Olga Martynova
Olga Martynova, *1962, Lyrikerin, Essayistin und Übersetzerin, in Leningrad aufgewachsen, lebt seit 1991 Frankfurt a.M., gewann für ihren Text der Initiation eines jungen Mannes den Ingeborg-Bachmann-Preis 2012.
«ICH WERDE SAGEN: „HI!“»
Von Olga Martynova
1.
Ich werde sagen: „Hi…“, dachte Moritz.
Ein dunkles Mädchen. Schwarze Fischchenkontur um jedes Auge. Schweres Haar hinter den Ohren. Pony bis zur Mitte der Stirn. Der Hals ist etwas kurz geraten, sodass die Schultern unsicher hochgezogen scheinen und das Lächeln ebenso unsicher wirkt. Gelenke schmal, Arm- und Knöchelreifen bunt –
Moritz zerlegte das Bild in Einzelteile, um es besser festhalten zu können: Ein unsichtbares Mädchen, das über die Straßen des Städtchens lief, in dem Tante Anita lebte. Tante Anita ging die Treppe herunter, öffnete die Tür in den Garten, um die warme und stickige Blütenluft ins kühle Haus zu lassen, und legte ein Blatt Papier vor Moritz auf den Küchentisch: „Sag mal, was besser ist: ‚Sie’ oder ‚Du’? Wir führen ein neues Produkt ein (coproduction mit unserem amerikanischen Partner). Ich muss die Übersetzung für den Flyer freigeben.“ Moritz las den Text und sagte: „Mach ‚Du’. Das ist vertraulicher“. Anita las vor, bei jedem “Du” oder “Sie” zeichnete sie sich ein Luftkomma hinter das Ohr, um eine akazienhonigfarbene Haarsträhne zu richten:
„Wer kennt das nicht: Ein Kollege mit Mundgeruch macht den Büroalltag zur Qual. Eine zu laut sprechende Mitfahrerin im Zug verdirbt die Urlaubsvorfreude. Noch schlimmer ist es, wenn Sie (wenn du) im engen Freundeskreis oder gar in der eigenen Familie eine Person nicht leiden kannst. Man muss das ändern. Aber wie? Es liegt an IHNEN (an DIR). Du musst lernen, deinen Nächsten zu akzeptieren (sag mal, vielleicht besser: ‚deinen Nächsten zu lieben’?). Wir bieten ein Training für Menschen, die ihre Antipathien und Aversionen endlich überwinden möchten. Diskret und zuverlässig. Überzeugen Sie sich selbst: Sie werden ein glücklicherer Mensch!
Ich weiß nicht, ich werde den Chef fragen. Oder den Pfarrer, er wollte den Flyer in der Kirche auslegen. OK. Was wirst du heute machen?“, sagte Anita.
„Ich nehme das Rad und fahre in die Stadt. Eis essen und so“, sagte Moritz.
Er dachte wieder an das unsichtbare dunkle Mädchen, weil erstens ein gleiches, aber sichtbares, ihm eben sein Eis verkauft hatte. Das Mädchen war aus dem lichtlosen Schlauch der Eisdiele hinter der riesigen Wasserfarbenbox der von der Sonne beleuchteten Eistheke erschienen. In einem breit gestreiften Sommerkleid, in jedem Streifen ein Muster aus Vogelflügeln und -köpfen. Und zweitens, weil er mit dem Eis in der Hand vor der Gedenktafel stand, die erzählte, dass in diesem Haus vor hundertfünfunddreißig Jahren ein Kunst- und Kulturliebhaberverein gegründet worden sei, mit der Absicht, eine altägyptische Mumie für die hiesige historische Kunstsammlung zu erwerben. Leider sei die erfolgreich aus einem fernen Land herbeigeschaffte und dem „Natur- und Kunstmuseum“ anvertraute Mumie später den alliierten Bomben zum Opfer gefallen.
