FRONTPAGE

«Barbara Auer: Eine Frau mit vielen Facetten»

Von Rolf Breiner

 

Ihre Figuren sind meist stille Menschen, die ihr Leben ertragen, sich ereifern, sich entscheiden müssen. Sie ist nachdrücklich präsent als Hilde Grzimek im TV-Dreiteiler «Grzimek» (2015) über den bekannten Tierforscher und TV-Moderator, als Teammitglied der ZDF-Krimireihe «Nachtschicht», jüngst in den Kinofilmen «Vakuum», «Transit» oder «Was uns nicht umbringt». Barbara Auer, in Konstanz geboren, stellte in Locarno zusammen mit Regisseurin Sandra Nettelbeck das Beziehungsdrama «Was uns nicht umbringt» auf der Piazza Grande vor.

 

Pech gehabt. Locarno meinte es nicht gut mit der Piazza-Premiere von Sandra Nettelbecks Beziehungsreigen «Was uns nicht umbringt», denn an diesem Freitagabend öffnete Petrus seine Schleusen (nicht das letzte Mal am Festival 71). Stürmisch geht es zwar auch in diesem vielschichtigen Beziehungsnetz auf der Leinwand zu, doch eine Sintflut musste sich nicht gerade darüber ergiessen. Kristallisationspunkt der Verwicklungen ist der Psychotherapeut Maximilian (August Zirner). Auf dessen Couch erleben wir unglückliche, verhärmte, geplagte Patienten, den Bestattungsunternehmer Mark (Christian Berkel – selten war der «Der Kriminalist» schauspielerisch so fein ziseliert und überzeugend) beispielsweise, den schweigsamen Koch Ben (Mark Waschke), den Piloten Fritz (Oliver Broumis), der an Höhenangst leidet, oder die Zoowärterin Sunny (Jenny Schily). Wir begegnen der Holländerin Sophie (Johanna ter Steege), spielsüchtig, aber auch mit Qualitäten ausgestattet, von denen Max sich angezogen fühlt. Aber geht das: Therapeut und Patientin?
Ein anderer Fall ist seine Ex-Frau Loretta (Barbara Auer), die sich mit ihren pubertierenden Töchtern herumschlägt, wobei eine total abstürzt. Loretta sucht Hilfe beim Ex («Du bist mein bester Freund»). Sie hat aber noch anderen Kummer und weiss nicht recht, ob sie mit ihrem jüngeren Lover einen Neuanfang wagen will.
Es tut sich einiges beim den Liebschaften, Nöten und Sorgen der Protagonisten im Beziehungsgerangel, inszeniert und geschrieben von Sandra Nettelbeck («Bella Martha»), die auch für die Pilgerreise «Ich bin dann mal weg» nach dem Bestseller von Hape Kerkeling das Drehbuch geschrieben hatte. Ihr jüngster Film erzählt von Sinnkrisen, Verunsicherungen und Entscheidungen, von versteckter und vollendeter Liebe. Manchmal komisch, manchmal tragisch, aber immer sehenswert. Wir trafen Barbara Auer (59), wohnhaft in Hamburg, in Locarno.

 

 

Interview Rolf Breiner

Auftritte auf Roten Teppichen oder Interviews sind nicht Ihr Ding, haben Sie mal klargestellt. Sie stehen wohl auf Kriegsfuss mit solchen Verpflichtungen? Und nun in Locarno vor einem Riesenpublikum.
Barbara Auer: Die Interviews hier in Locarno halten sich im Rahmen, es sind nicht so viele. Und es gehört natürlich dazu. In den Rollen gebe ich mich als Schauspielerin preis, habe aber immer noch die Rolle als Schutz. Bei Interviews gibt es diesen Schutz nicht. Deshalb frage mich manchmal, was die Leute denn eigentlich noch wissen wollen. Ich habe mich doch schon in meiner Rolle offenbart. Aber natürlich ist es wichtig, Filme zu präsentieren. Ich habe mich anfangs mit diesen öffentlichen Auftritten sehr schwer getan, indes bin ich schon so lange dabei und habe es inzwischen akzeptiert. Ausserdem ist der Rote Teppich in Locarno heute besonders für uns: hier ist fast das ganze Schauspiel-Ensemble von „Was uns nicht umbringt“ dabei. Ich freue mich also sehr auf unsere gemeinsame Premiere. Das war bei «Transit» auf der Berlinale auch so. Diese anderen Rote-Teppich-Veranstaltungen, ohne Film, wo es darum geht, was die Frau für ein Kleid anhat und so weiter, mag ich nicht sehr.

 

Waren Sie schon einmal in Locarno?
Ich war vor 35 Jahre mal als Zuschauerin auf der Piazza, weil wir Urlaub im Maggiatal gemacht haben. Wenn ich mich nicht täusche, haben wir damals Viscontis «Ludwig» gesehen. Und vor 29 Jahren lief hier ein Film mit mir, «Verfolgte Wege» (1990). Ich war mit unserem alten Auto und meiner Familie von Italien her unterwegs. Der Wagen ist vor Mailand komplett kaputt gegangen, und ich bin nie hier angekommen.

 

Sie wirken in drei aktuellen Kinofilmen mit, in «Vakuum», «Transit» und hier in «Was uns nicht umbringt». Sie spielen drei gänzlich unterschiedliche Frauen. Welche steht Ihnen am nächsten?
«Transit» nach dem Roman von Anna Seghers, spielt Anfang der vierziger Jahre in Marseille und die Architektin, die ich spiele, ist wie viele andere da gestrandet, weil sie als Jüdin auf der Flucht vor den Nazis ist und verzweifelt auf ein Visum für die Vereinigten Staaten wartet. Das bedarf einer ganz anderen Vorbereitung, ich hatte nur wenige Szenen, um diese Frau und ihr ganzes Leben zu zeigen. Bei «Vakuum» konnte ich hingegen gemeinsam mit meinem Filmpartner Robert Hunger-Bühler und unserer Regisseurin Christine Repond die Geschichte Stück für Stück erarbeiten. Es war eine grosse Herausforderung – seelisch und körperlich. Im Film von Sandra Nettelbeck wiederum haben die Figuren alle etwas Schräges. Das Alltagsleben wie es meine Filmfigur Loretta hat, kenne ich, auch beispielsweise die Pubertät, wenn die Kinder ihre Grenzen austesten, die Eltern manchmal hassen und man sich als Mutter fragt, was habe ich nur getan? Und hofft, dass es vorbeigeht…

 

Diese Frau, Loretta, die Sie hier spielen, steht am Scheidepunkt – zwischen Ex-Mann und Liebhaber. Wagt sie einen Neuanfang?
Na ja, natürlich fragt sie sich: Lasse ich mich mit über fünfzig nochmals auf so etwas ein, auf so eine Beziehung? Das kostet Mut, einen Neuanfang entgegen aller gesellschaftlicher Konventionen zu wagen.

 

Haben Sie sich für diese Loretta eine Biographie zurechtgelegt?
Das tut man immer.

 

In welche Richtung geht denn Loretta schlussendlich?

Sie wird es wagen mit dem jungen Mann, er ist trotz ihrer Ablehnung beharrlich und meint es ernst. Aber es ist keine leichte Entscheidung, denn der Geliebte ist fünfzehn Jahre jünger als sie. In fünfzehn Jahren ist sie schon fast eine alte Frau. Und darüber macht sie sich natürlich Gedanken.

 

Sandra Nettelbecks Film ist verwickelt, komplex und vernetzt. Man muss aufpassen: Wer mit wem, was ist Wunsch, was Wirklichkeit. Am Ende kommt beides zusammen.
Ja, das stimmt. Ich war erstaunt und beglückt, dass es so zu Ende geht. Beim Lesen des Drehbuchs war das noch nicht so eindeutig.

 

Wie haben Sie den Film erlebt?
Wir hatten vor Drehbeginn eine wunderbare Leseprobe, wo alle Schauspieler zusammenkamen und man sich gegenseitig zuhören konnte. Es ist ein Ensemblefilm und dennoch hat jeder immer nur mit denselben zwei, drei anderen Kolleginnen/en zu tun, weil es so viele parallele Geschichten gibt. Die einzige Figur, die zu allen eine Beziehung hat, ist Max, der Psychotherapeut, gespielt von August Zirner. Deshalb ist es jetzt für uns besonders spannend, all die anderen und ihre Geschichten auf der Leinwand zu sehen.

 

Wie sehen Sie sich als Loretta in diesem Netzwerk verschiedener Beziehungen?
Loretta ist die Konstante in Max’ Leben. Sie sind durch die gemeinsamen Töchter immer miteinander verbunden. Und sie kennen einander besser als sonst jemand. Beim Lesen des Drehbuchs dachte ich, Loretta sei die normalste Figur von allen, weil sie so im Alltagsleben feststeckt. Aber dann merkte ich, dass sie ebenfalls sehr speziell ist. Auch sie sagt Dinge, die man allenfalls denkt, aber eigentlich nicht ausspricht.

 

Haben Sie sich in manchen Situationen im Film wiedererkannt?
Manchmal, beispielsweise manche Gespräche mit dem Vater meines ältesten Sohnes waren recht ähnlich. Wir sind lange getrennt und dennoch hat uns auch immer die gemeinsame Sorge und Liebe zu unserem Kind verbunden. Und wir konnten uns diesbezüglich immer aufeinander verlassen. Mein jüngster Sohn wiederum, er ist 15, pubertiert ebenfalls gerade. Nicht so exzessiv wie in unserem Film, aber auch mit allem Drum und Dran.

 

Den Filmtitel «Was uns nicht umbringt» ergänzt man automatisch mit «macht uns stark». Ist Ihnen das auch so ergangen?
Ja, ich habe den Satz auch so zu Ende gesprochen, das tut jeder. Sandra Nettelbeck, unsere Regisseurin, ergänzt es anders: Das macht uns klüger, macht uns froh… Sie meint es positiver, leichter.

 

Der Film wurde in Mitteilungen als Komödie taxiert. Das stimmt doch nicht, es handelt sich um einen Beziehungs- und Liebesfilm.
Ich finde das albern, dass immer ein Etikett aufgeklebt werden muss, um den Film besser zu vermarkten. Sie haben recht, das stimmt in diesem Fall so nicht.

 

Sie sind in Konstanz geboren, welche Verbindung haben Sie noch zum Bodensee?
Meine Schwester wohnt noch in Konstanz, sowie eine Tante, und meine Verwandtschaft väterlicherseits lebt in der Höri. Öfter als zwei Mal im Jahr bin ich aber leider nicht am See. Im Oktober haben wir allerdings 40jähriges Klassentreffen und da werde ich kommen.

 

Wie geht’s weiter mit Film und Fernsehen?
Als nächstes drehe ich in Prag einen Dreiteiler, «The Wall», der 1987-89 in Ostberlin spielt. Und Ende des Jahres auch noch eine obligatorische «Nachtschicht».

 

 

 

«Grosserfolg für 14. Zurich Film Festival:
Erstmals über 100’000 Besucherinnen und Besucher» 

Ingrid Isermann

 

Das Zurich Film Festival bleibt auf Erfolgskurs. Mit 104’000 Besucherinnen und Besuchern (Vorjahr: 98’300) knackt das ZFF erstmals die 100’000er-Marke. Die beliebten Rahmenveranstaltungen wie die öffentlichen Gesprächsrunden etwa mit Donald Sutherland, Wim Wenders und Johnny Depp, der Filmmusikwettbewerb, der wiederum in der Tonhalle Maag über die Bühne ging, oder die rege besuchten Kinderworkshops mögen zum guten Resultat beigetragen haben.

 

«Wir hatten dieses Jahr sehr viele ausverkaufte Vorstellungen», freuen sich die beiden ZFF-Co-Direktoren Nadja Schildknecht und Karl Spoerri. Mit insgesamt 162 Filmen (Vorjahr: 160) aus 48 Ländern, darunter nicht weniger als 42 Erstlingswerken, bot das 14. Zurich Film Festival ein breit gefächertes und äusserst vielseitiges Filmprogramm.

In der Tat blieben am 14. Zurich Film Festival hinsichtlich Qualität und Vielfalt kaum Wünsche offen. Altmeister wie Robert Redford («The Old Man and the Gun») oder Judi Dench («Red Joan») waren mit neuen Filmen vertreten neben Stars wie Viggo Mortensen («Green Book»), Johnny Depp (Richard Says Goodbye») oder Keira Kneightley («Colette»). Aber auch zahlreiche Newcomer machten von sich reden, wie Jakob Cedergren mit dem prämierten Film «The Guilty». Die Schweizer Spielfilme «Der Läufer» mit Max Hubacher oder «Wolkenbruch» mit Joel Basman waren Publikumsrenner. «Astrid», der schwedischen Regisseurin Pernille Fischer Christensen, beeindruckte mit der biografischen Geschichte über die Kinderbuchautorin Astrid Lindgren. «Ballon» von Michael Bully Herbig als erster Regiearbeit fesselte mit der spannenden Geschichte aus dem Sommer 1979, als zwei ostdeutsche Familien mit dem Ballon in den Westen flohen, nach einer wahren Begebenheit. «Beautiful Boy» mit dem jungen, charismatischen Schauspieler Timothée Chalamet erzählt von der Abhängigkeit von der Droge zwischen Hoffnung und Ohnmacht. «First Man» schildert die hochdramatischen Ereignisse des amerikanischen Raumfahrtprogramms zwischen 1961 und 1969. Neil Armstrong (Ryan Gosling) gehört als erster Mann auf dem Mond zu den Helden des
20. Jahrhunderts. «Cold War» des polnischen Regisseurs Pawel Pawlikowski, ist inspiriert von der turbulenten Beziehung seiner Eltern, die sich im Europa der 1950er und 60er Jahre immer wieder aus den Augen verlieren und wiederfinden. Neben den unzähligen, sehenswerten Filmen, die wir in späteren Kritiken vorstellen werden, erregte auch ein neuer Dokumentarfilm über Whitney Houston («Whitney») Aufsehen.Das dokumentarische Musiker-Porträt des Regisseurs Kevin MacDonald über die meistgefeierte Solokünstlerin ihrer Zeit, die mit ihrem Film «Bodyguard» weltberühmt wurde, zeigt bisher nie veröffentlichtes Archivmaterial sowie private Videoaufnahmen und eindrückliche Konzertaufnahmen bis zu ihrem viel zu frühen tragischen Tod 2012.
Das 15. Zurich Film Festival findet von Donnerstag, 26. September bis Sonntag, 6. Oktober 2019 statt.

