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Inger-Maria Mahlke: »Unsereins – Im Lübeck zu Zeiten Thomas Manns»

Von Ingrid Schindler

Kabinettstücke, aus der Vogelperspektive angepeilt: Im Gesellschaftspanorama «Unsereins» zoomt Inger-Maria Mahlke in Lübecker Innnenräume und arbeitet Klassenunterschiede mit kühler Präzision und feiner Ironie heraus.

Ein Regentropfen schlägt wie ein Meteorit in eine norddeutsche Hansestadt ein: Inger-Maria Mahlke hat einen starken Einstieg für ihr Lübecker Gesellschaftspanorama aus der Zeit des Wilhelminischen Kaiserreichs gewählt. Der dritte Satz des Ende 2023 bei Rowohlt erschienenen Werks ist eine Anleitung, wie «Unsereins» zu lesen ist: «Wäre dies ein Film und wir die Zuschauer, die erste Einstellung wäre mit einer Drohne aus der Perspektive eines Regentropfens gedreht: als würden wir durch seine vom Luftwiderstand abgeflachte Seite auf die Erde herabblicken.»

 

Ein neuer Lübeck-Roman
Die 1977 in Hamburg geborene, in Lübeck und auf Teneriffa aufgewachsene Inger-Maria Mahlke ist seit ihrem 30. Lebensjahr Schriftstellerin. Sie liefert grosse Literatur und streicht einen renommierten Preis nach dem anderen ein. Zum Glück, denn leben kann die fleissig schreibende Juristin, die sich in Herta Müllers Autorenwerkstatt erste Sporen verdient hat, von den Buchverkäufen nicht. Aber die Literaturkritik ist sich offenbar einig: Mahlke gilt als eine der ganz Grossen der deutschen Gegenwartsliteratur.
Dem Publikum macht es die Buchpreisträgerin («Archipel», 2018) nicht leicht. Sie liest sich nicht wie geschmiert, liefert kein Fastfood und wagt sich nun auch noch an den berühmtesten deutschen Gesellschaftsroman heran. «Unsereins» ist eine Underdog-Version, für manche ein Gegenentwurf der «Buddenbrooks» von Thomas Mann (1901). Mahlke entwirft darin wie Thomas Mann ein buntes Lübecker Gesellschaftstableau. Es spielt, in 15 Kapiteln und zahlreiche Einzelbildern eingeteilt, in den Jahren 1890 bis 1906, als der berühmte Lübecker Nobelpreisträger noch ein junger Mann war.

 

Fragen der Klassenzugehörigkeit
Mit gerade mal 500 Seiten ist «Unsereins» knapp halb so dick wie die «Buddenbrooks». Dennoch macht der Roman selbst dem geneigten Leser und profunden Kenner des Mann’schen Lübeck-Kosmos mitunter Mühe durchzuhalten. Obgleich ihn die Kraft der zurückhaltend-spröden Sprache lesenswert machen. Etwa in Szenen wie dieser, in der es um das grosse Thema der Klassenzugehörigkeit geht, auf das der Titel anspielt: «Und von einem gesellschaftlichen Besuch der Steinbrücks (…) ist der Schilling’sche Haushalt, Charlies Einschätzung nach, unzählige Besuche, mehrere Dutzend Bälle, eine mittelgrosse Erbschaft und die sagenhafte Partie von einer der Töchter – nach Möglichkeit mit einem Mitglied des niederen Adels – weit entfernt.» Ein klarer Verweis in bzw. auf die gesellschaftlichen Ränge. Eindeutig auch deshalb, weil Mahlke immer wieder zu Mitteln der Verunsicherung greift; sie stellt infrage und verwendet Konditional, Konjunktiv oder Futur. Man beachte: Charlie ist Lohndiener, Senator Steinbrück repräsentiert die Oberschicht und Schilling verkörpert als Wasserbaudirektor den Mittelstand. Letzterer ist um die Einführung moderner Wasserclosetts und die Nutzung menschlicher Exkremente als Dünger stets bemüht. Derselbe Schilling auch, der geschwängerte Dienstmädchen ins Wasser treibt. Von Missbrauch kein Wort und doch ist alles gesagt.
Ein anderes gelungenes Beispiel an stilistischer Verknappung und staubtrocken ironischer Nüchternheit bietet die Beschreibung des Falls der gutbürgerlichen Familie Stuermann. Insbesondere Ida Stuermanns, die von der Kaufmannstochter zum Dienstmädchen absteigt. Dies veranschaulicht Mahlke, indem sie Lübecker Volkszählungsstatistiken aus den Jahren 1870, 1880, 1892 und 1890 zitiert, die Wohnort, Wohnung, Bauweise, Anzahl der Zimmer, Ausstattung, Lage sowie die Namen der Haushaltsmitglieder mit Beruf und Konfession aufführen.
Ida landet aufgrund eines tragischen wie dummen Unfalls ihres Vaters als Bedienstete im grossbürgerlichen Haushalt von Senator Dr. Lindhorst «und versucht zu akzeptieren, dass sie Besen und Kehrschaufel von unten holen muss.» Sie als Heldin des Romans zu bezeichnen, wäre übertrieben, obwohl sie zu den tragenden Figuren gehört. «Ich werde nicht in Diensten sterben» hämmert sie in die Tasten ihrer Schreibmaschine, die sie aus der Dienstbarkeit befreien soll.