Man kann auch zweimal am Tag Eis essen, oder? Die Ähnlichkeit des Eis-Mädchens mit Figuren auf altägyptischen Sarkophagen ließ Moritz nicht los. Das unsichere Lächeln. Kleine, runde Ohren vor dem Haar, das schwarz ist und glänzt wie die frisch gefirnissten Fachwerkbalken am Haus mit der Tafel. Ein leichter Vogelknochenkörper, der einer Pharaonentochter womöglich, der Jahrtausende überdauert hatte, um im barbarischen Norden mit Himmelsfeuer bis zum endgültigen Verschwinden bespuckt zu werden. Ich nehme eine andere Sorte, ich werde sagen: „Hi, das Eis war …“ Nein, das ist blöd, ich werde sagen: „Hi…“
Das Fachwerkhaus mit seinen Inschriften und Schnitzereien war im Frühjahr fünfundvierzig als einziges auf diesem Platz heil geblieben und glich nun einem alten Zahn zwischen frischen Kronen und Brücken, dachte Moritz unter dem Eindruck des Abendbrots vom Vortag, das von einem munteren Tischgespräch über Kronen und Brücken begleitet worden war, weil Tante Anita und Onkel Robert anlässlich Onkel Roberts neuer Zähne Meinungsverschiedenheiten hatten. Es war im späten Mittelalter ein Apotheker-Haus, eines der prächtigsten Gebäude des Städtchens, und heute ein Museum. Da war auch der Raum zu besichtigen, in dem die feierliche Auswicklung stattgefunden hatte, geleitet von einem angesehenen Ägyptologen. Die
in den Leinenschichten gefundenen Ölfläschchen, Fayenceperlen und Mistkäfer aus Türkis waren in der Bombennacht ebenso vernichtet worden. Auch die Papyrusrollen mit einem Unterweltführer, mit den Namen der Unterweltrichter und mit den Rechtfertigungsworten, die das Mädchen vor ihnen zu sagen hatte.
2.
Es war einmal ein kleiner Moritz, dachte Moritz, als er die matten, dichten und rosa-grün gestreiften Strümpfe seiner Tante sah. Eines Tages, dachte Moritz, sah der kleine Moritz die golden gleißenden hauchdünnen Strümpfe seiner Tante Anita. Wie alt war er? – Nicht viel älter als vier. Das Gefunkel stimmte ihn fröhlich, er lachte und klatschte und schmiegte sich an ihr Bein. Die Oberfläche erwies sich als unangenehm, feingrießig und kratzig. Anita lachte, wodurch die Muskeln ihres Beines fester wurden, und sagte zu Moritz’ Mutter, ihrer kleinen Schwester: „Strümpfe haben doch etwas an sich, was? Sie locken die Jungs einfach herbei, sogar die Knirpse.“ Die Begeisterung, die der Seidenglanz in ihm geweckt hatte, wurde ihm peinlich. Er fühlte sich angegriffen und gekränkt, ohne zu ahnen, warum sie lachte. Oder doch? Wie auch immer. Seitdem wich er Anitas Berührungen aus. Wohl aus Rache. Aber seine Aufmerksamkeit folgte ihrem Parfum, wie ein Straßenkater dem Selchwurstgeruch aus einer Einkaufstasche folgt, bis diese im Kofferraum verschwindet und anstelle des Kofferraums eine Auspuffwolke bleibt.
Die übliche erste Ferienwoche bei Anita und Robert begann gestern. Das hieß: tagsüber rumhängen, am Abend Bier mit Robert trinken, morgens die Wespen beobachten, die durch die offene Tür aus dem Garten zufliegen und am Frühstück teilhaben wollen, Anita sagen hören: „Scheißviecher! Passt auf!“. Die Holunderblüten riechen nach Sperma, Anitas Parfum riecht nach Kindheit.
„Da hatte ich keine Zeit für“, sagte Anita.
„Na, wenn man immer am Telefon hängt“, sagte Robert.
„Ich hänge nicht am Telefon“, sagte Anita.
„Und mit wem hast du gestern den ganzen Nachmittag telefoniert?“, sagte Robert.
„Na mit dir“, sagte Anita.
„Und warum war es besetzt?“, sagte Robert.
„Ich habe sonst nicht telefoniert“, sagte Anita.
„Und mit wem hast du gesprochen?“, sagte Robert.
„Mit dir, sage ich doch“, sagte Anita.
„Nein, warum bin ich nicht durchgekommen?“, sagte Robert.
„Ich habe nur mit dir gesprochen“, sagte Anita.
„Bring deinen grünen Anzug zur Reinigung“, sagte Anita.