 

 

 

«Elmar Wepper: Veränderungen machen Spass»

Interview Rolf Breiner

 

Seit über 60 Jahren wirkt er in TV-Filmen und -serien mit. Vor zehn Jahren eroberte er die Kinoleinwand als Charakterdarsteller und probt nun als Gärtner den Ausbruch: Elmar Wepper.

 

Wer zählt die Rollen, die Serien und Filme, in denen der Bayer mitgewirkt hat? Elmer Wepper (74) ist der jüngere Bruder von Fritz («Derrick») und steht seit über 60 Jahren vor der Kamera, überwiegend fürs Fernsehen («Zwei Münchner in Hamburg»). Vor zehn Jahren schaffte er als Charakterdarsteller den Kinodurchbruch, als Witwer in Doris Dörries «Kirschblüten – Hanami» und wurde mit dem Deutschen Filmpreis geehrt. Nun spielt der gebürtige Augsburger und «eingebürgerte Münchner» den Gärtner Schorsch, dem das Wasser bis zum Halse steht, der seinen alten Doppeldecker besteigt und abhebt – auf Nimmerwiedersehen. Das Luft-Roadmovie heisst «Grüner wird’s nicht, sagte der Gärtner und flog davon». Wir trafen den Schauspieler Elmar Wepper anlässlich einer Vorpremiere in Zürich.

 

 

Herr Wepper, Sie spielen in der Roadromanze «Grüner wird’s nicht, sagte der Gärtner und flog davon» einen Helden, der Unternehmen und Familie hinter sich lässt und mit einem Doppeldecker abhebt. Was fühlen Sie für diese Figur?

Elmar Wepper: Der Gärtner Schorsch ist mir schon irgendwie nahe. Ich habe ja einen Garten und arbeite dort selber gerne. Der Garten ist Teil meines Lebens.

 

Gibt’s eine Lieblingsblume oder -pflanze?
Ich habe eine schöne Funkiensammlung und portugiesischen Kirschlorbeer. Ich besitze auch einen grossen Bereich von Hortensien, die liebe ich.

 

Man hat beim Aussteiger Schorsch das Gefühl, dass Ihnen die Rolle grossen Spass gemacht hat.
Ja, das stimmt. Ich selber bin nicht gestrickt wie der Schorsch. Die Vorstellung, dass ich in einen Flieger steige und abhaue, könnte ich nicht durchziehen. Der Schorsch ist ja ein Mensch, der immer der Schorsch ist, am Ende aber doch nicht mehr der gleiche. Solche Veränderungen zu spielen, macht Spass.

 

Schorsch steuert einen Doppeldecker. Fliegen Sie selber?
Nee.

 

Der Filmtitel ist wunderbar poetisch und skurril. Die Romanvorlage stammt vom Kabarettisten und Schauspieler Jockel Tschiersch. Kennen Sie ihn persönlich, war er in die Dreharbeiten involviert?
Ja, natürlich kenne ich ihn, er hat sogar eine kleine Rolle gespielt – am Anfang als Gerichtsvollzieher.

 

Nun ist der Gärtner nicht gerade ein fröhlicher Zeitgenosse, eher ein Grantler, der allmählich auftaut und sich als Mensch emanzipiert. Haben Sie das auch so empfunden?
Es ist, wie gesagt, reizvoll, das zu spielen. Nun bin ich nicht so grantig verschoben wie der Schorsch. Die Figur muss ein bisschen Kanten haben, man muss sich über sie Gedanken machen.

 

Und welche Gedanken haben Sie sich gemacht?
Der Schorsch hat eine Vorgeschichte über 25 Jahre, die wir hier aber nicht verraten wollen. Das hat ihn belastet, deswegen ist er so geworden. Das erfahren wir im Film.

 

Ein Wendepunkt in seinem Leben ist das junge aufmüpfige Mädchen Philomena.
Das ist märchenhaft erzählt. Das Mädchen ist auf seine Art einsam, eine neurotische Aussenseiterin. Durch diese Verbindung bricht beim Schorsch etwas auf.

 

Zwischen den beiden menschelt es…
Ja. Diese Chemie kann man nicht auf Knopfdruck herstellen. Da passiert etwas oder passiert nicht.

 

Der Film beschreibt nicht nur einen Aus- und Aufbruch, sondern auch eine Entwicklung…
Es ist ja nicht nur ein Roadmovie, sondern auch eine innere Reise von beiden. Am Ende steht eine Entscheidung. Ein schönes Bild dafür ist, wie Schorsch die Gartenzwerge zerschmettert: Er zertrümmert die alte Verkrustung.

 

Ich habe gelesen, dass es eine Fortsetzung von «Kirschblüten» geben soll. Sie verkörperten 2008 einen Krebskranken. Und nun…?
Richtig. Wir, das heisst, Hannelore Elstner und ich spielen Dämonen, also japanische Geister. Der Film ist bereits abgedreht und soll im Februar 2019 in die Kinos kommen.

 

Was ist Ihnen wichtig beim Filmen?
Für mich ist nicht nur die Rolle wichtig, sondern auch das Umfeld, mit wem ich zusammenarbeite. Ich brauche die Nähe, eine gewisse Harmonie.

 

Und welche Projekte stehen an?
Es sind zwei Sachen, aber diese Eier sind nicht einmal gelegt. Ich mache mir eher Gedanken: Wie gehe ich mit meiner Zeit um, meinen Lebensbereichen, die nicht mit meinem Beruf zu tun haben. Mein Credo heisst: Die Zeit bewusst leben. Auch das Nichtstun braucht seine Zeit.

 

 

«14. Zurich Film Festival:
Golden Eyes an GIRL, HEARTBOUND und L’ANIMALE.
Kritikerpreise an WALDEN und THE GUILTY.
Publikumspreis an COLD NOVEMBER.
Kinderjurypreis an LOS BANDO»

 

Die Preise in den beiden internationalen Wettbewerben sind mit je 25’000 Franken, der Preis im Wettbewerb Fokus: Schweiz, Deutschland, Österreich ist mit 20’000 Franken dotiert.

Der Förderpreis für einen Schweizer Film geht an WALDEN von Daniel Zimmermann und der Kritikerpreis an THE GUILTY (DEN SKYLDIGE) von Gustav Möller aus Dänemark. Den Publikumspreis erhält COLD NOVEMBER (NËNTOR I FTOHTË) von Ismet Sijarina aus dem Kosovo, die Kinderjury vergibt ihren Preis an LOS BANDO von Christian Lo aus Norwegen, und den Publikumspreis der Sektion ZFF für Kinder vergeben die jungen Zuschauer an RAOUL TABURIN von Pierre Godeau aus Frankreich.

 

ZFF-PREISE Golden Eyes

Internationaler Spielfilmwettbewerb
Jury:
Gabrielle Tana (Jurypräsidentin) / Produzentin / Grossbritannien
Ann Hui / Regisseurin und Produzentin / Hong Kong
Max Irons / Schauspieler / Grossbritannien
Ana Lily Amirpour / Regisseurin und Drehbuchautorin / USA

Das Goldene Auge des 14. Zurich Film Festival für den besten Film im Internationalen Spielfilmwettbewerb geht an:
GIRL von Lukas Dhont (Belgien, Niederlande)

 

Besondere Erwähnungen gehen an:
SHÉHÉRAZADE von Jean-Bernard Marlin (Frankreich)

 

Internationaler Dokumentarfilmwettbewerb
Jury:
Dick Fontaine (Jurypräsident) / Regisseur / Grossbritannien
Camilla Nielsson / Regisseurin / Dänemark
Maya Zinshtein / Regisseurin / Israel
Talal Derki / Regisseur und Kameramann / Syrien

 

Das Goldene Auge des 14. Zurich Film Festival für den besten Film im Internationalen Dokumentarfilmwettbewerb geht an:
HEARTBOUND (HJERTELANDET) von Janus Metz und Sine Plambech (Dänemark, Schweden, Niederlande)

Besondere Erwähnungen gehen an:
MINDING THE GAP von Bing Liu (USA)

 

Wettbewerb Fokus: Schweiz, Deutschland, Österreich
Jury:
Barbara Albert (Jurypräsidentin) / Regisseurin, Produzentin, Drehbuchautorin / Österreich
Max Karli / Produzent / Schweiz
Wolfgang Thaler / Kameramann / Österreich
Markus Welter / Regisseur / Deutschland

 

Das Goldene Auge des 14. Zurich Film Festival für den besten Film im Wettbewerb Fokus: Schweiz, Deutschland, Österreich geht an:
L’ANIMALE von Katharina Mückstein (Österreich)

 

Besondere Erwähnungen gehen an:
DER LÄUFER (MIDNIGHT RUNNER) von Hannes Baumgartner (Schweiz)

WELCOME TO SODOM von Florian Weigensamer und Christian Krönes (Österreich)

 

Schweizer Förderpreis (Emerging Swiss Talent Award)
Der Förderpreis für den besten Schweizer Film im ganzen Programm geht an:
WALDEN von Daniel Zimmermann (Schweiz).

 

Kritikerpreis (Critics‘ Choice Award)
Die Filmkritiker vom Schweizerischen Verband der Filmjournalistinnen und Filmjournalisten vergeben den Preis für den besten Erstlings-Spielfilm an:
THE GUILTY (DEN SKYLDIGE) von Gustav Möller (Dänemark)

 

Publikumspreis (Audience Award)
Der Publikumspreis an einen Film in einem der drei Wettbewerbe, den die Zuschauer und Zuschauerinnen bestimmen konnten, geht an:
COLD NOVEMBER (NËNTOR I FTOHTË) von Ismet Sijarina (Kosovo, Albanien, Mazedonien)

 

Preis der Kinderjury
Die Kinderjury vergibt ihren Preis an:
LOS BANDO von Christian Lo (Norwegen, Schweden)

 

Publikumspreis ZFF für Kinder
Der Publikumspreis für einen Film der Sektion ZFF für Kinder geht an:
RAOUL TABURIN von Pierre Godeau (Frankreich, Belgien)

 

Treatment-Wettbewerb
Der Preis für das beste Treatment geht an:
Maurizius Staerkle Drux und Lenz Baumann für das Projekt C.O.D.A. – CHILD OF DEAF ADULTS (Schweiz)

6. Oktober 2018

 

 

«Judi Dench: Der Golden Icon Award ist eine grosse Ehre für mich»

 

Ingrid Isermann

 

Judi Dench in Persona: sie wirkt zierlich und energiegeladen, wie sie an der Pressekonferenz im Festivalzelt des ZFF über ihren neuen Film «Red Joan» spricht, der demnächst in die Kinos kommt.

Eine Spionagegeschichte sei es aber nicht nur, sagt Judi Dench, sondern auch eine Geschichte über eine starke Frau. Joan Stanley galt als Spionin und Verräterin und wurde erst als Rentnerin entlarvt, wegen ihres hohen Alters aber nicht mehr verurteilt, sie starb mit 93 Jahren.

Der Film zeigt in Rückblenden die Lebensgeschichte der charismatischen Frau, deren Begegnung mit dem russischen Spion Leo auf dem Campus der Universität Cambridge in den 1930er Jahren einen verhängnisvollen Verlauf nimmt, der ihre Weltanschauung massgeblich beeinflusst. Nach dem Krieg arbeitete Joan in einer
streng geheimen Kernforschungsanlage und steht vor der Entscheidung, ihr Heimatland zu verraten, um des Friedens willen.

 

Judi Dench meint dazu: «Das ist eine wirklich erstaunliche, ausserordentliche Story. Die Leute sagten, sie sei eine Spionin, die ihr Land an Russland verraten hat. Aber das ist falsch, nach Hiroshima kam Joan zur Überzeugung, dass nicht nur eine Grossmacht eine Atombombe besitzen sollte. Wenn beide Grossmächte bewaffnet sind und durch einen Atomkrieg bedroht werden, gibt es das Gleichgewicht des Schreckens, das tatsächlich bis heute einen Atomkrieg nach 1945 verhindert hat».

Am 3. Oktober 2018 erhält Judi Dench nun im Kino Corso den «Golden Icon Award». Was bedeutet er ihr? «Ich finde es aufregend, in Zürich zu sein, ich war vorher noch nie hier. Der Award ist eine grosse Ehre und Anerkennung für mich, die ich sehr schätze. Ich bin sehr dankbar für diesen Award. Mir gefällt auch der Titel «Golden Eye»… (lacht). Das bringt uns zu den Bond-Filmen, in denen sie von 1995 (GOLDENEYE) bis 2015 (SPECTRE) die Rolle der legendären Geheimdienst-Chefin M verkörperte.

 

Judi Dench, 1934 in York geboren, begann ihre Karriere als Ensemblemitglied der Royal Shakespeare Company und wurde für ihre Schauspielkunst mehrfach ausgezeichnet. Auf die Frage, was ihr der Erfolg bedeutet, antwortet sie: «Ich hatte früher immer Angst,
dass ich nicht gut genug bin, aber ich liebe es zu arbeiten und fange mit jedem Stück wieder bei Null an. Wenn man einen Part mehrmals spielt, bekommt man oft die gleichen oder ähnliche Rollen angeboten. Ich sagte zu meinem Agenten, ich würde gerne einmal eine Frau in Afghanistan spielen». Ob sie bald zurücktreten würde?
«Leute treten normalerweise zurück, um Dinge zu tun, die sie gerne
schon immer tun wollten. Für mich trifft das nicht zu, meine Arbeit ist mein Hobby und mein Beruf. Und das Schöne an unserem Beruf ist, dass man nie weiss, was als nächstes kommt».

