«Rolf Lyssy: Schweizer Filmgeschichte vom «Schweizermacher» zum Festivalfilm «Eden für jeden»
Von Rolf Breiner
Vor über 40 Jahren entstand der erfolgreichste Schweizer Film, der seit 1978 das Publikum begeistert: «Die Schweizermacher» mit Emil Steinberger und Walo Lüönd. Die Komödie schrieb Schweizer Filmgeschichte. Der Regisseur Rolf Lyssy (84) wird nun mit einem Preis fürs Lebenswerk geehrt. Wo auch anders als am Zurich Film Festival (ZFF) 2020. Im Rahmen des Festivals feiert sein neustes Komödienwerk «Eden für jeden» Galapremiere. Wir besuchten den aktiven Zürcher Filmschaffenden in seiner Zürcher Wohnung, blickten zurück und vorwärts.
Das Komische im Tragischen erleben und geniessen
Sein Name ist untrennbar mit den «Schweizermachern» verbunden, dieser liebenswürdigen Komödie Schweizer Bürgerlichkeit, Einbürgerung und Liebe. Noch immer der erfolgreichste Schweizer Film mit über einer Million Besuchern. Gleichwohl wurden Rolf Lyssy in seiner langen Laufbahn nur drei Preise zuteil: 1992 der Fischhof-Preis der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus, 1975 der Zürcher Filmpreis für den Film «Konfrontation» und 2012 der Schweizer Filmpreis Quartz (Ehrenpreis). Nun verleiht ihm das Zurich Film Festival den Career Achievement Award (Preis fürs Lebenswerk) und feiert Premiere seines neusten Films «Eden für jeden».
Was hast du empfunden, als du von dieser Ehrung erfahren hast?
Rolf Lyssy: Ich habe mich natürlich wahnsinnig gefreut. Erstens bin ich ein Stadtzürcher, zweitens habe ich bis auf «Konfrontation» und «Ein klarer Fall», der Geschichte von Zwahlen, alle Filme in Zürich gedreht. Christian Jungen, der neue ZFF-Festivaldirektor, lud mich im Dezember zu einem Kaffee auf dem Sechserläutenplatz und erklärte mir, seine erste Amtshandlung sei die Überreichung des Career Achievement Award an mich. Ich wollte es zuerst gar nicht glauben – 45 Jahre nach dem Zürcher Filmpreis wieder ein Preis in Zürich!
Gemäss einer Publikumsumfrage ist «Die Schweizermacher» der drittbeliebste Film in der Schweiz.
Im Nachhinein betrachtet – war dieser Film eher Lust oder Last für dich?
Bei diesem Film lernte ich beide Seiten einer Medaille kennen. Du bist der Regisseur des erfolgreichen Film mit über eine Million Zuschauer in der Schweiz, dazu 900 000 in der damaligen Bundesrepublik. Ich musste damit leben, hatte natürlich Freude an diesem Erfolg und bin glücklich damit. Klar, wir schwebten ein bisschen auf Wolke 7. Das war natürlich auch Emil, dem bekannten Kabarettisten, zu verdanken. Die Leute standen Schlange.
Wie erklärst du dir diesen Riesenerfolg?
Komödien brauchen Typisierungen. Zum Teil hat man mir Klischees vorgeworfen. In einer Komödie muss man von Sachen reden und sie zeigen, welche die Leute kennen. Sonst können sie nicht lachen. Der Kern eines guten Films ist seine Geschichte. Wenn die nicht funktioniert – auf dem Papier, im Drehbuch – kann man den Film vergessen. Die meisten Fehler bei Kinofilmen, die gemacht werden, passieren bei der Drehbucharbeit.