„Du hast heute deine Tochter zu Mittag eingeladen, vergiss es nicht, und geht nicht in die ‚Blume’, sie lassen einen immer lange warten, geht ins ‚La Mama’ oder so“, sagte Anita.
„Nimm einen Regenschirm mit, sie haben gesagt, es wird heute regnen“, sagte Anita.
„Die Gartentür quietscht, sag Rami, er soll sie ölen“, sagte Anita.
Robert trank den letzten Schluck Kaffee, nahm das Paket mit dem grünen Anzug, griff einen Regenschirm und ging.
„Vergiss deinen Schnauzbart nicht“, sagte Moritz sehr leise.
Anita nahm das Telefon, wählte und ging nach oben. Je weiter sie sich entfernte, desto klangvoller war ihr Lachen.
Ein Austauschschüler aus Amerika, der vorhatte, creative writing zu studieren, hielt es für schick, mit der Hand auf Papier zu schreiben. Moritz hatte sich von dem knochigen Amerikaner mit kleinem blauem Hut auf einer unscharfen Menge eng geringelten Haars und mit verschiedengroßen Moleskin-Heftchen in der Hängetasche beeindrucken lassen: Obwohl ihm sein Vater ein iPad zum Geburtstag geschenkt hatte und ihn seitdem jedes Mal fragte, ob ihm das Ding gefalle, nahm er sein papierenes Notizbuch und schrieb sehr langsam, um die Notizen später entziffern zu können:
HÄTTE ADAM EVA GELIEBT, WÄRE NICHTS PASSIERT
Hätte Adam Eva geliebt, wäre nichts passiert. Aber Adam liebte Eva nicht. Sie war eine ihm vom Herrn gegebene Frau. So eine Frau, die alles mit einem teilt, die das Leben managt, sich kümmert. Eine Frau, die sagt: „Lass endlich mal dein Rad
reparieren!“ Man nimmt dann das Rad und bringt es in die Werkstatt. Oder sie sagt: „Du, nächste Woche hat Deine Kusine Anke Geburtstag. Wir müssen ihr einen Blumenstrauß schicken. Oder nein, eine Postkarte reicht, sie hat dir ja letztes Jahr auch nichts geschenkt. Schicken wir ihr eine Postkarte.“ Man nickt, und die Sache ist erledigt.
Hätte Adam Eva geliebt, hätte er anders reagiert, als sie ihm sagte: „Schau, eine Frucht. Schmeckt auch. Koste mal, hat mir ein Kerl von nebenan gegeben.“ Was tat Adam? Er kostete, klar, warum nicht. Er war nicht wählerisch und aß alles, was sie ihm auftischte.
Hätte Adam Eva geliebt, hätte er sich gefragt: „Von was für einem von nebenan bekommt meine Frau Geschenke?“
„Eva“, hätte er gesagt, „bring das Ding sofort zurück und sprich nie wieder mit dem Typen von nebenan.“ „Mensch,“ hätte Eva gesagt, „er ist so ein netter, ein Engel von einem Wurm!“ „WURM?!“, hätte Adam gesagt. Und er hätte den Feind erkannt und erschlagen.
„Wer schreiben will, muss lesen,“ hatte der Leiter einer Schülerschreibwerkstatt gesagt, „wer zum Beispiel die Bibel nicht gelesen hat, hat vieles verpasst, wer Fabulieren lernen will, kann es von der Bibel lernen“, und Moritz dachte damals, er habe zu wenig im Religionsunterricht mitbekommen, und begann das Buch zu lesen. Er las Genesis und Exodus und blieb in Levitikus stecken, Numeri waren nicht spannender, auch Deuteronomium nicht. Er las Kohelet und Hohes Lied und ließ es damit gut sein.
Moritz schlug sein Notizbuch zu und radelte in die Stadt, Eis essen. Nicht weit vom Fahrradständer ragte aus dem Katzenkopfpflaster der glatte schwarze Stein, dessen Inschrift er genauso gut kannte wie die Geschichte der Mumienfreunde: Es habe an dieser Stelle eine Synagoge gestanden, die es seit dem 9. November 1938 nicht mehr gebe, wobei die Beziehung der jüdischen und nichtjüdischen Stadtbürger ansonsten vorzüglich gewesen sei. Ich werde sagen: „Hi, was soll ich heute nehmen?“, nein, ich werde sagen: „Hi, wie heißt du?“ Nein, auch nicht, dachte Moritz.