Ist es härter für Schauspielerinnen, eine Rolle zu bekommen?
«Es ist für jeden hart, Ratschläge sind furchtbar schwierig zu geben, es braucht auch einfach etwas Glück, am richtigen Ort zur richtigen Zeit zu sein».
«Ich bin sehr beschäftigt und habe Glück».
3. Oktober 2018

 

 

«14. Zurich Film Festival – Gespräch mit der Direktorin Nadja Schildknecht: «Business mit Pleasure verbinden»

Gemeinsam mit Co-Direktor Karl Spoerri präsentierte Nadja Schildknecht das Programm des 14. Zurich Film Festival im Dolder. Wir sprachen mit der Frau, die fürs Management, für Finanzen, Sponsoring und den Gesamtevent verantwortlich ist.

 

Sie sehen kurz vor dem Festivalbeginn so frisch und sonnenverwöhnt aus, als kämen Sie just aus den Ferien…
Nadja Schildknecht (lacht): Nein, das muss eher von der wenigen Gartenarbeit sein. Ich liebe die grüne Oase, wie ich unseren Garten nenne. Es tut gut als Abwechslung zum Büro, aber viel Zeit dazu habe ich dafür nicht.
Wenn Sie im Garten tätig sind – mit oder ohne Handschuhe?
Ich habe es mal ohne Handschuhe versucht, und es hat dann entsprechend ausgesehen – mit Blasen überall.
Das 13. Festival liegt hinter Ihnen. Sind Sie abergläubisch und glauben an Zahlen wie die 13?
Das 13. war ein Glücksjahr, und das hoffe ich auch vom 14. Jahr.

 

Das ZurichFilmFestival hat im Laufe der Jahre permanent an Renommee dazugewonnen. Doch Bern, sprich der Bund, hat das Festival eine Zeit lang ignoriert. Jetzt soll es anders werden. Sind Sie guter Hoffnung?
Grundsätzlich bin ich immer voller Hoffnung, aber ich bin auch jemand, der umsetzt, nicht nur hofft. Konkret sind beide Parteien daran, eine neue Leistungsvereinbarung auszuarbeiten, welche im Dezember 2018 unterschrieben werden soll. Dies kommt nun so, weil wir strukturelle Veränderungen veranlasst haben, welche für den Bund wichtig waren. Dies klingt einfach, war es aber nicht. Gut ist, dass beide Parteien nun nach dieser langen Strecke das Ziel sehen.
Wie sieht die Zusammenarbeit, der Austausch zwischen den Festivals in der Schweiz aus?
Es gibt die Konferenz der Filmfestivals der Schweiz. Ein Austausch findet also statt, und wie die anderen Filmfestivals ist das Zurich Film Festival nicht mehr wegzudenken.
Sind Sie das Schlachtross, das vorweg in die Schlacht um Subventionen geritten ist?
Grundsätzlich sieht man, wenn man die Subventionsverteilung durchleuchtet, dass politische Komponenten stark mitspielen. Ich lasse nie etwas unversucht, und die Zusammenarbeit erachte ich als wichtig, wie es das Wort schon sagt. Heisst konkret: Man kämpft mit Anstand.
Welche Gründe stecken hinter der vorgängigen Verweigerung aus Ihre Sicht: Erfolg, Neid oder…?
Die Struktur wurde angepasst, wie es das BAK wünschte, und die Zusammenarbeit wird weitergeführt. Somit möchte ich mich dazu nicht äussern, das müssen Sie die zuständigen Personen beim Bund fragen.

 

 

Die Zuschauerzahlen sind kontinuierlich gestiegen von 90 500 im Jahr 2016 auf 98 300 im letzten Jahr. Geht’s weiter so?
Wir zeigen 160 Filme aus über 40 Ländern. Auch werden viele Filmemacher ihren Film persönlich präsentieren, dies macht ein Filmfestival aus. Wir hoffen, dass wir auch dieses Jahr wieder viele Besucher damit begeistern können.

 

 

Auch die Zahl der Stars und Gäste ist gestiegen. Was lockt – ausser Preisen – die Stars, nach Zürich zu kommen: die Gastfreundschaft, das Festival an sich, das Ambiente?
Ich glaube alles zusammen. Wir haben das Vertrauen kontinuierlich bei der Branche aufgebaut. Zürich ist zudem eine schöne Stadt, und uns liegt viel an guter Gastfreundschaft. Wir achten stark darauf, dass die Gäste Pleasure mit Business verbinden können.

 

 

500 bis 600 Gäste werden erwartet. Sie können ja nicht allen dienen, auf was konzentrieren Sie sich denn?
Über 120 Events in 11 Tagen sind enorm, so kann man nicht überall sein, und trotzdem ist es wichtig, an möglichst vielen Orten zu sein. Trotzdem ist man natürlich nirgends richtig. Wir haben über 70 Gästemanager, die Gäste begrüssen und betreuen.
Der künstlerische Leiter und die Management-Direktorin – haben Sie Einfluss aufs Programm?
Dadurch, dass wir beide das Festival initiiert und aufgebaut haben, verschwimmen gewisse Funktionen ineinander. Natürlich bringe ich mich ein, habe viele Ideen, die dann auch umgesetzt werden, das Gleiche gilt für Karl Spoerri.
Auch nach 13 Jahren funktioniert Ihre Partnerschaft harmonisch…?
Wenn zwei starke Personen… Sind Sie beide Alphatiere?
Ja, wenn also zwei starke Personen zusammenarbeiten, kann es mal Diskussionen geben, aber ich sehe das positiv. Nach 14 Jahren kennen und schätzen wir gegenseitig unsere Fähigkeiten, denn schliesslich haben wir das gleiche Ziel. Das Festival soll kontinuierlich weiterentwickelt werden – für die Branche und die Besucher.

 

 

Was ist Ihnen als Frau wichtig im Festivalbetrieb?
Als Frau ist mir wichtig, dass Regisseurinnen genauso beachtet werden wie die männlichen Kollegen. Ich hoffe, dass sich die Branche weiter so entwickelt, dass Frauen mehr Chancen bekommen, und das zeigen wir beim Festival in Zürich sehr deutlich.

 

Interview Rolf Breiner
Programm Zurich Film Festival
https://zff.com/de/programm/1/
Tickets
zff.com, starticket.ch
ZFF-Verkaufsstellen, beispielsweise Festivalzentrum Sechseläutenplatz, Zürich
Ticketkasse Sihlcity, RiffRaff

 

 

«ZFF: Die Hits des Herbstes – Das 14. Zurich Film Festival ist gut gerüstet»

 

Von Rolf Breiner

 

Das Motto «Ein Fest fürs Kino. Ein Fest für alle» hat sich bewährt. Die Leiter des Zurich Film Festival (ZFF), Nadja Schildknecht und Karl Spoerri, gehen gestärkt ins 14. Jahr. Über 160 Produktionenwerden während elf Tagen über die Leinwände flimmern (27. September bis 7. Oktober).

 

Stars zieren und veredeln das Festival – von Judi Dench (Golden Icon) über Donald Sutherland (Lifetime Achievement Award), John C. Reilly, Johnny Depp oder Michael Bully Herbig bis zu Sönke Wortmann, Florian Henckel von Donnersmarck, Julian Schnabel und Wim Wenders.

Mit jeder Ausgabe ist das Renommee des Filmfestivals am Zürichsee gestiegen – international sowieso und national auch. Bern und das BAK (Bundesamt für Kultur) werden zukünftig das erfolgreiche Filmfestival fördern (müssen). Die Festivaldirektoren Nadja Schildknecht und Karl Spoerri gehen davon aus, dass der Bund ab 2019 Fördergelder fliessen lässt. Die Management-Direktorin Schildknecht sprach an einer Presseorientierung von 250 000 Franken. «Wir haben die Firma und deren Struktur so umgebaut, dass wir die Anforderungen des Bundesamtes für Kultur jetzt erfüllen.» Es ging um bestimmte Vernetzungen und «Seilschaften», die dem BAK ein Dorn im Auge waren.
Das Budget beträgt wie schon 2017 rund 7,3 Millionen Franken. Den Hauptteil tragen die Sponsoren, Stiftungen und Einnahmen. Die Stadt Zürich steuert 350 000 Franken, der Kanton Zürich 270 000 Franken bei. Seit 2005 ist die Zuschauerzahl (8000) kontinuierliche gestiegen auf über 98 000 im vergangenen Jahr. Nadja Schildknecht hofft auf eine weitere Steigerung bei der 14. Ausgabe bis zu 100 000 Kinobesucher. Die Filme wären da, meinte sie, es käme aber auch aufs Wetter an.
Das Angebot ist breit ausgelegt und bietet für alle etwas – von Cineasten bis zu Kindern (neun Filme speziell für Kids, dazu Workshops und eine Kinderjury). Das Interesse beim Nachwuchs scheint gross, haben sich doch 108 Klassen aus 81 Schulen in Zürich und Umgebung für Vorstellungen angemeldet.
12 Weltpremieren, 42 Erstlingswerke und 16 Schweizer Filme werden laut Festivalleitung aufgeführt. Die Wettbewerbe umfassen Internationale Spielfilme (14), Internationale Dokumentarfilme (12), Fokus (12) mit Werken aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. Eine Kinderjury beurteilt neun Filme. Für den Internationalen Filmmusikwettbewerb (Thema «Thriller») haben sich 304 Teilnehmer aus 44 Ländern gemeldet. Die besten fünf Kompositionen werden am 5. Oktober vom Tonhalle-Orchester in der Maag-Halle aufgeführt.

Auffallend viele Spielfilme befassen sich mit der Jugend (Coming out), Frauen und Familienkonflikten. «Filme zur aktuellen Weltpolitik zwischen Russland und Amerika sind genauso auffallend häufig vertreten wie auch Werke über starke Frauen, die Emanzipation und den Umgang mit sexuellen Übergriffen nicht aus einer Opferhaltung heraus thematisieren», erklärt der künstlerische Leiter Karl Spoerri und ist zurecht stolz darauf, dass das ZFF als Plattform für kommende, vermeintliche Herbsthits dienen kann, Filme also, die für Gesprächsstoff und Interesse sorgen. Grosses Publikumsinteresse wecken natürlich die Galapremieren, hervorzuheben sind etwa Titel wie «Roma», «The Sisters Brothers», «The Favourite» (mehrere Preise in Venedig), «High Life», «A Star Is Born», «Kursk», «The Old Man and the Gun», «Trautmann», «Der Vorname» oder «Werk ohne Autor». Die Gäste – zwischen 500 und 600 – sind illuster: Stars wie Judi Dench, Donald Sutherland oder Johnny Depp, Filmschaffende und Regisseure zuhauf. Ein Schwerpunkt gilt dem neuen italienischen Film («Neue Sicht: Italien»), der Rubrik «Hastag #Data» (Filme über Daten, Datensammeln und die Folgen) und Fernsehserien («Series»). Erstmals wird hier auch ein Goldenes Auge verliehen, dotiert mit 10 000 Franken. Acht Serien nehmen teil wie «Picnic at Hangig Rock». Warum die gefragte deutsche TV-Serie «Babylon Berlin», die nun am 22./23. September im Kino RiffRaff, Zürich, gezeigt wird, vom ZFF nicht berücksichtigt wurde, bleibt ein Manko. Karl Spoerri begründete dies etwas vage und nicht überzeugend mit Zeitproblemen und der grossen Auswahl.
Natürlich sind die Award-Träger auch mit Filmen präsentiert. Ein Wiedersehen mit Wenders-Filmen («Paris, Texas», «Der Himmel über Berlin», «Pina» oder «Buena Vista Social Club») ist so ebenso möglich wie mit Filmen, in denen Donald Sutherland («The Dirty Dozen», «Don’t Look Now» oder «Il Casanova di Federico Fellini») aktiv war. Judi Dench ist mit dem Thriller «Red Joan» präsent.
Filme also wie Sterne am Firmament. Man kann sich sattsehen. Masters-Veranstaltungen mit Donald Sutherland (30. September), Florian Henckel von Donnersmarck (30. September), Julian Schnabel (1. Oktober) und Wim Wenders (6.Oktober) runden das Programm ab, von Talks, Meetings und Partys ganz zu schweigen. Das Kino lebt und wie, zumindest am Zurich Film Festivale 2018.

 

 

 

«Fantoche – 16. Festival für Animationsfilme: Doucement Sexy, Lettland und 50 Jahre GSFA»

Von Rolf Breiner

Treffen der Internationalen Animationswelt in Baden: Zum 16. Mal präsentiert sich in den dortigen Kinos das Festival Fantoche – vom 4. bis 9. September 2018. Insgesamt werden über 200 Filme aufgeführt, 185 Veranstaltungen an 14 Locations angeboten.