Du glaubst an den Kinofilm…
Der Kinofilm wird nicht untergehen. Kino ist eine Errungenschaft des letzten Jahrhunderts, eine der grossartigsten kulturellen Errungenschaften, eines der komplexesten Medien. Es spricht den Seh- und Hörsinn und den Verstand an. Es ist das Dreidimensionale, das aber zweidimensional wahrgenommen wird. Filme, die nicht in den Kopf und nur in den Bauch gehen, können selten funktionieren. Filme, die nur im Kopf stattfinden, funktionieren auch nicht. Es braucht einen komplexen Mix. Und den herzustellen, ist sehr schwierig, egal ob es ein Drama, eine Tragödie oder eine Komödie ist. Ich messe dem Drehbuch grösste Bedeutung zu, das hat absolute Priorität bei mir.
Ich komme nochmals auf meine Doppelfrage zurück. Wann ist der Erfolg zur Last geworden und warum?
«Schweizermacher» ist dann zur Last geworden, als es um den nächsten Film ging. Ich wurde von allen Seiten gedrängt, jetzt «Schweizermacher 2» zu machen. Meistens gehen Remakes oder Sequels in die Hose. Es gibt wenige Ausnahmen wie beispielsweise «Der Pate I, II und III» oder «Sabrina» von Billy Wilder und das Remake von Sydney Pollack. «Schweizermacher 2» kam für mich nicht infrage, und so waren schnell alle Türen zugesperrt. Ich musste mir eine neue Geschichte einfallen lassen – möglichst mit Emil.
So entstand also «Kassettenliebe» mit Emil…
Mir geht es darum, Geschichten zu erzählen, die etwas mit den Menschen, den Zuschauern zu tun haben. «Kassettenliebe» handelt von Partnerwahl, wie schon in meinem ersten Spielfilm «Eugen heisst Wohlgeboren» von 1968. Ich wollte meinen ersten Film nochmals drehen – zwölf Jahre später. Jetzt spielten also Videokassetten eine Rolle. Leute konnten diese in einer Agentur anschauen. Emil spielt einen Kameramann, der in dieser Agentur arbeitet. Die Presse hat den Film vernichtet, aber er war der grösste Erfolg als Schweizer Film 1981/82. Die Presse hat ihn jedoch madig gemacht und mich auf den Boden zurückgeholt.
Wie hast du das verarbeitet?
Ich war nicht glücklich mit dem Film, habe die Fehler gesehen. Meine Freunde, Bekannte sind mir mit Mitleid begegnet. Das tat weh. Im Vergleich zu «Schweizermacher» war «Kassettenliebe» harmlos. Der Film war unterhaltsam und erfolgreich, aber ich war am Boden zerstört. Die Häme, die mir entgegenschlug, und die Schadenfreude haben mir zugesetzt.
Ist das nicht auch typisch schweizerisch, so auf Erfolg zu reagieren, nämlich mit Neid und Missgunst?
Das kann ich nur unterstreichen. In der Schweiz werden Neid und Missgunst grossgeschrieben. Das habe ich in meiner Karriere erfahren.
Und nun ein neuer Film unter dem schönen Titel «Eden für jeden».
Es ist mein erster und letzter Fernsehfilm dieser Art. Dieses Format wird beim Schweizer Fernsehen abgeschafft. Es gibt im nächsten Jahr nur noch «Tatort» und Serien. Ein Glück, dieser Fernsehfilm ist nun zum Kinofilm mutiert, er startet am 1. Oktober.
Bist du auf dem «grünen» Boden der Tatsachen gelandet. Wie kam es dazu?
Es gibt den Dokumentarfilm «Unser Garten Eden». Mein Drehbuchautor Dominik Bernet, mit dem ich zusammen «Die letzte Pointe», schrieb, wurde vom Fernsehen angefragt, ob es ihn interessieren würde, auf Grund dieses Dokfilms ein Spielfilmdrehbuch zu schreiben. Die Idee kam vom Filmproduzenten Marcel Wolfisberg. Dominik fragte mich, ob wir das zusammen machen wollen. Toll, dachte ich, wenn das Fernsehen den Film finanziert, müssen wir kein Geld suchen. So erfanden wir eine passende Geschichte, und Dominik schrieb ein Treatment. Das Fernsehen fand Gefallen, und im Herbst 2018 lag die erste Drehbuchfassung vor. Dann ging es zügig voran mit vier weiteren Versionen. Dann kam mein Sohn Elia als Kameramann dazu, und wir schrieben die drehreife Fassung. Am 26. Augst 2019 war Drehbeginn, und vier Wochen später musste der Film abgedreht sein.
