FRONTPAGE

«In London gibt es die besten Inder»

Von Ingrid Schindler

 

Die Briten und ihre Inder: eine kulinarische Love Affair über Chicken Tikka Masala hinaus.

 

Die altehrwürdige Bibliothek heisst heute Cinnamon Club und ist ein vornehmer Inder. Bücher mit Lederrücken und Goldprägung stehen neben Rotwein-Magnumflaschen in den Regalen der Old Westminster Library. Der Barmann serviert „Cinnamon Bellini“ zum Apero, einen mit Zimtschnaps, -sirup, -tee, Kardamom und Wodka gemixten Prosecco. Die Houses of Parliamant befinden sich gleich um die Ecke, und heissgelaufene Politiker, Broker und Journalisten kühlen hier wochentags ihr Mütchen, bevor sie in den heiligen Hallen der Bibliothek indisch mondän dinieren. Mit Kaninchen mit Knoblauchchutney, Königskrabbe mit Tamarindensalat oder Kokos-Aubergine mit Curryblatt heizen die Zimtköche den Appetit richtig an. 18 kreative indische Köpfe stehen im Zimtclub am Herd, ihre Kunst ist furios und überwältigend, authentisch indisch ist sie nicht. Hirschrücken mit bengalischen Randen oder Wagyu Rindsfilet an Safransauce zählen zu ihren Starkreationen. Der Hirsch hat es 2009 gar zu nationaler Berühmtheit gebracht, als ihn das britische Restaurant Magazine zum „Besten Wildgericht in UK 2009“ gewählt hat. Beim klassischen Inder stünden viele Gerichte des Cinnamon Clubs nicht auf der Karte: „Hindus essen kein Rind, indische Moslems kein Schwein und Wild gibt es in Indien inzwischen selten“, meint Cinnamon-Chef Vivek Singh. „Wir interpretieren die indische Küche neu und verbinden sie mit modernen, französischen Kochtechniken, besserem Fleisch als in Indien und mit anderen, saisonalen und regionalen Zutaten“. Wobei er unter „regional“ salopp Frankreich, Norwegen oder Irland subsumiert. Das Ergebnis ist für ihn eine „New Indian Cuisine nach europäischem Format“.

 

Nationalgericht

Indisches Essen englisch abzuwandeln hat in Grossbritannien Tradition. „Viele britische Offiziere und Kolonialisten nahmen bei der Rückkehr aus Indien ihre Köche nach England mit“, sagt Singh. „Wer sich an Curries, Kebabs und Chutneys gewöhnt hatte, mochte nicht mehr fünfmal die Woche Fish’n’Chips essen.“ Im Lauf der Zeit entstanden anglo-indische Gerichte wie Kartoffel-Vindaloo, Jalfrezi, Mulligatawny Suppe oder Chicken Madras, die man so in Indien nicht kennt. Das berühmteste Beispiel ist Chicken Tikka Masala, das auf der Insel jeder als CTM kennt. Angeblich stammt das Pouletgericht von einem „eingeführten“ indischen Koch, der, wissend um die Vorliebe der Briten für dicke, pampige Saucen, Anfang der 60er Jahre erstmals die trockenen, im Tandoorofen gebackenen Pouletstücke mit indisch gewürzter Tomatensauce serviert habe. Wie auch immer, die Rezeptur kam an. CTM ist mittlerweile das bekannteste „indische“ Gericht der Welt. Es existiert in allen möglichen Variationen, von Burger, Sandwich, Pizza bis Pasta. Der frühere britische Aussenminister Robin Cook verlieh ihm 2001 gewissermassen den Rang eines britischen Nationalgerichts, indem er es zum perfekten Abbild eines gelungenen Multikulturalismus erklärte. Die BBC konstatierte im gleichen Jahr, CTM sei das beliebteste Gericht in UK. Überhaupt ist die indische Küche bei den Briten ausgesprochen populär. In praktisch jedem grösseren Ort Grossbritanniens gibt es einen „Inder“, insgesamt kommt man auf circa 14‘000 indische Restaurants, bangladeschische, pakistanische, lankanesische und nepalesische Restaurants inbegriffen. Epizentren der indischen Küche haben sich in Leicester/ Mittelengland, Southall im westlichen Greater London und mitten in der Stadt in Shoreditch im East End herausgebildet, wo sich seit den 50er Jahren vor allem Bengalen niedergelassen haben.

 