 

In diesem Jahr werden nebst den Wettbewerben wieder verschiedene Schwerpunkte angeboten. Ein besonderes Augenmerk gelte dem Thema «Doucement Sexy», Filme aus Lettland sowie Aktionen und Ausstellung des Groupement Suisse du Film d’Animation (GSFA), wie Annette Schindler an einer Medienorientierung erläuterte. Sie leitet das Fantoche-Festival seit 2012. Anlässlich des Jubiläums «50 Jahre GSFA» ist eine Ausstellung zu sehen, welche die Arbeit an Animationsfilmen dokumentiert und erlebbar macht. Beim Blick hinter die Kulissen zeigen Schweizer Künstler, wie Animationsfilme entstehen – von der Idee über Notizen und Skizzen zu Stilstudien und Storyboards, schliesslich zur Realisation mit Zeichnungen, Tricks, Modellen oder Puppen. Stephan Wicki und Rita Drechsel Küng etwa orientieren über Stop-Motion (Donnerstag, 6. September, 12 bis 17 Uhr im Kunstraum Baden).
Die Ausstellung «Chris the Swiss» (Kunstraum) zeigt Originaldokumente zum gleichnamigen Film, der dem Schicksal eines Schweizer Journalisten nachgeht, der 1992 zum Söldner im Balkankrieg wurde und in Kroatien umkam. Chris war der Cousin der Zeichnerin und Filmerin Anja Kofmel, die auch am Festival präsent sein wird. Die Ausstellung wandert im Anschluss an Fantoche durch die Schweiz, nach Bellinzona (17. bis 30. November) Solothurn (24. Januar bis 17. Februar 2019), Lausanne (1.bis 15.März 2019), Dietikon (26. April bis 17. Mai 2019) und Luzern (Juni 2019).
Der baltische Staat Lettland feiert seine Gründung vor 100 Jahren. Deswegen rückt Fantoche das lettische Animationsschaffen in den Blickpunkt. Verschiedene Arbeiten sind in Baden zu sehen, Kurzfilme wie vom einflussreichen Filmemacher Arnolds Burovs («Little Hawk», 1978) oder von Edmunds Janson («The Isle of the Seals», 2014), der anwesend sein wird und Einblick in seine neuste Arbeit gibt.
«Sex sells» nicht nur, Sex gehört auch zu den Grundbedürfnissen. Der Fantoche-Schwerpunk «Doucement Sexy» widmet sich den «animierten Leibesfreuden». Kuratorin Eliška Děcká bietet in drei Programmblöcken «die süssesten Kurzfilm-Früchte der letzten dreissig Jahre» unter Stichworten wie «Vocal Bodies», «Silly, Sexy, Silly» oder «Evolution of Animated Sexuality». Ergänzt wird das Thema um Theater («Animeo & Humania»), Badegenuss («Bagno Popolare») oder Dispute über Sinn und Sinnlichkeit anlässlich des Films «Adam».
Immer interessant ist die Sektion Langfilme. Unter den 21 Filmen befassen sich fünf Werke mit historisch-politischen Themen. Erwähnt sei etwa der Schweizer Anidoc «Chris the Swiss», eine Mischung aus Zeichentrick und realen Dokumentarszenen, wie oben erwähnt. Zeichnerin und Filmerin Anja Kofmel ist den Spuren ihres Cousins gefolgt. Eine bemerkenswerte Aufarbeitung
Der Film «Funan» (2018) erzählt von einer Familie, die unter den Roten Khmer litt. «Your Name» (2016) aus Japan schildert, wie ein Mädchen in den Körper eines Jungen schlüpft, und «The Breadwinner» (2017) beschreibt, wie die elfjährige Parvana versucht, ihren Vater aus den Fängen der Taliban zu befreien. Als Zugabe im Programm gibt es den erfolgreichen Kinofilm «Isle of Dogs» (USA 2018), vor allem auch weil ein «Making of» zu sehen ist – in Anwesenheit des führenden Animators Kim Keukeleire.
Der Wettbewerb (Internationale, Nationale und Kinderfilme) umfasst 73 Kurzfilme aus 24 Ländern, darunter 22 aus der Schweiz. 2349 Filme wurden eingereicht.
Abgerundet wird das breit gefächerte Fantoche-Programm 2018 mit Gesprächen, der Swiss Industry Night & dem Industry Day (6. und 7. September), Spezialaufführungen für Kinder, einem Film-Bus auf dem Bahnhofplatz mit täglich wechselnden Kurzfilmen sowie der Retrospektive über Jurymitglied Monique Renault.
Wie uns Annette Schindler versicherte, steht Fantoche auf gesunden (finanziellen) Beinen. Das Budget 2018 ist auf 1,4 Millionen Franken angesetzt, die öffentliche Hand übernimmt dabei 58 Prozent, die Sponsoren 17 Prozent, die Stiftung 7 Prozent. Eintritte erwirtschaften 16 Prozent. Man hofft natürlich auch 2018 die Besucherzahl von rund 23000 Eintritten (2017) zu erreichen oder gar zu übertreffen.

Informationen:
www.fantoche.ch

 

 

Filmtipps

 

Wolkenbruch

rbr. Jiddische Verwicklungen. Der Buchtitel ist so poetisch wie amüsant: «Wolkenbruchs wunderbare Reise in die Arme einer Schickse». Er stammt von Thomas Meyer, der auch gleich für das Drehbuch zur Verfilmung besorgt war. Das Buch wurde 2012 überraschend zum Bestseller. Nun ist das immer so eine Sache mit der filmischen Umsetzung. Welche Erwartungen hat der Leser, welche der unvoreingenommene Kinobesucher? Um es vorweg zu nehmen: Mir hat der Lesestoff besser gefallen, er regt die eigene Phantasie an. Die Filmadaption bietet eine nette unterhaltsame Umsetzung fürs Kino – ist schweizerisch brav und plakativ, gleichwohl nett und unterhaltsam. Der Charme der jiddischen Sprache wird hier amüsant vorgeführt (man muss nicht mehr laut vor sich hinlesen), die Eigenarten jüdischer Verheiratungsambitionen werden liebevoll auf die Schippe genommen und die Akteure bemühen sich redlich, die familiären Verstrickungen, amourösen Eskapaden mit Schmackes vorzuführen. Besonders für Zürcher wird der Film auch zu lokalen Aha-Erlebnissen. Worum es geht?
Jüngling Mordechai Wolkenbruch (Joel Basman), Motti geheissen und jüdisch orthodox erzogen, soll unter die Haube kommen. Seine Mutter (Inge Maux) unternimmt alles, um standesgemäss ein meidl aufzubieten, um dann eine chassene (Hochzeit) zu arrangieren. Aber der Sohn sperrt sich eins ums andere Mal, will seine Braut selber aussuchen und vor allem lieben. Motti schert aus, rasiert den Bart ab, wagt neuen Haarschnitt und neue Brille. Und dann verknallt sich der fesche Bursche auch noch in eine Schickse, also eine nicht jüdische Frau. Die Studentin Laura (Noémi Schmidt) hat es ihm angetan, aber eben…Mutter sein dagegen sehr, während der Vater (Udo Samel) noch ein gewisses Verständnis aufbringt. Selbst eine Erkundungsreise nach Israel mit entsprechender Sexerfahrung bringt Motti nicht auf den rechten jüdischen Weg…
Für schweizerische Verhältnisse hat Michael Steiner Mottis wunderliche Reise recht flott inszeniert – mit viel Zürcher Lokalkolorit. In Joel Basman (mit jüdischen Wurzeln) fand er den passenden Jüngling, der sich behauptet, seine Unabhängigkeit und Selbstbestimmung sucht. Partnerin Noémi Schmidt als Laura spielt ordentlich, doch vermisst man Ausstrahlung und Sexappeal. Die Schickse bleibt etwas blass und brav.
Bei «Wolkenbruch» darf gelacht werden. Der Griff zum Buch lohnt alleweil, es ist hat Witz und Verstand, regt an, ist mit Jiddisch-Glossar und Matzenknödel-Rezept ausgestattet (Diogenes Verlag).
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Subito

rbr. Das Sofortbild – eine virtuose Zeitreise. Vor 70 Jahren war es eine Sensation: das Sofortbild. Der geniale Tüftler Edwin Land entwickelte eine Kamera, die sofort Papierbilder lieferte: die Polaroid. Es begann damit, dass der Physiker Edwin H. Land 1943 von seiner fünfjährigen Tochter gefragt wurde, warum sie die Fotoaufnahmen, die er von ihr gemacht hatte, nicht sofort, also subito, sehen könnte. Der amerikanische Tüftler entwickelte eine Sofortbildkamera, die 1947 in New York vorgestellt wurde, die Polaroid. Eine Revolution. Lands Firma Polaroid versorgte die Welt, entwickelte immer neue Erfindungen und technische Innovationen, mit dem Polaroid-Swinger in den Sechzigerjahre oder dem legendären Kameramodell SX-70. Die Polaroid-Kamera wurde zum Kultobjekt, das auch Künstler wie Andy Warhol nutzten. Die Polaroid-Errungenschaft hat wesentlich zum 3-D-Kino (dazumal noch mit Kartonbrillen) und zur LCD-Technik beigetragen. Die Kodak-Konkurrenz wurde stärker, mit der Digitalisierung verlor das Polaroid-Unternehmen an Boden. Die letzte Fabrikationsstätte im holländischen Enschede schloss 2008 seine Pforten.
Die totale Verschrottung und Polaroid-Eliminierung verhinderte der Wiener Biologe und Fan Florian Kaps. Er kauft die Fabrikationsanlage für magere 180.000 Euro und betreibt seit Jahren einen Online-Handel mit «maroden» Polaroid-Filmen. Er hält mit seiner Firma «The Impossible Project» die Polaroid-Kultur aufrecht. Millionen Polaroid-Kameras sind noch auf dem Markt, neue Filme und Kameras wurden entwickelt.
Der Schweizer Filmer und Dokumentarist Peter Volkart hat die spannende Geschichte aufgezeichnet und aufgeschlüsselt – vom Prolog über «Die Künstler» (Warhol etc.) und «Ein unmögliche Leben» (Florian Kaps) bis zum Epilog («Tote leben länger»). Seine Montage von eigenem und fremden Archivmaterial, Fotos, Filmen, Interviews und Berichten Beteiligter fügt sich zu einem intensiven Panoptikum und Kaleidoskop über Kunst und Fotografie. Seine virtuose Zeitreise ist zugleich ein Plädoyer für die analoge Fotografie, für die echte Fotografie. Die Milliarden Bilder der digitalen Medien sind flüchtig und versinken im Nirwana. Die Sehnsucht nach Authentizität, nach Echtheit ist wieder stärker gewachsen. Das kann ein Polaroid-Bild befriedigen, dafür macht sich diese spannende Dokumentation stark.
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The Guilty
rbr. Düsteres Kammerspiel in einer Notrufzentrale. Ein Platz, ein Mann, eine Telefon. Der strafversetzte Polizist Asger Holm (Jakob Cedergren) versieht eher mürrisch, denn engagiert seinen Dienst in einer dänischen Notrufzentrale. Er ist frustriert, muss sich mit häuslichen Dramen, Betrunkenen und anderen «Notfällen» herumschlagen, bis er Iben (Jessica Dinnage) in der Leitung hat. Die junge Frau scheint in einem Auto gefangen und entführt worden zu sein. Sie bittet heimlich um Hilfe – dringlichst. Holm fährt seine letzte Nachtschicht, am nächsten Tag soll eine Kommission über seinen weiteren Werdegang bei der Polizei entscheiden. Es scheint, dass er jemanden im Einsatz erschossen hat. Beim Ruf dieser Iben in Not erwacht in ihm der Polizist, der Jäger, der Helfer. Offensichtlich ist die Frau von ihrem Mann verschleppt worden, sind ihre Kinder allein daheim und lebensbedroht. Einzelgänger Asger Holm ist ans Telefon gefesselt, weiht niemanden in der Zentrale ein, versucht aber über das Telefonnetzwerk und mit Hilfe eines Partners, sich ein Bild über das dramatische Geschehen zu machen. Schritt um Schritt enthüllt er eine ungeheure Familientragödie.

Die klassische Einheit von Zeit und Raum bleibt im Psychothriller «The Guilty» des Dänen Gustav Möller gewahrt. Man erinnert sich an vergleichsbare Kinokammerspiele wie «The Call» mit Halle Berry oder «No Turning Back» mit Tom Hardy. In beiden Filmen wickelt sich das Geschehen über Telefonate ab, einmal in der Notrufzentrale von Los Angeles, beim anderen Mal während einer Autofahrt. Hier ist der Schauplatz oder besser Hörplatz die Notrufzentrale von Kopenhagen. Das klassische, klaustrophobische Kino treibt Gustav Möller auf die Spitze. Die Kamera Jasper J. Spannings beharrt auf dem Gesicht des «Ermittlers» am Hörer. Auf ihm spielt sich das Drama ab, das draussen irgendwo in der Stadt und das andere, das innere, persönliche. Der Zuschauer wird Zeuge, er hört mit, erlebt und leidet mit, versetzt sich in den Fahnder Asger alias Jakob Cedergren (bekannt aus der TV-Serie «Nordlicht – Mörder ohne Reue»). Und der zieht einen in den Bann. Man könnte sich «The Guilty» auch als Hörspiel vorstellen, aber der Schauspieler Cedergren gibt dem düsteren Kammerspiel (fast ohne Aussenaufnahmen) Emotionen und ein Gesicht.
Grosses konzentriertes Kopfkino – still, undurchsichtig, spartanisch, aber eben auch intensiv, eindringlich und auf seine nüchterne Art brillant spannend. Der Psychothriller, dessen Titel «The Guilty» ein weiteres Geheimnis birgt, errang Publikumspreise am Sundance Filmfestival und am Filmfest München.

