem Lauten geweckt oder mit grossem Auftrumpfen überrascht, sondern mit feinen Zwischentönen und bisweilen mit dem kaum noch Wahrnehmbaren zu genauem Hinsehen verleitet werden. Auch oder gerade darin kann das Fruchtbare und Bereichernde der Begegnung mit Kunst liegen.

 
Unscharfe Ränder
Fanni Fetzers Konzept lässt sich weniger durch strikte Klarheit und einen stringenten theoretischen Unterbau charakterisieren; vielmehr zeichnen Spontaneität und wohl auch ein gewisses Mass an Emotionalität die Künstler-Wahl aus. „Harte“ Kriterien sind kaum auszumachen, weder was Dimensionen, Materialien oder Techniken betrifft. Übereinstimmungen gibt es am ehesten in künstlerischen Grundhaltungen. Die Ränder des Unternehmens sind damit naturgemäss eher unscharf. Die nüchternen Luzerner Museumsräume könnten auch sehr viel anderes als das nun in der Ausstellung Gezeigte aufnehmen. Die Frage allerdings, warum denn dieses und nicht jenes Eingang gefunden hat, liesse sich bei fast jeder thematischen Schau stellen. Sie bleibt auch in diesem Falle insofern müssig, als letztlich jene Qualitäten der Kunst zählen, welche den Besuch der Ausstellung zum abwechslungsreichen und vergnüglichen, hier sommerlich-leichten, dort aber auch zu intensiverem Nachdenken anregenden Unternehmen werden lassen. Das ist Fanni Fetzer jedenfalls gelungen.

 

«Mikrodramen»
Natürlich lassen sich die 17 gezeigten Positionen unterschiedlich bewerten. Manch ein Raum ermöglicht aber fraglos wertvolle Einsichten in Vorgehensweisen und Strategien zeitgenössischer Kunst. Ein Beispiel, das auf subtile Weise grundsätzliche Wahrnehmungsfragen stellt, sind die «Mikrodramen» der 1970 geborenen Luzernerin Susanne Hofer. Den Titel entlehnt die Künstlerin von Wolfgang Bauer. Der österreichische Dramatiker entwarf in den 1960er Jahren in ganz kurzen Szenen absurde Situationen. Susanne Hofer präsentiert in der Ausstellung eine ganze Reihe kleiner Videos. Erst bei genauem Hinsehen entdeckt man in den vorerst völlig „normal“ erscheinenden schönen Bildern Irreales oder Phantastisches: Der Wind bewegt die Blätter des Baumes, doch der Schatten bleibt starr. Durch einen sonnenbeschienene Strassenzug wandert ein Schatten, doch fehlt der dazu gehörende Mensch. Die Blätter von vier Palmen am Meeresstrand bewegen sich sachte und ruhig, während eine fünfte Palme nervös zittert.

 
Ein anderes Beispiel, das Fragen zur Rolle des Betrachters stellt, ist die Installation «The Park» des 1946 geborenen Japaners Kohei Yoshiyuki, der in den 1970er Jahren in Parks von Tokio nächtliche Liebesszenen fotografierte und häufig gleich noch Voyeure mit ins Bild brachte. Es bleibt aber nicht dabei: Der Fotograf klassiert sich selber ebenso als Voyeur, und mit einem Kunstgriff macht er auch uns Ausstellungsbesucher zu Voyeuren: Er präsentiert die Fotos in einem nachtschwarzen Raum und lässt uns mit Taschenlampen in den Händen nach den Motiven suchen.

 
Gärungsprozesse
Den Pfad des Unscheinbaren und der kleinen Geste verlassen hat Daniel Robert Hunziker (geboren1965), der den ersten Museumsraum mit riesigen kubischen Skulpturen ausstattet, die er mit schwarzen Plastikbahnen, wie man sie von der Verpackungsindustrie her kennt, umhüllt, mit „armem“ Verbrauchsmaterial also. Die «Small Packages» des Titels werden damit gleich zu Beginn der Ausstellung ironisch in einen völlig anderen Kontext transferiert. Und gar nicht bescheiden geben sich Adrian Rast und Valentin Beck, beides letztjährige Absolventen der Luzerner Hochschule Gestaltung & Kunst. Ihre Installation «EIN’MACH’ENDE: in Gärung geraten» ist ein mit Hunderten von Einmachgläsern gefülltes Labor der Lebensmittel-Konservierung durch Gärungsprozesse. Die Besucherinnen und Besucher sind eingeladen, Einmachgläser zu erwerben oder gegen zu verarbeitende Lebensmittel einzutauschen. Hinter dem höchst aufwändigen Unternehmen stehen natürlich ein (ernährungs-)politischer Imperativ im Kampf gegen Überfluss und Wegwerf-Mentalität und der Versuch, in der Kunst Analogien zu gesellschaftlichen (Gärungs-)Prozessen wirksam werden zu lassen. Die Künstler wollen häufig anwesend sein, um Neugierige mit Eloquenz in die behutsamen Verwandlungsprozesse einzuweihen.

 
Minuten-Skulpturen
Kunst als laute Materialschlacht ist nicht Sache des Konzeptes dieser Ausstellung. Dazu passt auch die 1970 geborene Engländerin Clare Kenny, die die Köpfe von zehn gewöhnlichen Eisennägeln mit feinen Ziselierungen versah. Man nimmt die Ritzungen erst wahr, wenn man sehr genau hinsieht. Natürlich darf auch der 1954 geborene Österreicher Erwin Wurm nicht fehlen. Fanni Fetzer hielt aber nicht nach seinen aufsehenerregenden und auftrumpfenden Grossskulpturen Ausschau, sondern nach dem Beiläufig-Kleinen, nach den «Minuten-Skulpturen»: Der humorvolle und für manchen Hintersinn gute Künstler leitet die Besucherinnen und Besucher mittels witziger kleiner Zeichnungen an, mit dem eigenen Körper und mit zur Verfügung gestellten Gegenständen Skulpturen von begrenzter Dauer zu schaffen. Mit einfachsten Mitteln gibt er der Frage der Partizipation und der Öffnung der Kunst gegenüber dem Publikum einen kräftigen neuen Schub.

 
Weiter sind in der Ausstellung vertreten: Elmgreen & Dragset, Swantje La Moutte, Esther Meier-Ringger, Eva Zwimper, Edith Oderbolz, Marcus Coates, Gitte Schäfer, Loredana Sperini, John Wood/Paul Harrison und Michiro Tokushige. Sinnvoll ergänzen wunderbare Gegenstände sakraler Volkskultur – Altärchen, Rosenkränze, Reliquientafeln – die Ausstellung. Sie stammen aus einer Luzerner Privatsammlung. Meist haben wohl Klosterfrauen bescheidene und einfachste Materialien in höchst kunstvoll-kostbare Andachts-Objekte verwandelt.
Bis 11. 10.2015. www.kunstmuseumluzern.ch

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