3.
Heute war Anita früher weg als Robert. Enger Rock bis zur Kniemitte, enges kurzes Jackett, Stöckelschuhe, schwarze Strümpfe, das heute rote Haar hochgesteckt: Dienstag ist Anitas Bürotag. Ihr Chef hat fünf Sekretärinnen, eine für jeden Wochentag. Er wolle kein erschöpftes Arbeitsvieh sehen, sondern eine zufriedene, gebildete Frau, die aus Langeweile einen Tag in der Woche arbeitet, die ansonsten erwachsene Kinder und einen wohlhabenden Mann hat, dem sie zeigen will, dass sie Wichtigeres zu tun hat als ihm das Frühstücksbrötchen zu schmieren (so ungefähr hat Moritz’ Mutter das dargestellt). Sie ging, sagte nur noch, dass es zum Frühstück keine Gurken und Tomaten gebe, weil man nun kein rohes Gemüse essen dürfe, bis auf weiteres, so sei die Meldung des Robert-Koch-Instituts gewesen.
„Dr. Koch hat befohlen, alles zu kochen. Dr. Händewasch hat befohlen, vor dem Essen Hände zu waschen“, sagte Moritz.
„Die Gartentür quietscht, sag Rami, dass er sie ölt. Oder hast du schon?“, sagte Anita noch zu Robert.
Der Duft ihres Parfums mischte sich mit den Holunderblüten aus dem Garten.
Die Montagssekretärin hatte BWL studiert und ordnete die Papiere in diesem Sinne. Anita konnte Englisch, Spanisch und Französisch und war für Telefonate und Korrespondenz mit dem Ausland zuständig. Die vom Mittwoch war Altphilologin und verfasste eloquente Reden mit angeberischen Zitaten. Von der Donnerstagsdame wusste Moritz nicht mehr, was sie konnte. Die vom Freitag war eine Sportlerin und ihre Kompetenz war das Fitnessprogramm fürs Wochenende. Ein Arbeitsvieh gab es allerdings auch, das all das beherrschte plus jeden Tag den alltäglichen Kram erledigte. Sie hasste die anderen fünf und war in den Chef verliebt.
Robert tat seine Zeitung in den Papierkorb und las lächelnd die SMS, von denen er beim Frühstück gesagt hatte, sie seien von seinem Mobilfunkanbieter. Dann trank er den letzten Schluck Kaffee und sagte, immer noch woanders hin lächelnd: „Er spinnt,
Anitas Chef. Wir waren auf einer Betriebsfeier, keine Tischordnung, aber nach jedem Gang stehen alle auf und tauschen die Plätze: über Kreuz, die einen im Uhrzeigersinn, die anderen umgekehrt. Damit alle mit allen in Kontakt kommen. OK jetzt, ich muss los. Was machst du heute? Wenn du noch da bist, sag Rami von der Gartentür, dass sie quietscht“, sagte Robert und ging, an den Neffen seiner Frau mit jenem solidarischen Mitgefühl denkend, das erwachsene Männer für männliche Heranwachsende aufbringen.
Ich werde sagen: „Hi…“, dachte Moritz und stockte. Er sah die von Robert offen gelassene Gartentür und begriff, dass sie ihm den Weg versperrte. Würde er jetzt gehen, ohne Rami Bescheid zu geben, wäre ihm den ganzen Tag mulmig zumute. „Unrast und Unruh – und raus bist Du! Nein: Ohne Rast und ohne Ruh – und raus bist du!“, murmelte Moritz. Du Idiot, sagte er sich, niemand erwartet, dass du wartest, bis Rami mit seinem Rasenmäher kommt, niemanden interessiert die blöde Tür wirklich, außer dir.