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A Star Is Born
rbr. Respektables Remake. Eigentlich eine olle Hollywood-Kamelle: Judy Garland und James Mason haben es vorgemacht («Ein neuer Stern am Himmel», 1954), Barbara Streisand und Kris Kristofferson haben «A Star Is Born» (1976) nochmals übertroffen. Und nun nach über 40 Jahren gelang ein weiteres Remake über Aufstieg und Fall von Musikstars ins Kino. Macht das Sinn? Für ein junges Publikum auf jeden Fall und ältere Semester werden ihre Freude haben, wenn die exzentrische Rockpopfurie Lady Gaga sich als grosse Schauspielerin offenbart. Sie gibt sich völlig ein und überzeugt. Erstaunlich, sehens- und hörenswert: Im Musikdrama, von Bradley Cooper inszeniert, bieten die beiden Hauptdarsteller Lady Gaga und Cooper schauspielerisch und musikalisch eine Performance, die zum Kinoerlebnis wird. Viel mehr Worte muss man über diesen Kinoknüller nicht mehr verlieren. Nur so viel zu Story: Der Countrysänger Jackson Maine (Cooper), dem die Flasche näher ist als seine Gitarre, verguckt sich in die Gelegenheitssängerin Ally (Lady Gaga), fördert sie, liebt sie und scheitert an ihr. Sie, die Songwriterin und elektrisierende Sängerin (grandios u.a. ihr «La vie en rose»), verliert sich und ihn.
Die Oscars werden purzeln – angesichts dieses grandiosen Starvehikels, an dem Bradley Cooper als Produzent, Regisseur, Schauspieler und Sänger freilich noch grösseren Anteil hat als Lady Gaga, die sich selber übertraf. Melodramatisches populäres Kino vom Besten – über 136 Minuten.
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Girl
rbr. Das tut grausam weh. Die sechzehnjährige Lara quält sich mit dem Spitzentanz (en pointe). Eben die harte Schulung in einer Brüsseler Elite-Ballettschule: Sie will Ballerina werden. Eigentlich hätte sie damit bereits vor zehn Jahren anfangen müssen, erklärt ihr die Tanzlehrerin. Die Folge: Sie «kasteit» ihre Füsse bis aufs Blut. Doch das ist nicht das einzige Problem. Die Teenagerin steckt sie (noch) im Körper von Viktor. Sie wartet ungeduldig auf die entscheidende, geschlechtsangleichende Operation. Doch der Prozess der Geschlechtsumwandlung braucht Zeit, fordert Körper und Seele. Lara hiess Viktor und wird von ihrem kleinen Bruder Milo (Oliver Bodart) in einer heftigen Auseinandersetzung schmerzhaft daran erinnert. Ihr Vater Mathias (Arieh Worthalter) behütet und begleitet sie verständnis- und liebevoll auf ihrem Gender-Weg zur Frau. Ärztin wie Psychologe unterstützen sie mit viel Einfühlungsvermögen, mahnen zur Geduld und raten zur Aufgabe ihrer Tanzambitionen.
Lara widersteht trotz Widrigkeiten. Sie fühlt sich in ihrem Körper gefangen, will endlich auch physisch eine ganze Frau werden. Die Hormonbehandlung geht ihr zu langsam. Sie sehnt sich nach Brüsten. Die Mittänzerinnen sind eingeweiht, gleichwohl stellen sie Lara bloss. Der Teenager kämpft an zwei Fronten – als Pubertierende zwischen Knabe und Mädchen und als Tanzelevin. Lara ist stark und verlangt ihrem Körper verbissen alles ab. Die Kamera (Frank van den Eeden) bleibt hautnah, geradezu schmerzhaft nahe an der Heldin und ihrem Körper. Lara tut alles, um die zu werden, die er/sie sein möchte. Verständnisvoll und sensibel beschreibt Lukas Dhont aus Gent in seinem Erstlingsfilm den Prozess – physisch wie psychisch – einer Reifung und Selbstfindung. Das sehr intime Melodrama über Transformation und die komplizierte, alles abverlangende Geschlechterumwandlung ist auch die Geschichte einer Leidenschaft einer jungen Frau im Umbruch. Viktor Polster verleiht der Protagonistin ungemein Ausdruck. Eine grandiose schauspielerische Leistung des 16jährigen Belgiers, selbst ausgebildeter Tänzer, der den Film zu einem Erlebnis werden lässt. Das Drama um Selbstfindung wurde am Zurich Film Festival mit dem Goldenen Eye ausgezeichnet. Zuvor hatte «Girl» in Cannes die Camera d’Or Award gewonnen, Victor Polster wurde mit einem Jury-Preis (Un Certain Regard) belohnt.
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Fahrenheit 11/9
rbr. Polit-Provokateur mit Power. Sein Markenzeichen ist die Provokation. Dafür ist er bekannt und bei Betroffenen berüchtigt. Das trifft auf das Objekt seiner neuen «filmischen Begierde» wohl kaum zu: An US-Präsident Donald Trump tropfen solche satirischen Attacken und Pamphlete ab, die er als Fake-News abtut. Eine Provokation der Marke Moore mag Gegner bestärken, aber Betroffene wenig jucken. Es sei denn, sie heissen Rick Snyder. Der ist seit 2011 Gouverneur des Staates Michigan und mitverantwortlich an der Wasserkrise von Flint, der Heimat Moores, wo Einwohner vergiftetem Wasser ausgesetzt waren, wo Gouverneur Snyder zuerst gar nicht, dann zu spät und halbherzig reagierte. Er ist ebenso Zielobjekt wie jener selbstherrlicher «America First»-Prediger, dessen Wahl 2016 der Filmer Michael Moore vorhersagte. Sein angriffiger Dokumentarfilm «Fahrenheit 11/9» meint jenen 9. November, als Trumps Wahlsieg feststand und spielt im Titel aber auch auf den berüchtigten Attentatstag, der die USA veränderte, und auf den eigenen Film von 2004 an. «Fahrenheit» erinnert ebenso an den Roman «Fahrenheit 451» aus dem Jahr 1953, wo Bücher verboten und die Gesellschaft von einem rigiden System unmündig gemacht wurde.

Provokateur Moore («Bowling für Columbia») fragt sich nicht nur, wieso es zum Trump-Erfolg kommen konnte, sondern auch wie die USA aus dem Polit-Desaster herausfinden könnten. Optimistisch klingt das freilich nicht. Der grosse Fake-Marktschreier wird all seine Personal- und Politaktionen stur und unverfroren aussitzen. Hoffnung machen allein die Kids und jungen Wähler, die infolge des Schulmassakers in Parkland, Florida, auf die Strassen gingen und gegen die Waffenlobby, von Trump hofiert, protestierten, und die Frauen, die neues Selbstbewusstsein entwickeln und infolge der Me-Too-Bewegung ihre Stimmen erheben. Moore, soviel muss man ihm zugutehalten, mag pöbeln und provozieren, macht aber keine schlechten, billigen Witze über eine Witzfigur, welche die USA präsidiert. Sein Agitprop-Film, dem man sich als vernünftiger europäischer Zeitgenosse kaum entziehen kann, stellt eines klar: Dieser Präsident ist gefährlich, wenn man ihn verharmlost und nicht ernst nimmt. Gewagt, aber letztlich zutreffend: Moore lässt den grössenwahnsinnigen Hitler auftreten und legt ihm Trump-Worte in den Mund. Nach dem Motto: Wehret den Anfängen! Nur ist zu befürchten, dass «Fahrenheit 11/9» überwiegend Trump-Kritiker, Skeptiker und Gegner sehen werden. Die, die es angeht und die Trump gewählt haben, werden den angriffigen und aufklärenden Moore-Film meiden wie die Pest.
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Le Grand Bal
rbr. Tanz total. Sie strömen aus allen Landesteilen und dem Ausland zusammen, um sieben Tage und acht Nächte dem Tanz zu frönen, zu huldigen, sich hinzugeben und auszuleben. Le Grand Bal findet seit 30 Jahren in Frankreich statt, in Gennetines, Departement Allier. Der Grosse Ball – das sind verschiedene Bälle auf acht bis neun Tanzflächen mit insgesamt 500 Musikern und rund 2000 Tanzbesessenen. Da wird die Nacht zum Tag und umgekehrt. Man bewegt und tanzt als Paar, in der Menge, wird zur Welle, lässt sich tragen, verschmilzt mit der Musik, dem Walzer, der Polka oder Mazurka. Die französische Filmerin und Tänzerin Laetitia Carton hat 200 Stunden Filmmaterial mit vier Kameraleuten (sie selbst inbegriffen) im Sommer 2016 eingefangen und in einem Jahr zu einem prickelnden, pulsierenden Film verdichtet (Schnitt: Rodolphe Molla). «Diese Emotionen, diese Geselligkeit, diese geteilte Energie, die aus dem Kollektiv entsteht, sind sonst unauffindbar», bemerkt die Filmautorin. «An diesem Ball sind wir ganz einfach alle Tänzer und Tänzerinnen. Es hat keine Reiche oder Arme, keine Kostüme, keine soziale Klassen. Die ganze Welt wird in einer Nacht durchmischt.» Auch wer nicht am Grossen Ball je teilgenommen hat, kann sich von Lust am Tanz, von der Magie des Loslassens, des Schwebens anstecken lassen und Lebenslust schöpfen. Es ist ein Fest der Berührungen, wo Körper sich finden, Ausdruck fast schon überirdischer Befreiung. Punktuell sparsam gibt der Dokumentarfilm Einblicke in den «Alltag», in der Küche, an der Zeltstrasse, bei Workshops, beim Austausch von Tanzteilnehmern. Im Fokus steht doch der Akt rhythmischer oder verträumter Bewegungen allein, zu zweit, in Gruppen, in Wellen. Man kommt sich nah, spürt Innigkeit, unabhängig vom Geschlecht: Zeugnis der Innigkeit und Hymne auf sprachlose Verschmelzung.
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Werk ohne Autor
rbr. Deutsch-deutsches Künstlerschicksal. Mit den ersten Bildern tauchen wir tief in die deutsche Vergangenheit. 1937, in Dresden wird die «Entartete Kunst» von den Nazis zur Schau gestellt. Der Ausstellungsführer (Lars Eidinger) kommentiert sarkastisch-rassistisch die Werke von Picasso und anderen geächteten Künstlern im völkischen Sinn. Stumm und distanziert beobachtet die junge Elisabeth (Saskia Rosendahl) diesen Vorgang, an ihrer Hand der Knabe Kurt. Und sie gibt ihm eine Mahnung mit auf den Lebensweg: «Nie wegsehen, Kurt! Alles Wahre ist schön.» Dieses Erlebnis wird ihn prägen wie auch seine Liebe zur schönen Tante. Sie ist eine eigenwillige Persönlichkeit, träumerisch, trotzig, unangepasst, die auch mal nackt am Klavier sitzt und ihre Momente der Freiheit lebt. Das wird ihr zum Verhängnis. Engste Verwandte fürchten, sie sei nicht normal. Und so gerät sie in die Hände des Leiters einer psychiatrischen Anstalt. Der menschenverachtende SS-Prof. Carl Seeband (Sebastian Koch) trägt wesentlich zur Verschärfung der Euthanasie-Strategie der Nazis bei. Elisabeth, die eigenwillige, wird wie Tausende «entarteter» Menschen in die Gaskammern geschickt.
Es sind diese Bilder, die von manchen Kritikern auch als zu klischeehaft taxiert werden, die hängenbleiben, die das Leben, das Leid im Nazi-Deutschland auf den Punkt bringen. Dazu gehören auch die Bombardierung Dresdens, das «Kunst»-Leben in der DDR und im Westen. Der erwachsene Karl Barnet (Tom Schilling) wird zum Freskenmaler, der die Studentin Elisabeth (Paula Beer) kennen und lieben lernt. Wegen ihrer Ähnlichkeit mit der verschleppten Tante Elisabeth nennt er sie lieber Ellie. 1961, kurz vor dem Mauerbau, verlassen sie die DDR. Er findet einen Studienplatz an der Düsseldorfer Kunstakademie und begegnet jenem berühmten Prof. Beuys, im Film Prof. Antonius van Verten (Oliver Masucci), der Filz und Fett zur Maxime erhoben hat (seine Kriegsgeschichte streift der Film). Der junge Maler Kurt Barnert sucht seinen Stil, sein Ausdrucksmittel und findet es in alten Fotografien, die er «abmalt», in Grautöne taucht und verfremdet. Er verarbeitet so nicht nur seine Jugend (Nazis und Krieg), sondern entlarvt unwissentlich seinen Schwiegervater, eben jenen SS-Arzt, der Menschen vernichten liess. Nur ist dies dem Künstler nicht bewusst, dem Zuschauer sehr wohl.
Man mag darüber streiten, ob man auf diese Weise, die deutsch-deutsche Geschichte und Kunst von den Dreissiger- bis in die Sechzigerjahre des letzten Jahrhunderts aufbereiten und dramatisieren darf und sollte. Man sollte – fürs Kino. Oscarpreisträger Florian Henckel von Donnersmack («Das Leben der Anderen») fächert diese Stück Zeitgeschichte etwas lang in dreieinhalb Stunden auf – bisweilen plakativ (wie bei Szenen in der DDR oder in der Kunstakademie im Westen), meistens aber eindrücklich menschlich und ergreifend.
Es ist müssig darüber zu streiten, wie weit dieser Spielfilm dem Künstlerstar Gerhard Richter oder Joseph Beuys gerecht wird. Richtig ist, dass Donnersmarcks Werk biografische Anleihen bei dem genannten Künstler gemacht hat (Richters Tante fiel tatsächlich Nazi-Ärzten zum Opfer und sein erster Schwiegervater gehörte zu den Nazi-Tätern).
Vor allem aber ist «Werk ohne Autor» (ein etwas nebulöser Titel, der wohl «Werk aus der Wirklichkeit» meint) ein beeindruckendes Zeitbild, teilweise ein Schaustück über Kunst, Ideologie und Findung, vor allem ein Liebesfilm. Es ist keine Künstlerbiografie, keine Abrechnung mit der DDR, wohl aber eine deutsch-deutsche Tragödie und ein spannendes Geschichtsmemorandum. «Werk ohne Autor» wurde für den Oscar nominiert.
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Der Läufer
rbr. Ins Verderben gerannt. Verbissen trainierte er für Waffenläufe – gewann den Frauenfelder 1998 mit 23 Jahren und war jahrelang erfolgreich, erlebte Rückschläge. Sein Ziel war jedoch die Teilnahme am Marathon bei den Olympischen Spielen. Jonas Widmer, so heisst der Held im Spielfilm «Der Läufer», führt anscheinend ein normales Leben, ist als Koch beliebt und mit Simone (Annina Euling) liiert. Alles in Butter? Nein, denn Jonas hat «Aussetzer». Er hat den Selbstmord seines Bruders Philipp kurz nach seinem Siegeslauf in Frauenfeld nie verkraftet. Nachts tigert er durch die Strassen Berns, überfällt Frauen, raubt ihre Taschen, bedroht sie, verletzt sie – eine unter ihnen tödlich. Jonas schickt einigen Opfern Partikel der Beute zurück – handschriftlich. Das wird ihm zum Verhängnis. Der Mann, der als «Mitternachtsmörder» Bern in Angst und Schrecken versetzt hat, wird gefasst.
Max Hubacher («Mario») bietet als Jonas nicht zum ersten Mal eine überragende schauspielerische Leistung, überzeugend bis zur letzten Pore und Muskel. Er hat sich in seinen Part akribisch eingelaufen und eingefühlt. Er gibt dem Täter nicht nur ein Gesicht, sondern zeigt ihn auch als getriebenen Menschen. Regisseur und Autor Hannes Baumgartner aus Männedorf versucht in seinem Spielfilmdebüt, die unbegreiflichen Aktionen und Vergehen des Berner Langstreckenläufers Mischa Ebner, der 2002 im Regionalgefängnis Thun Selbstmord beging, nachzuzeichnen. Das gelingt nur phasenweise. Er beschreibt mit viel Empathie einen Menschen, der ein Doppelleben führt. Jonas/Mischa wird jedoch nicht greifbar und verständlich als Läufer und Täter. Das gesteht der Filmer auch: «Das Schreckliche soll nicht länger unerklärlich bleiben. Im Laufe unserer mehrjährigen Recherche musste ich jedoch feststellen, dass sich das tragische Verhalten unserer Hauptfigur nicht monokausal begründen lässt.» Der Film erfasst verschiedene Ursachen und die Vernetzung verschiedener Faktoren und Erlebnissen. Doch der Titelheld, seine verschütteten Gefühle und unkontrollierten Gewaltakte (scheinbar ohne sexuellen Antrieb) bleiben ein Rätsel und lassen einen ratlos zurück.
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«Grüner wird’s nicht, sagte der Gärtner und flog davon»