Der Begriff Eden kann manches assoziieren – vom Nachtclub bis Paradies. Bei eurem Film geht’s aber ganz irdisch zu…
Die Geschichte spielt fast ausschliesslich in einem Schrebergarten, in der Schweiz sagt man Familiengarten. Der Film erzählt eine dramatische Familiengeschichte. Und da die Handlung sich weitgehend in einem Familiengarten abspielt, kann man das wunderbar auch als Komödie erzählen. Gedreht haben wir übrigens im Familiengarten Aussersihl, Zürich.
Hast du persönlich eine Affinität zum Schrebergarten?
Null. Ich bin auf dem Land in Herrliberg aufgewachsenen. Mein Praktikum als Junggärtner habe ich in der Jugend erlebt. Wir zogen im Sommer 1944 von der Stadt aufs Land. Ich war acht Jahre alt und der einzige jüdische Bub in der Umgebung, war anders angezogen und habe mich gleichwohl schnell integriert. Ich gehörte aber einer anderen Kultur an. Zum Glück waren meine Eltern nicht religiös. Ich ging einmal im Jahr mit meinem Vater in die Synagoge. So kam es, dass ich, geprägt von meinen jüdischen Wurzeln, den Menschen und überhaupt der Gesellschaft schon früh immer mit etwas Distanz begegnete. Wir wohnten wie gesagt in Herrliberg, und jede Wohnung hatte einen Gartenplatz. Dort haben wir Gemüse etc. angepflanzt. Ich war 14 Jahre alt, als sich meine Eltern trennten. Mein Vater ging nach Zürich, und ich musste praktisch den Garten übernehmen mit Tomaten, Bohnen, Beeren usw. – bis 1958. Als 22-jähriger ging ich dann nach Zürich, und es war vorbei mit Gärtnern. Ich war frei.
Zurück zum Garten «Eden». Worum geht’s?
Sechs Figuren bilden den Kern der Familiengeschichte: die leicht demente Grossmutter, die Enkelin, deren Tante und Onkel, die zwei Parzellen bewirtschaften. Der Vater der Enkelin und sein Onkel leben als Winzer in Frankreich auf einem Weingut. Anfangs hatten wir Hazel Brugger als Enkelin vorgesehen, doch die hatte abgesagt. Wir haben uns weiter umgeschaut, Lara Stoll wollte nicht, und andere Stand-up-Comedians standen nicht zur Verfügung. Diese Enkelin sollte eine junge, schräge Figur sein. So castete ich für die Figur der Nelly Steffi Friis, die in meinem vor vier Jahren realisierten Film «Die letzte Pointe» als Verkäuferin in einer winzigen Rolle zu sehen war.
Und wie kam der Pop- und Soulsänger Marc Sway ins Spiel?
Erstens macht er schöne Musik, zweitens hat er brasilianische Wurzeln – das gefiel mir. Marc und sein Agent hatten ruckzuck zugesagt. Er spielt den Gitarrenlehrer und Singer/Songwriter Paolo Cesar Kunz, Bewohner der nachbarlichen Parzelle von Nelly und ihrer Grossmutter Rosemarie, die von Heidi Diggelmann gespielt wird.
Dein Sohn Elia ist auch wieder mit von der Partie…
Ja, als Director of Photography.
Wie ist die Corona-Zeit an dir vorbeigegangen?
Wir haben unheimlich Glück gehabt, weil der Film bereits Mitte Februar fertiggestellt war. Der renommierte Schweizer Verleih Ascot-Elite nahm ihn in sein Programm. Das Fernsehen gab grünes Licht und «Eden für Jeden» startet am 1. Oktober in den Deutschschweizer Kinos.
Ein Lucky Punch…
Das war nicht nur ein Lucky Punch, sondern mindestens zwei, denn ich bekomme nicht nur den Career Award, sondern mein Film feiert am ZFF auch seine Galapremiere.