Na gut. Vor hundertfünfunddreißig Jahren haben sich die Bewohner dieser Stadt gesagt: „Es ist eine Schande, dass wir in der ganzen Gegend (und wir sind nicht die Ärmsten!) keine altägyptische Mumie haben.“ Moritz nimmt sein iPhone (Stiefvaters Geschenk zum Geburtstag) und googelt, was sie damals alles anhatten: die Damen mit der ab der hohen Brust streng nach unten fallenden Körperlinie vorne und mit dem abstehenden Tournüre-Hintern, sodass sie im Stehen Stühlen ähnelten (der Hintern als Sitzfläche); die Herren in Gehrock und Melone. Die Stuhldamen und die Herren mit den Uhrkettenwasserfällchen an den Westentaschen (oder waren das Monokelketten?) gründeten also einen Verein, dessen Zweck das Sammeln der Mittel für den Erwerb einer Mumie war. Auch die aufgeklärten und emanzipierten Juden der Stadt unterstützten diese Idee mit reichlich Geld und Begeisterung. Passen sie in diese Geschichte? Gut, warum nicht, dachte Moritz, alle Menschen wurden Brüder.
Schade, dachte er außerdem, dass diese Geschichte nicht zur Zeit von E.T.A. Hoffmann passierte, was der alles daraus hätte machen können, halt, das wäre doch was für den nächsten Kurzdramenwettbewerb, dachte Moritz, und schrieb:
Handelnde Personen:
Mumie: ein Mädchen, fünfzehn, höchstens sechzehn Jahre alt. Mit großen Haselnussaugen (er strich die Haselnussaugen). Mit zu den Schläfen gezogenen Augen. Nein, auch das nicht.
Ach was, dachte Moritz, ich lasse für Rami einen Zettel da. Kann er Deutsch lesen? Und wie soll ich schreiben? „Sehr geehrter Herr Rami …“ Das ist doof. Wie ist denn der Nachname? Moritz öffnete und schloss die Gartentür und hörte zu, wie sie quietschte, während das Eis-Mädchen ihre Sachen packte, vom Geschrei der Geschwister genervt. Ihr Ferienjob war zu Ende, die Ferien noch nicht, drei Wochen Kopftuchtragen und zweimal Flugangst. Der Vater musste nur noch ein paar Rasen mähen.
4.
Moritz radelte einen Bach entlang, rosa-grün die blühenden Büsche, hechtgrau das Wasser, das alte Rad quietschte lauter als die Frösche und Heupferdchen. Ich werde sagen, dachte er, dachte aber gleich an das andere Mädchen: an das nur für ihn sichtbare, unsichere, unsichtbare.
Sie kommt in einem schmalen Kahn über einen grau glänzenden Bach, schmächtig, schüchtern, die Schultern hochgezogen. Ich werde sagen, denkt sie, wenn ich endlich vor dem Lichttor stehen werde: „Hi, ich kam über viele Wege …“ Sie kommt aus der Lichtlosigkeit und gelangt zum Tor, das offen ist, ihr aber den Weg versperrt, jetzt, wo sie fast am Ziel ihrer Fahrt ist. Ihr Herz schwimmt herauf und versperrt ihr den Atem, sie sagt trotzdem: „Hi, ich kam über viele Wege. Die Brote, die man mir auf den Weg mitgegeben hatte, damit ich nicht vergesse, was Hunger ist, wurden mir weggenommen. Der Wein, den man mir auf den Weg mitgegeben hatte, damit ich nicht vergesse, was Rausch ist, wurde mir weggenommen. Der Papyrus, den man mir für den Weg mitgegeben hatte, damit ich nicht vergesse, wie meine Richter heißen, wurde mir weggenommen. Der Schmuck, den man mir auf den Weg mitgegeben hatte, damit ich nicht vergesse, dass ich Königstochter bin, wurde mir weggenommen. Mein Bildnis, das man mir auf den Weg mitgegeben hatte, damit ich
nicht vergesse, wie ich aussehe, wurde mir weggenommen. Die Himmelsschlangen bespuckten mich. Aber mir wurde ein Schreiber geschickt, der mein Gesicht erkannte. Ich kann mich an die Namen der 11 Götter erinnern“ (sie stockt), „und an die der 42 Götter. Ich bin nicht schuldig.“ Das Tor entspannt seine Luftsperre und sie entkommt den Gassen des Städtchens, in das sie, als sie auf ihrem langen Weg zu ihren Richtern war, für die Kunst- und Kulturliebhaber verschleppt wurde.
5.
Moritz radelte in die Stadt, entschieden und entschlossen. Die Eisdiele war leer, aus dem länglichen Dunkel hinter der Wasserfarbentheke erschien eine fröhliche dicke Tante, die Moritz kannte, seit er denken konnte, und schaute ihn fragend an. „Äh“, sagte Moritz. „Grüß Gott“, sagte er und fuhr weiter. Sein Magen freute sich heimlich über das Ausbleiben des Eises.