rbr. Abheben und ausbrechen. Ihm steht das Wasser bis zum Halse. Er steht vor dem Bankrott. Der grantelnde Gärtner Schorsch (Elmar Wepper) hat die Nase voll. Ein Kunde nörgelt über das Grün des «Grün» des Golfplatzes am Tegernsee und will die Kosten über 83 000 Euro nicht zahlen. Als dann auch noch der Gerichtsvollzieher seinen geliebten Doppeldecker pfänden will, zieht Schorsch nicht die Reissleine, sondern setzt sich hinter den Steuerknüppel seines «Kiebitz» und hebt ab auf Nimmerwiedersehen. Sein Ziel: das Nordkap und die Nordlichter. Bei einer Notlandung (das Benzin ging ihm aus) kriegt er den Tipp, seine Fähigkeiten als Gartengestalter bei einem spinnigen Landbesitzer bei Düsseldorf zu Geld zu machen. Zum Schlossbesitzer Richard von Zeydlitz (Ulrich Tukur) und seiner «abgehobenen» Liaison namens Evelyn (Sunnyi Melles) führt ihn eine Göre namens Philomena (Emma Bading), die punkige Tochter. Und die wittert ihre Chance, auszubrechen und hängt sich fortan an Schorsch wie eine Klette. Sie, die blinde Passagierin, wird er nicht so leicht nicht mehr los. Dabei wächst sein Verständnis und Zuneigung zur Rebellin. Der Teenager und der Senior schliessen Freundschaft und landen schliesslich via Sylt (Besuch der Grossmutter) im Brandenburger Niemandsland – auf einem stillgelegten Flughafen. Hier hat sich die Mechanikerin und ehemaliger Agrarpilotin Hannah (Dagmar Manzel) eingerichtet (der Mann hat sie im Stich gelassen). Schorsch, der seine Familie, Frau (Monika Baumgartner) und Tochter Miriam (Karolina Horster), verlassen hat, trifft also auf eine desillusionierte und misstrauische Verlassene. Schorsch muss sich entscheiden und reinen Tisch machen. – Nach dem Roman Jockel Tschierschs inszenierte Florian Gallenberger eine «abgehobene» Roadromanze über verkrustete Verhältnisse und Befreiung, Aufräumen und Entscheiden, Träume und Wirklichkeit. Bei diesem Luftroadie und Liebesfilm zum Leben entwickelt sich Elmar Wepper als Schorsch vom Miesepeter zum Sympathikus, der alte Lasten ablegt und sich wandelt. Märchenhaft positiv.
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Out of Paradise
rbr. Nomadenschicksal. Eine einfache Geschichte, aber ein reicher Film – an Bildern, Eindrücken, Gefühlen. Schauplatz sind die mongolische Steppe und Ulaanbaatar, die Hauptstadt der Mongolei. Der Nomade Dorj (Bayarsaikhan Bayartsengel), wortkarg und etwas mürrisch, sorgt sich um seine schwangere Frau Suren (Enerei Tumen). Nach zwei Fehlgeburten ist höchste Achtsamkeit und medizinische Versorgung geboten. So entschliesst sich das Paar, ein Spital in der Hauptstadt aufzusuchen. Dort werden sie mit bürokratischen Hürden (Formulare, Dokumente) und Geldforderungen konfrontiert. Sie besitzen keine Barschaft, und deshalb soll Dorj die goldenen Ohrringe seiner Frau versetzen. Prompt verliert er einen und ist jetzt erst recht mittellos. Auf seine Suche in der Grossstadt macht er die Bekanntschaft der «Nachtschwärmerin» Saraa (Erdenetsetseg Tsend-Ayush), einer Prostituierten. Die hat Mitleid mit dem Mann vom Land und animiert ihn, in einer Bar an einem Karaoke-Wettbewerb teilzunehmen. Tatsächlich gewinnt Dorj mit einem eigenen Lied. Mit dem Preis könnte er den Spitalaufenthalt bezahlen. Doch den Gewinn ist er noch in derselben Nacht los. Saraas Zuhälter Jack (Adiyabaatar Rina) fordert ihren Lohn, den sie bei Dorj nicht eingefordert hat. Jack und Kumpanen lauern am Morgen Dorj auf, um aus ihm das Geld rauszuprügeln. Als Jack stirbt, hauen die Kollegen ab, und Dorj erfährt, dass er Vater geworden ist…
Autor und Regisseur Batbayar Chogsom, 1974 in der Mongolei geboren, ist im Alter von 26 Jahren in die Schweiz übersiedelt und hat in Zürich studiert. Er schuf mit «Out of Paradise» seinen ersten Spielfilm. Der spielt auf zwei Ebenen, auf einer ländlichen und einer städtischen. Hier das Nomadenpaar, das bittere urbane Erfahrungen machen muss, dort der Taxifahrer und Zuhälter Jack, der bei seiner Mutter lebt und Menschen wie den ahnungslosen Dorj «ausbeutet». Diese Reise in die (städtische) Finsternis ist gleichzeitig Reifeprozess und Probe einer Liebe.
Am Ende bricht Dorj auf, um den Führerschein zu machen. Das Nomadenleben ist nur überlebensfähig, so scheint es, wenn man sich mit dem Fortschritt, sprich Mobiltelefon, Motorisierung, Geld arrangiert. Die Landflucht erhält hier ein Gesicht durch das Nomadenpaar, das seine Unschuld verliert. Dieses mongolische Drama, fotografiert von Simon Bitterli und produziert vom Schweizer Simon Hesse, erzählt auch vom ewigen Kreislauf Liebe – Geburt –Tod. Und zwar auf überzeugende, ungeschminkte Weise im Stile eines Dokumentarfilms – realistisch und bewegend.

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Wo bist du, João Gilberto?
rbr. Warten auf Gilberto. Seine Lieder, sein Sound gingen um die Welt. Bei «Chega de Suadade» oder «Girl from Ipanema» klingelt es doch in den Ohren. Diese Bossa-Nova-Klassiker (1958) stammen vom Brasilianer João Gilberto. Doch wer ist diese Musiklegende, was macht Gilberto, wo steckt er? Der Schweizer Georges Gachot, inspiriert vom Buch «Hobalala» des Deutschen Marc Fischer, hat sich auf die Suche gemacht. Er folgt den Beschreibungen des Journalisten Fischer, der kurz vor Erscheinen des Buches über João Gilberto verstarb. Er begegnet Bekannten und Musikgefährten, der Ex-Frau Gilbertos und Interpretin Miúcha beispielsweise, den Freunden und Komponisten João Donato, Roberto Menescal und Marcos Valle, dem Manager Octavio Terceiro oder dem Imitator Anselm Rocha. Ein Spiel, eine Suche wie bei Godot. Man vermutete Gilberto in einem Hotelzimmer in Rio de Janeiro. Detektiv Gachot ist nahe dran, hat Geduld, reist ab, kehrt wieder und verbucht ein kleines Erfolgserlebnis. João Gilberto bleibt ein Geist, dessen Musik über allem schwebt. Gachots Dokumentarfilm ist denn auch weniger ein Porträts des berühmten Musikgeistes, viel mehr eine Liebeserklärung an den Bossa Nova, und der Versuch, ein Mythos, ein Phänomen zu fassen und lächelnd zu scheitern.
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Place publique
rbr. Eine Party läuft aus dem Ruder. Schauplatz ist eine Landvilla 35 Minuten von Paris. Hier hat die Agentin Nathalie (Léa Drucker) Gäste zur Einweihung ihres stattlichen Sitzes eingeladen, willkommene und weniger willkommene. Ein Grossteil der Partygäste sind Medienstars. Darunter tummeln sich Nathalies Schwester Hélène (Agnès Jaoui), zurzeit solo, und ihr Ex-Mann Castro (Jean-Pierre Bacri), ein Ekel von Angeber und Selbstdarsteller. Der Störenfried und TV-Talker, dessen TV-Karriere bald zuende gehen dürfte, gibt mit seiner neuen Flamme an, die dann aber doch von der Leine zieht. Und da ist auch die Schriftstellerin Nina (Nina Meurisse), Castros Tochter, die mit seinem Chauffeur Manu (Kevin Azaïs) anbändelt, der auf der Gartenparty gefeuert wurde. Dazukommen die Aushilfskellnerin Samantha (Sarah Suco), die lieber flirtet als serviert, Nathalies russischer Begleiter Pavel (Miglen Mirtchev) und ein Nachbar aus der bäuerlichen Nachbarschaft, der dem ganzen Lärm ein Ende bereiten möchte.
Man sieht, es kommt bei dieser Landparty, die aus dem Ruder läuft, viel Volk zusammen, verschiedene Klassen, verschiedene Interessen, verschiedene Charaktere. Agnès Jaoui, die das Buch schrieb, Regie führte und eine Hauptrolle spielte, lieferte eine turbulente Sozialkomödie mit Lust und Leben, kritischen Zwischentönen und Klamauk. Sie hat sich einen Spass gemacht, der teilweise zündet, aber auch verpufft. Ein bisschen mehr Pfeffer statt Getöse hätte gutgetan. Immerhin zeigt sie, dass Klassenunterschiede nicht gelöst sind, die Gesellschaft ahnungslos scheint und abwirtschaftet. «Es scheint mir oft», meint die Filmemacherin, «das wir auf einem Vulkan tanzen, es gibt die Idee, dass wir dabei lachen, aber dass es sehr viel schlimmer enden könnte. Ich verstehe zutiefst, dass die Menschen, die sich vernachlässigt fühlen, die Nase voll haben, auch wenn sie meines Erachtens sich in der Lösung des Problems täuschen und für die Extreme stimmen.»