Dir hat die Pandemie also nichts angehabt…
Ich mache seit 50 Jahren Homeoffice und kenne eigentlich nichts anderes. Die positive Seite des Lockdowns wurde mir schnell bewusst: keine Flugzeuge, weniger Verkehr, wenig bis keine Menschen auf der Strasse. Meinen täglichen stündigen Rundgang genoss ich sehr. Natürlich eine absurde Geschichte. Aber die Pandemie zeigt in aller Deutlichkeit, dass der Mensch sich nicht über alles erheben kann, wie manche Politiker und einige Staatspräsidenten in ihrer Selbstgerechtigkeit glauben. Im Gegenteil, das Corona-Virus zwingt die Gesellschaft dramatische, lebensbedrohende Situationen zu bewältigen, die man nicht so auf die Schnelle in den Griff kriegt.
Die Kinos leiden…
In der Tat. Einige Multiplexkinos haben geschlossen oder nur an Wochenenden geöffnet. Dagegen haben die Arthouse-Kinos entschieden, trotz massivem Besucherschwund, das tägliche Programm nicht einzuschränken.
Hat die Corona-Krise auch Gutes bewirkt? Welche Lehren sollte man ziehen?
Das Homeoffice-System wird garantiert in Zukunft dafür sorgen, dass weniger geflogen wird. Ein Virus hat die Gesellschaft gezwungen, existenzielle und philosophische Themen zu reflektieren und zu analysieren. Das hat Auswirkungen auf die Wirtschaft, auf den Markt – der Online-Markt boomt. Ich hoffe, dass die Entschleunigung nicht nur vorübergehend sein wird.
Noch ein Wort zur Komödie – dein Lebenselixier – die nicht nur in Krisenzeiten gut tut…
Es sind die Widersprüche, welche den Menschen zu schaffen machen. Und das ist auch der Kern meines Verständnisses dafür, warum mir die Komödie mit Substanz so wichtig ist. Lachen finde ich wichtig, Lachen ist gesund. Mich interessiert die Schnittstelle zwischen Tragödie und Komödie, da suche ich die Geschichten, und die sind zeit- und grenzenlos. Der Kern ist freilich, dass der Mensch mit seinen inneren, eigenen Widersprüchen nicht fertig wird. Die daraus entstehenden zwischenmenschlichen Probleme und Konflikte, haben mich immer in meinen Geschichten interessiert. Das erklärt auch, warum meine Komödien, im Kern der Geschichten, immer auch die tragische Seite des Menschseins beinhalten.
Es geht also um Widersprüche und Spiegelungen…
Richtig. So entstehen Reibung und dramatische Momente, an denen sich meine Geschichten orientieren.
Was soll man aus deinen Filmen mitnehmen?
Sie sollen zum Nachdenken und Diskutieren animieren. Das ist meine Motivation. Der Film muss von Anfang bis Schluss glaubwürdig sein. Der Zuschauer soll sich gut unterhalten und keine Blähungen im Kopf und im Bauch bekommen.
Retrospektive Rolf Lyssy am ZFF
Im Rahmen des 16. Zurich Film Festivals (24. September bis 4. Oktober 2020) wird Rolf Lyssy der Career Achievement Award verliehen sowie sein jüngstes Werk «Eden für jeden» in einer Galapremiere aufgeführt.
Ausserdem bietet ZFF eine Retrospektive von zehn Lyssy-Filmen
Spielfilme
«Konfrontation» (1974
«Die Schweizermacher» (1978)
«Teddy Bär» (1983)
«Leo Sonnyboy» (1989
«Die letzte Pointe» (2017)
Dokumentarfilme
«Vita parcoeur» (1972
«Ein Trommler in der Wüste» (1992)
«Schreiben gegen den Tod» (2002)
«Hard(y)s Life» (2009)
«Ursula –Leben in Anderswo» (2011)
Paris – ein Zeitdokument von Paul Almasy
I.I. Der in Ungarn geborene legendäre Fotograf Paul Almasy dokumentierte Paris, die Stadt der Lichter und der Liebe, in berührenden, atmosphärischen schwarz-weiss-Bildern, eine Zeitreise durch die Nachkriegszeit der Metropole.