 

Zu stolz für Normalos: Tomy, der Pfau
In «Unsereins» gibt es keine klar auszumachenden Protagonisten und keine «richtige» Handlung. Stattdessen reiht Mahlke ein Einzelbild ans andere und lässt einen verwirrend breit gefächerten Personalreigen auftreten. Neben fiktiven Figuren fliessen reale historische Personen wie Thomas Mann, dessen Freund Otto Grautoff oder Franziska von Reventlow in das Zeitgeschehen ein.
Zwischen Mahlkes Sittengemälde und Manns «Buddenbrooks», die den Niedergang einer grossbürgerlichen Lübecker Kaufmannsfamilie im 19. Jahrhundert zum Inhalt haben, gibt es jede Menge Bezugspunkte. Man kann sogar behaupten, das neue Lübeck-Kaleidoskop präsentiert sich als Schlüsselroman des alten Schlüsselromans. Fragte sich bei den «Buddenbrooks» ganz Lübeck, welche realen Personen hinter den Romanfiguren stecken, lohnt sich wiederum bei «Unsereins» die Suche nach Bezügen zu den «Buddenbrooks». Thomas Mann ist unschwer in «Tomy, der Pfau» auszumachen, der durch die Hansestadt stolziert und sich für die Vergnügungen seiner Mitschüler in der Badeanstalt geniert. Hinter Keitel, dem «berühmtesten Dichter aller Zeiten», verbirgt sich der Lübecker Dichter Emanuel Geibel. Senator Lindhorst referiert auf die Buddenbrook-Personalie Dr. Moritz Hagenström, die sich am realen Emil Ferdinand Fehling orientiert, usw. usf.

 

Kabinettstücke der Nahbetrachtung
Anders als Thomas Mann stellt Mahlke vor allem die kleinen Leute in den Fokus. Es sind die Dienstmädchen, Ratsdiener, Fuhrunternehmer, Köchinnen, die die Schriftstellerin interessieren, neben aufstrebenden Sozialdemokraten, Mittelschichtssprösslingen und mutigen, fortschrittlichen Frauen. Politische Verwerfungen und antisemitische Strömungen treten zutage.
Der Name der Stadt Lübeck, in der die Autorin ihr Personalkarrussell kreisen lässt, fällt nicht. Der backsteinrote, mittelalterfarbene Fleck, wie er sich in der Drohnenperspektive zeigt, wird konstant als «kleinster Staat des Deutschen Reiches und seine älteste Republik» im Text geführt. Wobei beides nicht korrekt sei, wie die Hanseatin schelmisch Ratsdiener Isenhagen erklären lässt. Genau genommen handle es sich um den zweitkleinsten Staat, aber das klinge so mickrig.
Der pointierte, bei aller scheinbaren Sachlichkeit immer wieder überraschende und humorvolle Be-Schreibstil, die detaillierten Schilderungen sowie der ständige Personal- und Perspektivenwechsel machen die Lektüre anspruchsvoll und verlangen Konzentration. Stellenweise wünschte man sich, die Autorin hielte den Leser leichter bei der Stange. Beim Wiederlesen entdeckt man zum Lohn immer mehr Bezüge, Tiefe und Ironie in diesem vielschichtigen, gründlich recherchierten Werk.