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Gundermann
rbr. Ein DDR-Antiheld. Er wirkte wie ein Schlaks, ein blasses Bürschchen, eine unscheinbare Type. Gerhard Gundermann, 1955 in Weimar geboren, arbeitete als Baggerfahrer im Lausitzer Braunkohlerevier, selbst dann noch, als er als Liedermacher bekannt war und von der Musik leben konnte. Der überzeugte Sozialist «Gundi» Gundermann war ein Querkopf und -denker, ein aufsässiger Arbeiter, der nicht kuschte und auch mal DDR-Parteibonzen anraunzte und kritisierte. Der unbequeme Parteigenosse wurde von der Partei gerügt, ausgeschlossen «wegen prinzipieller Eigenwilligkeit». In seinen Liedern widerspiegeln sich Alltag, Leben im Revier, Arbeitslosigkeit, Umwelt und persönliche Erfahrungen in der DDR. Er arbeitet mit verschiedenen Bands (Brigade Feuerstein, Seilschaft, Silly) und trat auch als Vorgruppe bei einer Bob Dylan-Tournee (1994) auf. Gundermann war verheiratet, ein Asket und Arbeitstier. Er starb im Juni 1998 just 43 Jahre alt, der «singende Baggerfahrer aus der Lausitz», im Westen kaum, bei uns gar nicht bekannt.
Andreas Dresen («Als wir träumten»), Filmfachmann für realistische Zeitgeschichten, blendet in seinem kompakten Biopic die Siebziger- bis Neunzigerjahre auf. Die Maloche im Braunkohleabbau, die Ohnmacht der Arbeiter, die Hochnäsigkeit der Funktionäre und mittendrin der Baggerfahrer, der in seinen Liedern und auch sonst kein Blatt vor dem Mund nimmt. Gerhard «Gundi» Gundermann duckt nicht, sondern muckt auf. Ein Mensch in der DDR, zerrissen zwischen Idealen und Wirklichkeit, zwischen System und Eigenwilligkeit.
Auch Gundermann geriet in die Fänge der Stasi, liess sich als Spitzel anwerben, schwärzte Bonzen, aber auch Kollegen an. Das kam nach der Wende ans Licht, Gundermann stellte sich, bekannte und wusste, damit hatte er «Verrat an sich selbst» begangen: «Ich werde nicht um Verzeihung bitten. Aber mir selbst kann ich nicht verzeihen.»
Behutsam, liebevoll inszeniert Dresen dieses Drama über Verstrickungen, Verrat, Verdrängen, Verlust, aber auch über Bedauern, Liebe, Musik und Identitäten. So entstand ein differenziertes Bild über ein Stück DDR, ungeschönt, aber gleichwohl verständig, einfühlsam und wahrhaftig. Das ist natürlich der Hauptfigur «Gundi», dem schrulligen Sozialisten, zu verdanken, glaubwürdig grandios verkörpert durch Alexander Scheer («Tschick», «Gladbeck»), der alle Gundermann-Lieder selber singt. Anna Unterberger als Ehefrau Conny überzeugt ebenso wie Axel Prahl als Führungsoffizier, Milan Peschel als Kollege Volker, der bespitzelt wurde, Peter Sodann als Veteran oder Thorsten Merten als Puppenspieler. Gundermann, der Antiheld in all seiner Widersprüchlichkeit, mit Stärken und Schwächen, wird zum Zeitzeugen einer DDR, die hier für einmal nicht nur aus Schwarz und Weiss, aus Bonzen und Betroffenen besteht.
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Chris the Swiss
rbr. Vom Reporter zum Söldner. Als zehnjähriges Mädchen erfährt Anja Kofmel vom Tod ihres Cousins Christian «Chris» Würtenberg. Er starb 1992 als Söldner nahe der serbischen Grenze, 27 Jahre alt. Dies Ereignis liess sie nicht mehr los, verfolgte sie wie eine grosse Unbekannte. Anja Kofmel 1982 in Lugano geboren und in der Nähe Zürichs aufgewachsen, studierte Animation in Luzern, Paris und nahm an Workshops in London teil. Schon ihr Diplomfilm «Chrigi» (2009) befasste sich mit jenem jungen Schweizer, den der Krieg in den Neunzigerjahren nach Jugoslawien lockte. Im Banne dieser tödlichen Auseinandersetzung wurde Berichterstatter «Chris the Swiss» zum Söldner, der sich freiwillig der First Platoon of International Volunteers (PIV) angeschlossen hatte und ermordet wurde. «Mit der Todesnachricht damals kam sozusagen das Böse in mein Leben», erinnert sich Anja Kofmel. «Ich habe den Cousin nicht einmal besonders gut gekannt, aber ich habe ihn, den Journalisten, irgendwie bewundert, der viel gereist, in Thailand, in Südafrika gewesen ist. Er hat irgendwie meine Phantasie, meine eigene Abenteuerlust angeregt. Später, als ich in seinem Alter war, hat mich dann die Frage beschäftigt, warum stirbt einer so jung und dann noch so brutal? Was war da passiert?».
Zwanzig Jahre nach dem Todesfall entschloss sich die angehende Filmerin, den Spuren ihres Cousins zu folgen und einen Film über sein verhängnisvolles «Abenteuer» in Kroatien, seinen fatalen Einsatz und seine Fehleinschätzung zu drehen. Sie nutzte Animationssequenzen, um die Kinderperspektive, ihre Erinnerungen und den letzten Lebensabschnitt des Cousins zu visualisieren. Dazu kommen persönliche Reiseeindrücke aus dem heutigen Kroatien, Gespräche mit Kollegen, Journalisten, beteiligten Söldnern und Bekannten. Auch die Familie äussert zum «Fall Chris». So entstand ein düsteres Bild über Krieg und Männer, über Gewalt und Täter, die ihr erliegen. Die Verbindung von Animation und Realaufnahmen verdichtet sich zu einem einzigartigen Dokumentarwerk, das keine definitive Klärung über «Chris the Swiss» und seinen gewaltsamen Tod bietet, aber einen starken Eindruck macht über Menschen, die zu Kriegern werden, über Verrat, Verletzungen und Verluste. Dabei wirken die animierten schwarzweissen Bilder, in einem kroatischen Studio entwickelt, suggestiv, verstörend und vertiefend, begleitet von einem unheimlichen Sound (eingespielt von einem Orchester in Budapest).
Anja Kofmel ist mit diesem «Gesellenstück» ein Meisterstück gelungen. Eine Ausstellung informiert über die akribischen Entstehung des Films und vertieft gleichzeitig die Ambitionen der Filmautorin Anja Kofmel: «Making of exibition on ‚Chris the Swiss’» im Animatorium, Leuengasse 15, Zürich, bis 22. September 2018.
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ALPHA

I.I. Grandioses Naturspektakel. Vor 20’000 Jahren, während der letzten Eiszeit, verläuft die erste Bison-Jagd des jungen Keda (Kodi Smit-McPhee, «X-Men», «Dawn oft he Planet of the Apes») mit seinem Stamm der in Westeuropa verbreiteten Kultur der Solutréen fast tödlich. Ein Bison nimmt ihn bei der Verfolgung während der Jagd auf die Hörner, Keda stürzt schwer verletzt die steilen Klippen auf einen Felsvorsprung und wird als tot geglaubt zurückgelassen. Ein Aasgeier will den Bewegungslosen angreifen, der wieder zu sich kommt und sich seiner Lage bewusst wird. Die Klippen reichen noch tiefer hinunter, doch nach einem starken Regenfall hat sich unten im Flussbett Wasser gesammelt und Keda springt in die Fluten hinunter. Sein Bein ist gebrochen und er versucht humpelnd, auf festen Boden zu gelangen. Er trifft auf einen verwundeten und von seinem Rudel zurückgelassenen Wolf, den er langsam versucht zu zähmen und mit dem er seine missliche Lage teilt. Wolf und Mensch kämpfen ums Überleben in der erbarmungslosen rauen Wildnis und überstehen gemeinsam zahlreiche Gefahren. Als der Winter naht, müssen Keda und der Wolf unbedingt den Weg nach Hause finden. Regisseur Albert Hughes schuf mit den Naturaufnahmen ein atemberaubendes episches Abenteuer.
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UTØYA 22. Juli
I.I. Grauenvolles Massaker in Norwegen. Die 18-jährige Kaja (Andrea Berntzen) und ihre jüngere Schwester Emilie (Elli Rhiannon Müller Osbourne) wollen einige unbeschwerte Ferientage trotz Regenwetter in einem Sommercamp auf der norwegischen Insel Utøya verbringen. Wegen eines Streits gehen die Schwestern auseinander und nicht zusammen zum Barbecue, wo Kaja mit anderen Jugendlichen lebhaft diskutiert, als plötzlich Schüsse fallen. Mit einigen Teilnehmern des Camps versteckt sie sich im Wald, in der Annahme es handle sich vielleicht um einen Polizeieinsatz. Die Schüsse hören nicht auf und hallen in gefährlicher Nähe durch den Wald. Die junge Frau versucht verzweifelt, ihre Schwester zu finden. Das Blutbad, das der Rechtsextremist Anders Breivik am 22. Juli 2011 auf der nahe Oslo gelegenen Insel Utøya unter den jugendlichen Teilnehmern eines Zeltlagers der sozialdemokratischen Arbeiterpartei anrichtete, – acht Menschen waren kurz zuvor bei seinem Bombenanschlag im Regierungsviertel in Oslo ums Leben gekommen -, forderte 69 Todesopfer. Der norwegische Regisseur Erik Poppe («The King’s Choice») verfilmte das 72 Minuten dauernde Massaker in Echtzeit und in einer einzigen Einstellung ohne Schnitt. Die Protagonisten des Films sind fiktiv, die Geschehnisse basieren auf den Erzählungen der Opfer. Fokussiert ist die Geschichte auf Kaja, die beherzt und mutig versucht, in Bedrängnis anderen zu helfen. Trotz beklemmender Szenen, die das Geschehen aus der Sicht der Opfer und Beteiligten schildern und dem Gewalttäter keinen Raum gibt, der nur schemenhaft im Hintergrund sichtbar ist, wirkt der Film authentisch und nicht voyeuristisch. Im Nachspann des Film wird auf die erhöhte Terrorgefahr der Rechtsextremen hingewiesen.
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Jusqu’à la garde
I.I. Brisantes Scheidungsdrama. Ein beklemmendes Sorgerechtsdrama mutiert zu einem düsteren, nervenaufreibenden Thriller. Nach der Trennung von ihrem unberechenbaren, gewalttätigen Ehemann Antoine (Denis Ménochet) kämpft Miriam Besson (Léa Drucker) um das alleinige Sorgerecht für ihren gemeinsamen Sohn Julien (Thomas Gioria). Die Richterin entscheidet, dass Julien jedes zweite Wochenende bei seinem Vater verbringen soll. Trotz dieser Regelung sinnt Antoine nur auf Rache. Auch wenn man befürchtet, dass die bedrohlich brodelnde Gefühlsmelange aus Angst, Verunsicherung, Eifersucht und gekränktem Stolz zu einem Eklat führen wird, wird man vom erschütternden Finale überrascht. Dass der Film unter die Haut geht, liegt auch an der glaubwürdigen Handlungsentwicklung, die direkt aus dem wahren Leben gegriffen zu sein scheint Mit seinem in Venedig mit dem Silbernen Löwen ausgezeichneten Filmdebut «Jusqu’à la garde» legt der Franzose Xavier Legrand zum brisanten Thema häuslicher Gewalt ein eindringliches Zeugnis der Eskalation eines Sorgerechtdramas vor.
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Crazy Rich

I.I. Charmante Komödie. Die erfolgreiche New Yorker Wirtschaftsprofessorin Rachel Chu (Constance Wu) begleitet ihren langjährigen Lebensgefährten Nick Young (Henry Golding) zur Hochzeit seines besten Freundes nach Singapur, wo er als Trauzeuge eingeladen ist. Rachel freut sich auf ihre erste Asienreise, doch die Begegnung mit Nicks unbekannter Familie steht ihr noch bevor. Unvorbereitet erfährt sie Einzelheiten aus Nicks Leben, die er ihr vorenthalten hatte. Er ist nicht nur der Spross einer der reichsten Familien des Landes, sondern auch einer der begehrtesten Junggesellen. Wo Rachel an Nicks Seite auftaucht, gerät sie ins Visier missgünstiger VIPler. Selbst Nicks Mutter (Yeoh) ist mit Rachel als Schwiegertochter in spe nicht einverstanden und zeigt ihr vehement die kalte Schulter. Der opulente Film mit einem Budget von 30 Millionen Dollar wurde ausschliesslich mit asiatischstämmigen Schauspielern besetzt, ein Novum. Man schwelgt in Dekos à la Versailles und protzt, was das Zeug hält. Mit Geld lässt sich jedoch nicht alles kaufen und so endet die moderne Aschenputtel-Story mit einem hart erkämpften Happy End. Jon M. Chu («Die Unfassbaren 2») inszenierte die in Asien begeistert aufgenommene romantische Komödie nach dem Bestseller von Kevin Kwan.
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Equalizer 2

I.I. Rächer ohne Furcht und Tadel. In einer Welt am Rande des Abgrunds mit korrupten Polizisten, Kindesentführern und bewaffneten Drogendealern ist Robert McCall (Denzel Washington) sozusagen die letzte Adresse für Geschlagene und Unterdrückte. Der Ex-Agent mit Gerechtigkeitssinn zeigt profunde Fähigkeiten, in Sekundenbruchteilen Gegner schachmatt zu setzen und sie selbst im fahrenden Auto zu entwaffnen. The Equalizer 2 ist pures Actionkino. Regisseur Antoine Fuqua («Training Day», «The Magnificent Seven») hat sich auf Actionfilme und Thriller spezialisiert. Für «Training Day» konnte Denzel Washington für seine Performance als korrupter Cop einen Oscar abräumen.
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303
I.I. Evolution und Politik im Wohnwagen. Die 24-jährige Biologiestudenten Jule (Mala Emde) hat ihre Prüfung vergeigt, der gleichaltrige Politikwissenschaftler Jan (Anton Spieker) hat eine Jobabsage und ohne voneinander zu wissen, brechen beide zeitgleich in den Süden auf. Nachdem Jan in Berlin von seiner Mitfahrgelegenheit versetzt wird, trifft er beim Trampen auf Jule, die mit ihrem alten Mercedes 303 Wohnmobil auf dem Weg nach Portugal ist, um dort ihren Freund zu treffen. Sie ist schwanger. Soll sie das Kind behalten? Jan will in Spanien seinen leiblichen Vater suchen. Macht der Kapitalismus den Menschen zum Neandertaler? Wie findet man die richtige Liebe, und welche Rolle spielen die Hormone dabei? Auf dem Weg nach Süden verstricken sich Jule und Jan in philosophische Grundsatzdebatten. Jan glaubt, der Mensch sei grundlegend egoistisch. Jule vertritt das Gegenteil, dass der Mensch auch altruistisch ist. Langsam kommen sich die beiden näher. Gesellschaftliche Fragen prägen das Werk von Hans Weingartner («Das weiße Rauschen» und Die fetten Jahre sind vorbei»). Um philosophische Fragen geht es auch in dem mitunter etwas langatmigen Roadmovie durch malerische Landschaften mit Elementen des Coming-of-Age-Dramas.
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The Children Act
rbr. Über Leben richten. Den Bestseller lieferte der bekannte Autor Ian McEwan und schrieb auch gleich das Drehbuch zu «The Children Act – Kindeswohl»). Richard Eyre («Iris») verfilmte es und geleitete Emma Thompson zu bestechender Hochform. Die Richterin Fiona Maye (Thompson), respektvoll «My Lady» genannt, hat meistens familiäre Krisenfälle auf dem Tisch. Sie hat darüber zu entscheiden, ob siamesische Zwillinge getrennt werden sollen. Zusammen haben die Babys keine Zukunft, einer könnte überleben. Sie entscheidet sich fürs Überleben. Ein anderer Fall geht ihr sehr nahe, erschüttert ihren Glauben an Gesetz und Menschlichkeit. Der 17jährige Adam (Fionn Whitehead), Zeuge Jehovas und von seinen Eltern stark beeinflusst, verweigert Bluttransfusionen. Er glaubt wie seine Eltern daran, dass in seinem Blut die Seele wohnt und nicht erneuert werden darf. Adam leidet an Leukämie. Hier bremsen Glaubensregeln und -treue medizinische Eingriffe, sabotieren Lebensfähigkeit. Die leidenschaftliche Richterin ergreift eine ungewöhnliche Massnahme und besucht den Kranken im Spital auf, um sich ein Bild zu machen, die eigene Meinung des Teenagers zu hören. Die Richterin stellt das Kindeswohl (Children Act) über Glaubenssätze und Prinzipien der Eltern. Sie entscheidet gegen Glaubensregeln der Zeugen Jehovas und seiner Eltern – für Adam und das Leben.
Sie ist seine Hoffnungsträgerin, er stellt ihr nach, sucht ihre Nähe, ihren Zuspruch. Sie weiss sich und ihm nicht zu helfen, distanziert sich, verliert sich. Ihre Ehe wird erschüttert, ihr Mann Jack (Stanley Tucci) ist nur noch Beiwerk und Gewohnheit. Er bittet sie, fremdgehen zu dürfen, und sie reagiert gereizt, beleidigt, will die Scheidung. Und dann wird sie mit der Frage konfrontiert, wie sie Adam entgegenkommen will und darf, wie weit sie dafür verantwortlich ist, dass er sich im Stich gelassen fühlt.
Der Film packt Zuschauer, bewegt und konfrontiert: Kann und darf ein Mensch vor seiner Religion, gewissen sektiererischen Vorgaben geschützt werden? Ian McEwans Überzeugung ist klar: «Adams Leben ist mehr wert als seine Würde.»
Nun ist «The Children Act» eigentlich kein Justizdrama, sondern ein Beziehungs-Liebesfilm, ein Plädoyer für das Leben. Die Ehekrise zwischen Fiona und Jack zieht sich wie ein roter Faden durch die dramatische Entwicklung, sie ist sozusagen das emotionale Echo und Ausdruck einer Gemeinsamkeit. Das Melodrama bietet starke intime Bilder, gradlinige Konfrontationen und Dialoge und vor allem herausragende Leistungen der Schauspieler. Emma Thompson hat man seit langem nicht mehr so präsent, so intim ausdruckstark gesehen. Fesselnd.