Paris erwacht und erlebt nach der Besatzung eine neue Blüte: Kunst und Literatur florieren, der Existenzialismus trifft den Zeitgeist, das Kino wird durch die Nouvelle Vague revolutioniert und die Mode durch junge Couturiers. Und alle wiegen sich im Rhythmus von Jazz und Rock ’n’ Roll. Berühmte Leute besuchten wieder das Café de Flore und Designer wie Yves Saint-Laurent präsentierten die Haute Couture. Die Nouvelle Vague transformierte mit Chabrol und Godard das französische Kino, Colette, Serge Gainsbourg, Sartre und Beauvoir oder Alberto Giacometti machten Saint-Germain-des-Près zu ihrem Dreh- und Angelpunkt. «Ausser Atem (À bout de souffle)» mit Jean-Paul Belmondo und Jean Seberg war der erste Spielfilm von Jean-Luc Godard, der als Klassiker des französischen Kinos und der Nouvelle Vague gilt. Er entstand nach einem von Godard umgeschriebenen Drehbuch von François Truffaut, das auf einem Zeitungsbericht über einen Polizistenmord basierte. Für Jean Seberg war es ebenfalls der Beginn einer spektakulären Filmkarriere. Der Film «Jean Seberg. Against all Enemies» (2019) greift ihr kurzes Leben auf, das vom Einsatz für die schwarzen Bürgerrechtler geprägt war und aufgrunddessen vom FBI gnadenlos verfolgt wurde. Siehe auch untenstehenden Filmtipp (sowie Archiv Literatur & Kunst 06/2014).
Und mittendrin Paul Almasy. Der in Ungarn geborene, weitgereiste Fotojournalist hat Paris zu seiner Heimatstadt gemacht und durchstreift sie mit wachem Blick. Wir folgen ihm ans Seine-Ufer, zu den alten Markthallen, in Musikkeller und Cafés, in die Ateliers der Künstler, aber auch in Seitengassen und Hinterhöfe.
Und immer wieder gelingen ihm wunderbare Strassenfotografien, die ihn neben Henri Cartier-Bresson und Robert Doisneau zu einem der grossen Chronisten des Paris der 1950er- und 1960er-Jahre machen. Endlich sind seine Fotografien wieder als Buch erhältlich – poetische Bilder einer verlorenen Zeit.
Paul Almasy, *29. Mai 1906 in Budapest, wurde nach einem Politikstudium in Österreich und Deutschland Pressekorrespondent und Fotojournalist und gründete 1935 am Genfer See den PASI Pressedienst in Territet. Von Monaco aus berichtete er während des Zweiten Weltkriegs als Korrespondent der Schweizer Presse aus Frankreich, Deutschland, Belgien und den Niederlanden. Nach der Befreiung von Paris liess sich Almasy dort nieder und wurde 1956 französischer Staatsbürger. Seine Reportagereisen führten ihn auf alle Kontinente, er wurde akkreditierter Mitarbeiter von UNESCO, UNICEF, WHO, IAO und FAO. 1993 erhielt er den Orden Ordre national du Mérite. Am 22. September 2003 starb Paul Almasy in Jouars-Pontchartrain im Département Yvelines.
Paul Almasy
Paris
teNeues, 2020
144 S., Hardcover, 19,5 x 24 cm
117 s/w-Fotografien
Texte in Deutsch, Englisch und Französisch
CHF 27.20. € 19,90
ISBN: 978-3-96171-257-1
5 Fragen an Paul Nizon: «Andere haben ein Herz, ich an der Stelle eine Forelle»
Von Ingrid Isermann
Im Dokufilm «Der Nagel im Kopf» blickt Paul Nizon auf sein Leben zurück, man sieht ihn mit 90 Jahren gebannt vor dem Laptop sitzen und auf seine Anfänge schauen, als rebellischer Schriftsteller, jung verheirateter Familienvater, sein Studium der Kunstgeschichte in Bern, seine Tätigkeit als Kunstkritiker bei der NZZ und seinen Ausbruch aus der Schweiz mit dem Buch «Diskurs in der Enge», ein Bestseller, der vielen Kunstschaffenden aus dem Herzen sprach und noch heute eine gewisse Gültigkeit besitzt.