Banglatown

In dem einstigen Arbeiter-, Asylanten- und Ausländerviertel in Ost London findet man keine Edel-Inder wie den Cinnamon Club oder das Mint Leaf, an dessen coolen Catwalks und chicken Bollywood-Bars Mode-, Filme- und Theatermacher ihre Premieren und Kollektionen bei High-End Indian Food feiern. Im East End stehen auch keine Spitzenchefs aus der Upperclass am Tandoorofen, sondern einfache Köche aus Bangladesch, die Shoreditch zur quirligen Banglatown machten. Seit ein paar Jahren ist das Quartier mit den alten Backsteinfabriken und pittoresk-schäbigen Häuserzeilen bei Londons Kreativen hoch im Kurs. Shoreditch ist heute Szeneviertel, das nicht nur die Bangladeshis, sondern auch Londons Kreative mit ihren Ateliers, Designboutiquen, Galerien, Bars und Clubs bevölkern. Eine prickelnde, publikumswirksame Mischung. Verlockender und anregender kann der Duft des Orients in Westeuropa schwer sein als auf dem sonntäglichen Vintage Upmarket in der ehemaligen Old Truman Brewery, wo sich die kulinarischen Spezialitäten des Empire mit Shabby Chic, verrückten Klamotten, frechen Designermöbeln, Second-Hand-Trash und anderem mischen. Hier findet jeder etwas nach seinem Geschmack. Die Schlagader des bunten Quartiers zwischen den gefeierten East End Galerien Whitechapel und Whitecube bildet die Brick Lane. Die Ziegelstrasse ist Londons indisch-bengalische Fressmeile. Ein Inder reiht sich an den anderen. An jeder Hausecke, Tür und Vitrine prangen inflationär Aufkleber mit Awards: „Best Bengali Food in town“, „Best Curry in UK“, „Best Tandoori Chicken in London“ und natürlich das ultimative Chicken Tikka Masala. Worin das Erfolgsrezept von Chicken Tikka Masala besteht, wollen wir von Alfred Prasad, einem Spitzenkoch aus Südindien wissen. „Die Sauce ist cremig, vergleichsweise mild und mit Knoblauch, Ingwer und Chili gewürzt, genau wie es die Briten lieben“, erklärt der Küchenchef des Tamarind, das als erstes indisches Restaurant der Welt 2001 einen Michelinstern erhalten hat. Das Tamarind liegt fern von Banglatown im vornehmen Londoner Viertel Mayfair. Hier shoppen feine Damen und treffen sich Gentlemen zum High Tea. Der Buckingham Palace ist nicht weit. Das Interieur des Tamarind ist so gar nicht stylish wie das der indischen Szene-Lokale, sondern gediegen, fast bescheiden. Dafür bietet es authentische indische Küche vom Allerfeinsten.
 

Sterneküche

„Murgh Makhni heisst das indische Gericht, vom dem sich CTM ableitet“, erklärt Alfred Prasad und lässt uns das Original probieren: Pouletstücke in sämigem Curry, der aus frischen Tomaten, Ingwer, Kardamom, Honig, Rahm und reichlich Butter besteht. Kalorienreich, ausserirdisch, göttlich! Sämtliche Kostproben der „Signature dishes“ des Tamarind, wie das Okraschoten- und Kichererbsencurry, die Lamm-Kebabs, gegrillten Jakobsmuscheln oder der Seeteufel aus dem Tandoor, verhexen die Papillen und machen verrückt nach mehr. Prasad ist ein Magier, der Sterne vom Himmel kochen kann. Vier weitere Inder besitzen einen Michelinstern. Alle befinden sich in London, in Indien selbst gibt es noch keinen Michelinstern. Indian Food made in London sei sowieso am besten, ist Prasad überzeugt. Denn hier sei der Spielraum viel grösser und die indische Küche längst nicht so sehr in Traditionen erstarrt wie auf dem Subkontinent. „London ist das Mekka der World Cuisine, alles ist möglich, man bekommt alles an Zutaten, was man sich wünscht, und dazu eine ungeheure Inspiration durch die vielen anderen Ethno-Küchen auf hohem Niveau. Und das Publikum ist ungeheuer offen und tolerant.“ Anders als in Indien, findet er. Wir Schweizer hätten ja auch Glück, denn den ersten indischen Michelinstern ausserhalb Londons hat sich das Rasoi by Vineet im Mandarin Oriental in Genf geholt. Im Sommer kocht Prasad übrigens in Genf. Er arbeitet jedes Jahr drei Wochen lang als Gastkoch im Hotel d’Angleterrre. Auch dort kann man in Murgh Makhni schwelgen oder in den „spiced chickpeas“, mit Koriander, Tamarinde und Minzchutney gewürzten Kichererbsen, die Prasad mit Blaubeeren, Vollkornpops und süssem Joghurt serviert und den Schweizern, wie er meint, am besten schmecken.

 

Londons beste Inder

Indische Spitzenrestaurants: Cinnamon Club, Restaurant, Bar, Lounge mit Bollywoodfilmen, The Old Westminster Library, 30-32 Great Smith Streat, Tel. 020 72 22 25 55. New Indian Cuisine, angloindisch modern, auf hohem Niveau. Mint Leaf, Restaurant & Bar, Suffolk Place, Haymarket, Tel. 020 79 30 90 20. Sehr elegante, moderne, echte indische Küche, sensationelle Drinks, urban Chic, viele VIPs.Tamarind, Restaurant, Mayfair, 20 Queen Street, Tel. 020 76 29 3561. Exzellente, authentische indische Küche, zeitgemäss zubereitet, 1 Michelinstern. Weitere Inder in London mit Michelinstern: AmayaRasoi Vineet BhatiaQuilonBenares.

Tipps von Vivek Singh, Alfred Prasad u.a.: Masala Zone, 9 Marshall Street, Tel. 020 72 87 99 66. Gehobene indische Küche in modernem Industriedesign. Bombay Bicycle Club: u.a. in 128 Holland Park Avenue, Tel. 0207 727 7335. Pfiffiges indisches Take away mit Hauslieferservice und mehreren Restaurants. Khans13-15Westbourne Grove, Tel. 020 77 27 54 20. Beliebter, authentischer Inder mit Atmosphäre – trotz seiner Grösse. Chutney Mary, u.a. 535 Kings Road, Tel. 020 73 51 31 13. Restaurantkette mit gehobener indischer Küche. Brilliant Restaurant, 72-76 Western Road, Southall, Middlesex, Tel. 020 85 74 1928. Authentischer Inder in Londons Little Bombay. Veeraswamy, 99 Regent Street, Tel. 020 77 34 14 01. Erster Inder Londons, exzellente, traditionelle Palastküche.

Inder in der Brick Lane: Café Naz, zeitgemässe indische Küche mit Award, Aladin, wo schon Prince Charles Curry ass, The Shampan, mit Award als „Best Bengali Restaurant oft he Year (2009)“, Bengal Village, gemäss Evening Standard „Best Restaurant in Brick Lane 2009”, und sonntags: Old Truman Brewery, indisches und anderes asiatisches Streetfood.

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