6.
Die Mädchen, die einander gleichen, reihen sich die Museenwände entlang und lächeln unsicher, die Schultern hochgezogen, die Streifen ihrer Kleider sind mit den Namen ihrer Richter beschrieben. Und von uns bleibt nichts. Alle unsere Datenträger sind viel fragiler als Pergament, Papyrus und Papier, die schon viel anfälliger als Ton und Stein waren, dachte Moritz, stieg vom Rad und schrieb das auf, in sein Notizbuch mit grauem handgeschöpftem Papier.
7.
„Das ist eine Schande, sie hängen ihre Wäsche einfach auf den Balkons zum Trocknen auf und ihre Teppiche breiten sie auf den Gehsteigen zum Waschen aus, eine Balkanisierung unserer Städte ist das. Das ist es, eine Balkanisierung! Und sie klopfen ihre Läufer einfach aus dem Fenster aus!“ Mit dieser Kunde erschien Robert zum Abendbrot.
„Lass die Leute leben, wie sie wollen“, sagte Anita.
„Ich lasse sie leben, wie sie wollen, keine Frage, aber nur solange sie mit ihrem Leben das meine nicht stören“, sagte Robert.
„Was stören sie dich, du siehst sie kaum“, sagte Anita.
„Na eben! Ich fahre nur ungern in die Innenstadt, weil sie dort alles balkanisiert haben“, sagte Robert.
„Quatsch“, sagte Anita.
„Du musst mal mittags in die Stadt fahren und selber sehen“, sagte Robert.
„Da habe ich keine Zeit für“, sagte Anita.
„Na, wenn man immer am Telefon hängt“, sagte Robert.
„Ich hänge nicht am Telefon“, sagte Anita.
„Und mit wem hast du gesprochen?“ sagte Robert.
„Mit dir“, sagte Anita.
Nachts konnte Moritz nicht schlafen, weil ihm eine Geschichte einfiel, die weiterzudenken er nicht aufhören konnte, die aufzuschreiben er aber zu müde war:
Aus einem Fenster in der ersten Etage eines Innenstadthauses hängte ein Türke einen Läufer und begann ihn in weitschweifigen Bewegungen auszuschütteln.
Aus dem Fenster in der zweiten Etage desselben Hauses guckte ein Serbe heraus und hängte seinen schweißgetränkten Jogginganzug zum Lüften. Der Gestank strich um alle Gegenstände, die unvorsichtig draußen platziert worden waren, auch um die frisch gewaschenen Höschen, Büstenhalter und Unterhemden einer alten Bulgarin, die im dritten Stock einen Balkon besaß, wo ihre Unterwäsche zum Trocknen flatterte.
Ein Grieche aus dem vierten Stock goss die an der Brüstung seines französischen Fensters befestigten und von Dr. Koch untersagten Gurken- und Tomatenpflanzen. Das überflüssige Wasser strömte nach unten, und die Wäsche wurde wieder nass.
Ein Albaner darüber hängte aus dem kleinen Fensterchen seinen kleinen bunten Teppich, der ihn an seine kleine liebe Heimat erinnerte, und klopfte ihn aus.
Auf dem Außensims der Dachwohnung legte ein Ägypter schmale Papyrusstreifen zum Trocknen hin, die er mit bunten schakal- und pavianköpfigen Menschen bemalt
hatte, um sie am nächsten Tag auf dem Flohmarkt zu verkaufen. Am Rande jedes Streifens waren winzige Kähne mit Pharaonentöchtern gezeichnet, die in die taufeuchte Luft glitten und in der Ferne verschwanden. Der Ägypter dachte, die schlechte Farbe sei schuld, dass nach dem Trocknen keine Kähne mehr zu sehen waren, und schimpfte auf die deutschen Farbenhersteller.
Mein Onkel Robert wohnte im Erdgeschoss. Während er auf seiner Terrasse seine Guten-Morgen-Zigarette rauchte, wurde er zu dem nach Schweiß riechenden, begossenen Staubsack, der er bis heute geblieben ist, –
Oder ist „der er bis heute geblieben ist“ überflüssig? – dachte Moritz und schlief endlich ein.