 

Anweisungen für Blinde und Regisseure
Die Dialoge, die Mahlke ihren Figuren in den Mund legt, zeichnen sich nicht durch Geschwätzigkeit aus. Die kurze Szene, in der Erasmus, der älteste Sohn der Lindhorsts, früher als sonst von der Schule heimkommt, ist ein Beleg für das sparsame Setzen von Worten: «Wieder Kopf?», fragt Ida. – «Hals.» Erasmus deutet auf seine Kehle. Seine Wangen sind gerötet, er sieht nicht nach Kopfschmerzen aus. Am Fuss des Treppenaufgangs zum zweiten Stock wendet er sich um. «Tee wäre hilfreich.» – Ida nickt.
Viele Stellen lesen sich wie ein Drehbuch, das zur Verfilmung drängt. Gesichtsausdruck, Gefühlslage, äussere Umstände, Wetter, Tageszeit und Umgebung der auftretenden Personen sind so präzise beschrieben, dass die Lektüre an Audiodeskriptionen, die akustischen Untertitel blindengerechter Hörfilme, denken lässt. Die Verwendung des Präsens als Erzählzeit verstärkt den filmischen Eindruck ebenso das Hineinzoomen ins Innenleben der Figuren und Interieurs.
So, wie sich eingangs ein Regentropfen der Erde, Ostelbien, der Trave und schliesslich dem «fingernagelgrossen, kleinsten Staat des Deutschen Reiches» nähert, dringt später die Nachricht von Bismarcks Rücktritt in die Stadt und nimmt der Informationsfluss vom Telegraphenbüro aus seinen Lauf. Zoom ist ein Stilmittel, das Mahlke immer wieder verwendet und zu speziellen Vergleichen verführt: «Überhaupt gleicht der kleinste Staat von oben mittlerweile einer zu voll gestopften Schweinsblase, bei der an vier Stellen die Farce herausquillt.»
Das Schlusskapitel wendet sich wie der Anfang an Regisseure in spe: «Und wäre dies das Ende eines Films, so würde die letzte Einstellung aus der Perspektive einer Drohne gedreht.» Auf einer unterlegten Tonspur hört man die Lindhorsts summen: «Schumann. Die Kinderlieder.» – Die «Kinderscenen» konzipierte Robert Schumann als Zyklus auf mehreren Ebenen verbundener, kleinerer Klavierstücke. Sie sollten ein harmonisch-bildhaftes Ganzes ergeben, das Erinnerungen und Rückspiegelungen an die Kindheit erlaube. Wie auch die zahlreichen Lübecker Lebensläufe zu einem umfassenden Tableau der wilhelministischen Ära verwoben sind. Dass sich daran weitere Schicksale knüpfen lassen könnten, kündigt der Schlusssatz schon mal an.

 

 
Inger-Maria Mahlke wuchs in Lübeck und auf Teneriffa auf, studierte Rechtswissenschaften an der FU Berlin und arbeitete dort am Lehrstuhl für Kriminologie. 2009 gewann sie den Berliner Open Mike. Ihr Debütroman «Silberfischchen» wurde ein Jahr später mit dem Klaus-Michael-Kühne-Preis ausgezeichnet. Für einen Auszug aus ihrem Roman «Rechnung offen» bekam sie beim Wettbewerb um den Ingeborg-Bachmann-Preis den Ernst-Willner-Preis zugesprochen; 2014 erhielt sie den Karl-Arnold-Preis der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste. Ihr Roman «Wie Ihr wollt» gelangte unter anderem auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises, den sie 2018 für den Roman «Archipel» erhielt.
 
 
Inger-Maria Mahlke
Unsereins

Roman

Rowohlt Verlag, Hamburg, 2023

Geb., 496 S., CHF 37.90

ISBN 978-3-498-00181-0

 

 

 

«Jessy Wellmer: Die neue Entfremdung. Ein Plädoyer für mehr Verständnis»

 
Die ARD-Tagesthemen-Moderatorin Jessy Wellmer ist gebürtige Ostdeutsche. In ihrem Sachbuch «Die neue Entfremdung» geht sie der Frage nach, warum Ost- und Westdeutschland seit Putins Krieg stärker auseinanderdriften und immer noch miteinander fremdeln. Ein notwendiges Plädoyer für mehr Verständnis für die da im Osten.