Der junge und der alte Paul Nizon, was haben sie gemein, wie unterscheiden sie sich? Ist der Rebell sanfter geworden? Und mit seinem Leben zufrieden? Manche Szenen rufen seinen Widerspruch hervor, bei manchen Bildern kommt er ins Sinnieren, als ob er über sich selbst staunt, und als ob ihm der freche, junge Kerl da mit seinen Aggressionen nicht mal so sympathisch ist. Und er erzählt, dass er diese Aggressionen, die er in der Schweiz hatte, in Paris völlig verloren hatte, auf einen Schlag war er ein Anderer.
Wir stellten Paul Nizon 5 Fragen bei einem Treffen anfangs September in der Goethe Bar im Schiller’s.
Nizon, umringt von Fotografen nach einem Interview, gibt sich gelassen. Wir begrüssen uns und ich habe einige Fotos mitgebracht, von früher von einer gemeinsamen Lesung In Berlin anlässlich eines Kulturaustausches «Zürich -Berlin grenzenlos», es war 1992, Paul Nizon war da 63 Jahre alt. Der kritische Geist und das Schreiben haben ihn nicht verlassen.
Paul Nizon, geboren 1929 in Bern, lebt in Paris. Für sein umfangreiches Werk, das in mehrere Sprachen übersetzt wurde, erhielt er zahlreiche internationale Ehrungen und Auszeichnungen.
5 Fragen an Paul Nizon
1. Wie sehen deine nächsten Pläne aus?
Mein literarischer Plan ist das letzte «Journal» bis zur Gegenwart, also das letzte Jahrzehnt…
… wieder im Suhrkamp-Verlag?
Ja, alles ist im Suhrkamp erschienen, mit nur zwei Ausnahmen. Das Journal heisst auch «Der Nagel im Kopf», wie der Film, das ist mein nächstes Projekt literarisch, da freue ich mich drauf, das muss ich dann noch etwas bearbeiten.
Sonst mache ich so kleines Zeug, manchmal werde ich gefragt, ob ich von jemand, von einem Freund eine Erinnerung thematisieren kann oder sowas, aber sonst mache ich nicht mehr viel. Aber es ist immer noch viel, was ich durchsehen muss, fürs Archiv, obwohl der grössere Teil schon im Literaturarchiv ist…
… du hast sehr viel gemacht…
Ja, ich habe doch etwa fast 40 Bücher, die ganze Prosa und dann die Journale… Es sind sechs Bände, 60 Jahre. Fünf Bände liegen vor, das sechste erscheint im nächstes Jahr. Und dann noch meine Schriften zur modernen Kunst…
2. Hast du irgendwelche neue Themen im Fokus?
Im Moment habe ich gar keine neuen Themen, mit Ausnahme des «Journals»…
Am 4. September wurde der Dokumentarfilm «Der Nagel im Kopf» über Dein Leben im Lunchkino im Le Paris als Vorpremiere gezeigt. Du warst als Gast bei der Filmvorführung anwesend, war es gut besucht?
Es waren etwa 300 Leute da… es ist immer ein gutes Publikum dort…
Ich sah den Film schon in Solothurn an den Filmtagen 2020, da haben wir uns auch kurz begrüsst…
… da kennst du den Film ja schon…
Und bist du damit zufrieden, mit diesem Dokfilm über Dein Leben?
…ja, grossen Teils schon, zuerst war ich etwas enttäuscht über den Anfang des Films, aber im Laufe der Zeit haben sie doch ziemlich viel reingekriegt, was mich ausmacht, ja…
3. Welches ist dein liebstes Buch von allen, die du geschrieben hast?
Im Moment ist mein liebstes Buch «Das Fell der Forelle». (Ein Roman über einen Liebesversehrten, der aus der Welt und Zeit gefallen ist, ein Prosakunststück, das mit aberwitziger Komik überrascht. Suhrkamp, 2005).