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Khook
rbr. Mordsmässige Satire. Das Leben ist ungerecht, erst recht im Iran. Hasan Kasmai (Fasan Majuni), angefressener Regisseur, könnte aus der Haut fahren und lebt von einem Wutausbruch zum nächsten. Seit Jahren steht er im Iran auf der schwarzen Liste und kann nur zweit- und drittklassige Werbefilme inszenieren – aufwendig, geschmacklos und ziemlich bescheuert. Hinzu kommt, dass seine angehimmelte Starschauspielerin Shiva (Leila Hatami) die Geduld verliert. Sie will das Angebot eines konkurrierenden Regisseurs annehmen. Diese Entwicklung stösst Hasan in ein grösseres Dilemma: Die Ehe kriselt, seine Tochter kehrt ihm den Rücken und seine Mutter verliert die Orientierung (im Kopf). Und dann das: Ein unbedeutender Filmer namens Mani Haghighi wird umgebracht. Sein grösster Konkurrent, Sohrab Saidi, der seine Shiva bereits am Wickel hatte, wird um einen Kopf kürzer gemacht. Immer wieder auf der Stirn der Opfer das eingeritzte «Khook» (bedeutet auf Iranisch Schwein). Wer ist da das Schwein? Er scheinbar nicht, denn er wird verschont. Als dann noch seine favorisierte Shiva ein grässliches Ende findet, gerät auch Hasan in Verdacht. Ist er der Killer? Hat er sie bestraft, wird er bestraft? Ein Plan muss her, auf Teufel komm raus! Und so könnte ein Tod in der Not nützlich sein.
Mani Haghighi (Buch und Regie) trägt dick auf. Da müssen Statisten für einen Werbespot gallertartige Masse spucken, rollen Köpfe, wird grosses «Theater» vom Kleinen gemacht. Choleriker Hasan motzt herum, badet in Selbstmitleid und versucht seinen Frust, im Luftgitarrespielen abzubauen, selbst in Einzelhaft. Filmer Mani Haghighi gibt zu, dass natürlich auch eigene Befindlichkeiten und Eigenarten wie Luftgitarre in seine deftige Abrechnung eingeflossen sind. Kein Wunder, geht es in seiner schrillen Satire um Filmen und einem Regisseur als Hauptakteur im Iran. «Ich dachte an all die Hürden, die man als iranischer Filmemach täglich in seinem Beruf erlebt: Autokratie und der brutale Hass, den sie in deiner Seele auslöst; die Ungerechtigkeit, wenn man auf die schwarze Liste gesetzt wird; die Sorge, unter Verdacht zu stehen beim Staat und beim Publikum.» All das und mehr verquirlt der Mann aus Teheran in seiner schonungslosen, spitzbübischen Satire, nicht ohne Selbstironie, deftigen Scherzen und bitteren Seitenhieben auch auf soziale Medien. Mordsmässig lustig und bitter.
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McQueen
rbr. Manischer Modeschöpfer. Er war ein Berserker, Besessener, begnadeter Desiger-Rebell und Tabubrecher. Der Mode-Schöpfer und Radikalist Alexander McQueen eruptierte wie ein Vulkan und verglühte. Sein Spruch «Meine Shows sind Sex, Drugs and Rock’n’Roll. Ich will Aufregung und Gänsehaut. Ich will Herzattacken auslösen. Ich will, dass der Notarzt kommt.» Peter Ettedgui und der Genfer Ian Bonhôte rollen das Leben des Mode-Exzentrikers auf – von seinen ersten Näh-und Designertätigkeiten bis zu den extravaganten, überspannten Moderperformances, vom Aufstieg bis zu Ruhm, Einsamkeit und Ende. Für Lee, so riefen ihn Bekannte und Freunde, war der Becher voll, als seine Mutter starb. Ein Tag vor ihrer Beerdigung 2010 schluckte er einen Drogencocktail und erhängte sich.
Warum mit jungen 40 Jahren? Im Dokumentarfilm «McQueen» deutet alles darauf hin, dass er am Erfolg zugrunde ging, sich abschottete, innerlich wie äusserlich veränderte, depressiv wurde, sich selber verlor und im Kokain Zuflucht suchte. Wir erleben seine masslose Arbeitswut und -besessenheit, seine Wahnsinnsphantasien in der Modegestaltung, seine hemmungslosen Inszenierungen, kindliche Freude, seine Erfolge – aber auch krankhafte Dominanz, Düsternis und Verlorenheit. Lee, 1969 geboren, lernte die Schneiderei von Grund auf, gründete sein eigenes «alexandermcqueen»-Label und wurde als 27Jähriger Haut-Couture-Creative-Direktor des renommierten, französischen Modehauses Givenchy. Er nahm sein eingeschworenes Team aus England mit und mischte die Szene auf. Das ging solange gut, bis ihm der Erfolg über den Kopf stieg, er seine Freunde vor den Kopf stiess, sein Äusseres veränderte, abspeckte, im Koks Trost suchte.
Man muss kein Kenner oder Freund der Fashionbranche, Haute-Couture-Shows und des mondänen Zirkus sein – McQueens provokativen, ordinären und abstrusen Kreationen waren eh nur für den Laufsteg (Catwalk) gedacht und sonst kaum tragbar – um vom Film fasziniert zu sein. Ettedgui/Bonhôte blicken hinter die Kulissen, auf Modells und Macher. Dass sie keine Insider sind, kommt ihrem Mode- und Künstlerporträt zugute. Die Statements von Freunden, Begleitern, Mitarbeitern fliessen fast beiläufig ein, sie widerspiegeln die Kreativität, Auswüchse, Triumphe und Nöte des manischer Modeschöpfers, der auch Lady Gaga, David Bowie oder Madonna Kleider ausstattete. Ein Schaustück mit Tief- und Hintersinn.
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BlacKkKlansman
rbr. Zweifelhafte Unterhaltung. Um es vorweg zu sagen: Spike Lees neustes Filmprodukt funktioniert oder besser macht nur Sinn mit dem Nachspann, denn da wird der Bogen von der historischen Begebenheiten zu heute mittels Dokumentaraufnahmen von 2017 vor Augen geführt. Natürlich erkennt der aufmerksame Zuschauer Sidekicks auf Rassismus und Trump heute («America first»), aber das sind nur kleine Pointen. Spike Lee schildert eine sogenannte wahre Begebenheit. Ein Afroamerikaner namens Ron Stallworth (John David Washington, Sohn des bekannten «Equalizer» Denzel Washington) heuert bei der Polizei in Colorado Springs an und stösst als erster schwarzer Polizist auf offenen und versteckten Hass in den frühen Siebzigerjahren. Die schwarzen Bürger und Bürgerinnen mit der riesigen Afro-Haarpracht und ihren Bürgerrechtsanliegen sind vielen weissen Amerikanern ein Dorn im Auge. Spike Lee greift tief in die Geschichtskiste, erinnert an den Sessionskrieg, der offensichtlich auch heute noch nicht überwunden ist, und zitiert Rassenszenen aus D.W. Griffith`s Stummfilmdrama «The Birth of a Nation» (1915).
Sein Undercover-Held Stallworth gelingt es, sich zumindest telefonisch in den örtlichen KuKluxKlan (KKK) einzuschleusen. Sein jüdischer Cop-Kollege Flip (Adam Driver) übernimmt den Part des weissen Doubles, er verkörpert Detective Stallworth bei dem rassistischen Klub, setzt sich mit einem Prolo-Rassisten und dessen tumber Gattin, die ein Attentat planen, und anderen Klan-Mitgliedern auseinander. Als dann der Klan-Guru David Duke (Topher Grace), der übrigens noch heute sein aufhetzerisches rassistisches Unwesen treibt, zu einem Besuch ankündigt und Einschmeichler Stallworth aufzufliegen droht, eskaliert das Versteckspiel.
Spike Lee trägt dick auf, man schüttelt den Kopf ob der irrwitzigen Ermittlungen, der biederen Maskeraden und beschränkten Typen, der Scherze und Überzeichnungen. Nein, dieses klischeehafte KluKluxKlan-Panoptikum zwischen Pophistorie und Krimi, ist historisch ungenau und allzu harmlos, auch wenn am Ende die Polizeiarbeit quasi zunichte gemacht wird. Das Drama, basierend auf den Erinnerungen des Afroamerikaners Ron Stallworths, kann politisch wache Zuschauer nicht befriedigen. Es bleibt trotz Nachspann in den bieder-gefährlichen Siebzigerjahren stecken.
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The Guernsey Literary and Potato Peel Pi Society
rbr. Macht der Literatur und der Liebe. Der Titel klingt kompliziert und verschroben, der Film ist es hingegen nicht, in Deutschland als «Deine Juliet» lanciert. Schauplatz ist eine der britischen Guernsey-Kanalinseln, die als einziges britisches Territorium im Zweiten Weltkrieg von deutschen Soldaten besetzt worden war. Die Londoner Schriftstellerin Julie Ashton (Lily James) trauert ihren Eltern nach und mag nicht so einfach zum Schreiben zurückkehren. Ihr Interesse weckt ein Brief, die sie von einem gewissen Dawsey Adams (Michiel Huisman) bekommen hat und der sie zu einer Lesung auf die Guernsey-Insel einlädt. Juliet braucht unbedingt Luftveränderung, packt ihren Koffer und reist 1946 auf besagtes Eiland. Dort macht sie die Bekanntschaft mit dem Briefschreiber, einem Schweinefarmer, und Mitgliedern der «Literary and Patato Peel Pie Society». Der Name stammt aus der Besatzungszeit, als sich eine Handvoll Menschen zusammenfand, die den Deutschen trotzten, heimlich ein Schwein schlachteten, beinahe aufflogen und in der Not den Buchclub mit dem absonderlichen Namen erfanden, der sich auf den Kartoffelschalenauflauf, einem Notgericht, berief. Der Buchclub existierte eben auch nach dem Krieg, nur die Gründerin Elizabeth McKenna (Jessica Brown Findley) war verschwunden. Das weckte die Neugierde der Schriftstellerin. Sie stiess auf ein Geheimnis, das die Klubgemeinschaft vor ihr verbarg. Elizabeth hatte sich in einen deutschen Soldaten verliebt, mit dem sich auch Schweinezüchter Adams angefreundet hatte. Die Liebschaft flog auf, der Deutsche wurde verhaftet, und Elizabeth folgte ihm, versuchte ihn zu retten und hinterliess ein Kind.
Hartnäckig wie eine Detektivin durchdrang Eindringling Juliet die Mauer des Schweigens im Dorf und deckte die tragische Liebesgeschichte auf. Ein wunderbarer Stoff für ein Buch, doch Juliet versprach, die Beteiligten zu verschonen, aber… Mike Newells fein gesponnener Film basiert auf dem Briefroman der Amerikanerin Mary Ann Shaffer, den sie 2006 fertig gestellt hatte, der von ihrer Nichte Annie Barrows aber nach Shaffers Tod 2008 vollendet wurde. Einfühlsam und fast schon buchstabengetreu entwirft Newell («Vier Hochzeiten und ein Todesfall», «Harry Potter und der Feuerkelch») das Stimmungsbild einer Inselbevölkerung, die sich in Zeiten des Grauens (Weltkrieg) zu überleben suchte, Trost und Halt etwa in einer verschworenen Büchergemeinschaft fand. Der Film erzählt auch davon, dass die Liebe in solchen feindlichen Zeiten ein gefährliches Spiel war und die Solidarität ihre Grenzen hatte. Lily James («Mamma Mia! Here We Go Again» – sie spielte die junge Meryl Streep, «Little Woods», «Baby Driver») ist die perfekte Besetzung der forschen Schriftstellerin wie auch der Holländer Michiel Huisman als stiller Bücherfreund, Bauer und Romantiker. Zudem gelingt es Kameramann Sebastian Edschmid stimmungsvolle Inselbilder einzufangen, gedreht wurde zum Teil an Originalschauplätzen, beispielsweise in Saint Peter Port, dem Hauptort der Guernsey-Insel. Das Drama mit viel Zeitkolorit hat wie schon «The Bookshop» der Spanierin Isabel Coixet etwas sympathisch Altmodisches. Man lässt sich Zeit, widmet sich liebevoll den Figuren, spannt Fäden, die zerreissen und geflickt werden – mit einem Hauch Melancholie umsponnen. Gut zu sehen in heutigen Kinozeiten.
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Photo/Film