 

Jessy Wellmer ist ein Typ zum Pferdestehlen. Man kennt die Sportjournalistin und Moderatorin aus der Sportschau, dem ARD-Morgen-, ZDF-Mittagsmagazin und seit Herbst auch aus den Tagesthemen. Dass die  44-jährige nun ein Buch über «Die neue Entfremdung. Warum Ost- und Westdeutschland auseinanderdriften und was wir dagegen tun können» geschrieben hat, lässt manche Bundesbürger im Westen aufstöhnen. Nicht schon wieder. Was ist bloss mit den Ossis los? Das Thema Wende ist doch über 30 Jahre nach dem Mauerfall durch.

 

Alles Jammerlappen?
Man mag Klagen von Ossis über Wessis nicht mehr hören. Auch nicht, dass Höcke und die AfD in den neuen Ländern so zugkräftig sind, dass man für Remigration, Impfpflicht und Russlandsanktionen auf die Strasse geht, «Zecken verrecken» und «Ausländer raus» schreit und sich manche nach der alten DDR sehnen. Selbst Leute, denen es im Osten bestens gehe, litten an einem Kollektivunbehagen, schreibt Wellmer.
Man fragt sich, warum sind sie denn nicht zufrieden? Das Rentenniveau ist angeglichen, die Regale voll, die Meinung frei, die Grenzen offen, Strassen, Schulen und Häuser besser saniert als im Westen. Die Lohnschere klafft angesichts des Fachkräftemangels immer weniger auseinander. Unbesetzte Stellen, Platz zum Wohnen und tiefere Lebenshaltungskosten, das ist doch eigentlich attraktiv.
Warum also klagen? Ja, der Osten ist überaltert, aber ist daran die alte BRD schuld? In der ehemaligen Ostzone fühlt man sich abgehängt, als Bürger zweiter Klasse, von den (West-)Eliten gegängelt und fremd im eigenen Land. Aber bitte schön, hatten wir nicht 16 Jahre eine ostdeutsche Kanzlerin nebst einem Bundespräsidenten aus den neuen Ländern? Und es sind ja die Ossis selbst, die ihre Heimat verlassen.

 

Wendekind erklärt den Osten
Klar gibt es genügend Menschen, die rüber machten und im Westen arriviert sind. Wie Jessy Wellmer zum Beispiel. Die Nord-Ostdeutsche wurde 1979 in Güstrow/ Mecklenburg in eine Lehrerfamilie hineingeboren, die sich recht gut mit den Verhältnissen arrangierte. Als Neunjährige erlebte sie das Ende der DDR. In ihrer unbeschwerten Kindheit erschien ihr die DDR nicht als Unrechtsstaat, was sie in westlicher Optik war.
Nach dem Abitur und Studium machte Wellmer in der westdeutschen Medienlandschaft Karriere. Das Bild des Ostens bestimmten Westmedien, ist sie überzeugt. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk, alle grossen, überregionalen Tageszeitungen und wöchentlichen Qualitätspublikationen werden von Medienhäusern herausgegeben, deren Stammredaktionen in Hamburg, Köln, München und Berlin sitzen. Dabei entsteht zwangsläufig eine gewisse Schieflage, die Ossis häufiger als Problembürger erscheinen lasse als das Gegenteil. Dabei gäbe es den Ossi genauso wenig wie den Wessi, der Osten sei nicht weniger bunt und vielfältig wie der Westen, schreibt Wellmer in ihrem Buch.
Warum Jahrzehnte nach der Wende ein Teil der circa 15 Millionen Ostdeutschen* immer noch nicht in der Bundesrepublik heimisch sind, was das Gefühl des zurückgelassen Seins mit einem mache und wie man besser miteinander zurechtkäme, das sind Fragen, die Wellmer beschäftigen. Sie selbst hadert nicht im Geringsten mit ihrer Herkunft, ist beruflich im ganzen Land unterwegs und sowohl im Osten als auch Westen verankert. Sie lebt mit ihrem West-Mann, dem Journalisten und Biologen Sven Siebert, Tochter und Sohn in Berlin. Aufgrund ihrer positiven Erfahrungen im wiedervereinten Deutschland sieht sich die TV-Moderatorin prädestiniert für die Vermittlerrolle zwischen den beiden Polen.