Ich dachte an «Das Jahr der Liebe»…
…das war einfach das populärste Buch, es liegt schon länger zurück (1982)…
4. Wenn du zurückblickst in deinem Leben, was war deine schönste Erinnerung, was prägnant in Erinnerung geblieben ist…?
… das kann ich jetzt so gar nicht sagen… (lächelt, nachdenklich)
Vielleicht, wo du ausgewandert bist, nach Paris?
1977, ist lange her… (Nizon war 48 Jahre)
Aber ich war schon sehr früh in Paris, wir hatten dort eine Tante, das heisst zwei Tanten.
Und ich bin schon als Schüler in den 40er Jahren nach Paris gekommen…
… und hat dich dort auch das Pariser Fluidum begeistert…?
ja, klar, das hat mir wahnsinnig gut gefallen, das war ja damals wirklich das A und O der Kunst, der Literatur und des Films, des Theaters, alles, das war die Hauptstadt der Kunst und Kultur der Welt…
(Paris und Nizon wird zunehmend lebendiger)
… ist das heute auch noch so?
…nein, nein, aber es ist eine sehr, sehr schöne Stadt…
… von der Architektur her und auch der Art zu leben…
ja genau, die Lebensart und Kultur…
4. Hast du eine Hoffnung für die Zukunft?
… ich denke wirklich langsam, dass es zu Ende geht mit dieser, unserer Welt…
… wegen Corona?
nicht nur, die ganze Klimageschichte ist schon wahnsinnig unheimlich…
…als ob die Natur uns Menschen abschüttelt? Klimakatastrophen sind immer öfter an der Tagesordnung…?
(blickt nachdenklich und nickt)
5. Und welche Wünsche hättest du noch?
… welche Wünsche…?
… Gesundheit? Du warst ja in Deinem Leben nie richtig krank?
Nein, das war ich nicht, nie lebensgefährlich…Aber ich habe jetzt einen Stock…
da siehst du, wie heruntergekommen ich bin… (lacht)
Der Dokumentarfilm über Paul Nizon «Der Nagel im Kopf» läuft ab 10. September 2020 regulär in den Kinos.
Filmtipps
Dark Waters
rbr. Schmutzige Wäsche um schmutziges Wasser. Für einmal trifft der deutsche Verleihtitel das Thema genau: «Vergiftete Wahrheit». Todd Haynes («Carol», «Far from Heaven – Dem Himmel so nah») hat einen Umweltskandal aufgegriffen, dem 1975 ein Anwalt auf die Spur kam. Regisseur Haynes adaptierte einen Beitrag von Nathaniel Rich im «New York Times Magazin». Was war geschehen? Unternehmensanwalt Robert Bilott (Mark Ruffalo) wird Zeuge, wie eine Kuh regelrecht durchdreht und den Viehzüchter Wilbur Tennnant (Bill Camp) angreift. Ein Vorfall in West Virginia, der Bilott aufhorchen lässt. Er vertritt den betroffenen Rancher und findet heraus, dass das Wasser in dieser Gegend verseucht ist. Auslöser ist der Chemieriese DuPont. Er produziert die Chemikalie PFOA, besser bekannt als Teflon, die zur Herstellung von Pfannen und anderen Küchengeräten, wasserdichter Kleidung, Verpackungen und mehr dient. Ein Milliardengeschäft. Doch wie so oft haben grossartiger Produkte auch eine Kehrseite. Bei der Produktion werden toxische krebserregende Substanzen freigesetzt, das verseuchte Wasser fliesst in den Ohio River und ins Grundwasser, verseucht Böden, Menschen und Tiere.
Der reale Robert Bilott, Partner einer Anwaltskanzlei, lässt nicht locker, initiiert medizinische Untersuchungen, bei denen 69 000 Menschen getestet werden. Der Chemie-Gigant DuPont setzt alle Mittel ein, um die Anschuldigungen zu beschönigen oder unter den Tisch zu wischen. Sage und schreibe kämpfte Bilott fast zwanzig Jahre gegen «Windmühlen», um Entschädigungen für Betroffene herauszuholen.