 

Richtiges versus falsches System
Seit dem Einfall Russlands in die Ukraine ist eine Radikalisierung der Positionen in Lande zu beobachten. Ost und West driften auseinander, die Fronten verhärten sich, alte Gräben zwischen den neuen und alten Bundesländern tun sich auf. Verletzungen und Verunsicherungen, die Ostdeutsche nach der Wende erfahren haben, dringen wieder an die Oberfläche.
Alles bis dahin Vertraute und Selbstverständliche löste sich beim Zusammenbruch der DDR für ihre Bürger auf, so Wellmer. Sie beschreibt den Sturz der Werte und Wahrheiten bei der Friedlichen Revolution und den folgenden Heimat- und Identitätsverlust anschaulich und lebendig aus eigener Erfahrung sowie Erzählungen von Bekannten, Freunden und Interviewpartnern. Ohne moralischen Zeigefinger schildert sie, wie die Welt der Ossis damals zerbrach. Das liest sich spannend und weckt das Interesse des Lesers/ der Leserin, egal ob Ost, West oder ob des Themas genervt.
Die Loser- und Opferrolle, die der Osten nach der Anfangseuphorie übernahm, sei mit Beginn des Ukraine-Kriegs erneut sehr präsent geworden, ist Wellmers These. Einen der Gründe sieht sie darin, dass der freiheitlich-demokratische Westen für sich die moralische Deutungshoheit beansprucht, weil er das richtige System sei, wogegen die DDR wie Russland falsche Systeme wären. Weil man nachfühlen könne, wie es sich anfühlt, auf der falschen Seite zu stehen, die einst die richtige war, erleichtere das die Solidarisierung mit Russland. Die Haltung des Westens gewissermassen als Angriff auf die Ostidentität, weil man auf der falschen Seite stand.

 

Pferdestehlen mit Zonen-Jessy
Wellmer will nicht den Opferstatus untermauern und Wessis Vorhaltungen im Stile von «ihr arroganten, geldgierigen Kapitalisten habt uns kolonialisiert und ausgeplündert» machen. Im Gegenteil, hier geht es ums Aufbrechen verkrusteter Pauschal- und Vorurteile auf beiden Seiten und Hinterfragen von Aussagen wie «Früher war doch auch nicht nur alles schlecht» und Begriffen wie Ostscham oder Besserwessis.
Wellmers Thesen sind breit abgestützt; sie basieren nicht nur auf persönlichen Erfahrungen, sondern auch auf Zahlen, Fakten und zahlreichen Interviews, die sie seit Jahren mit Menschen hüben und vor allem drüben geführt hat, unter anderem auch für die TV-Dokumentationen «Russland, Putin und wir Ostdeutschen», ARD 2022, und «Hört uns zu! Wir Ostdeutsche und der Westen», ARD 2023.

«Ich will, dass nicht weiter gespalten wird zwischen Ost und West, will niemanden verurteilen, ich will sehen, was sich tun lässt – im besten Fall vermitteln zwischen zwei Seiten, die zusammengehören und doch noch immer so sehr für sich stehen», fasst sie Absicht und Antrieb ihres Buchs zusammen. Herausgekommen ist ein erhellender, ansprechender und leicht lesbarer Beitrag zur innerdeutschen Völkerverständigung, der uns den vielseitigen, schönen, fremden, ach so braunen und doch so bunten Osten und seine Bewohner erstaunlich sympathisch näherbringt. Ohne zu beschönigen und zu verteufeln, gelingt es der Autorin, Lust zu machen, miteinander zu reden, sich weniger schnell zu empören und weniger zu fremdeln. Dann lassen sich auch besser Pferde stehlen – im Dienste der Wiedervereinigung. Warum nicht?

 

*Im Jahr ihrer Gründung hatte die DDR 18,79 Millionen Einwohner, 1989 noch 16,43 Millionen. 2022 lebten in Ostdeutschland noch 12,6 Millionen Menschen, wobei etliche Westdeutsche in den Osten und andererseits Ostdeutsche in den Westen gezogen sind.

 

 

Jessy Wellmer
Die neue Entfremdung. Warum Ost- und Westdeutschland
auseinanderdriften und was wir dagegen tun können
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2024,
Geb., 256 S., CHF 35.
ISBN 978-3-462-00531-8

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