«Dark Waters» beschreibt akribisch eine Umweltverschmutzung, die kein Ende nimmt. Ein Lehrstück auch über den Kampf Davids gegen Goliaths. Mark Ruffalo, der auch an der Produktion beteiligt war, verkörpert den Einzelkämpfer, der die Verursacher zwar nicht in die Knie zwingen kann, aber doch eine Wahrheit ans Licht bringt, die unangenehme Gedanken weckt über Teflon und die Folgen. Tim Robbinson fingiert als Kanzleichef und Anne Hathaway als Gattin Sarah des unerschrockenen Rechtsstreiters. Regisseur Haynes lieferte ein Sittenbild, das sich nicht auf die USA beschränkt. Sein Umwelt- und Prozessthriller beschreibt auch eine wirtschaftliche Haltung, die bis heute gang und gäbe ist und in der Profit über Gesundheit und Unversehrtheit von Mensch und Tier geht. Packend und erschütternd.
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The Trial of the Chicago 7
rbr. Justizwillkür. Lyndon B. Johnson war US-Präsident, er will die Bombenangriffe in Vietnam einstellen. Am 16. März 1968 begehen amerikanische Soldaten das Massaker von Mai Lai, dem 503 Zivilisten zum Opfer fallen. Die Proteste gegen den Vietnamkrieg nehmen zu. Am 4. April 1968 wurde der schwarze Bürgerrechtler Martin Luther King in Memphis erschossen. Ende August fand der Parteitag der Demokraten in Chicago statt. Massive Proteste begleiteten die Veranstaltung, die Polizei griff mit Schlagstöcken und Tränengas ein. Das wäre vielleicht eine Notiz der Geschichte geblieben, wenn nicht sieben Aktivisten der Prozess gemacht worden wäre. Das Tribunal, politisch motiviert, wurde zum Justizskandal, u.a. auch, weil der einzige Schwarze unter den Angeklagten, Bobby Seale, Aktivist der Black Panther Bewegung, während des Prozesses «mundtot» gemacht wurde. Er hatte den Richter wüst beschimpft und das Verfahren scharf attackiert, er wurde gefesselt, geknebelt und später vom Prozess ausgeschlossen.
Diese Vorfälle um die Aktivisten gegen den Vietnamkrieg hat Aaron Sorkin in seinem Justizdrama «The Trial of the Chicago 7» aufgegriffen – von den Vorbereitungen der Protestaktionen, Diskussionen der Hauptakteure und den eigentlichen gewalttätigen Auseinandersetzungen bis zum Mammutprozess, der am 24. September 1969 begann.
Eine Garde hochkarätiger Schauspieler wirkte mit – Yahya Abdul-Mateen II als Black Panther Bobby Seale, Sacha Baron Cohen und Jeremy Strong als Hippies Abbie Hoffman und Jerry Rubin, Eddie Redmayne und Alex Sharp als Aktivisten Tom Hayden und Rennie Davis, Frank Langella als Richter Julius Hoffman, Mark Rylance als Bürgerrechtsanwalt William Kunstler oder Michael Keaton als Ex-Justizminister Ramsey Clark sowie Ben Shenkman als Straf- und Verfassungsrechtler Leonard Weinglass. J.C. MacKenzie als Staatsanwalt Tom Foran, Joseph Gordon-Levitt, Max Adler und Wayne Duvall als FBI-Detektive. Fünf von sieben Angeklagten, ursprünglich wegen Verschwörung, Aufruhr und mehr angeklagt, wurden 1970 wegen Anstiftung zum Volksaufruhr verurteilt. 1972 wurden die Urteile aufgehoben.
Amerikaner und Briten sind Meister des Genres Justizdramen. Aaron Sorkin («Molly’s Game») hat in seinem kammerspielartigen Prozessthriller ein Stück US-Geschichte aufgearbeitet, das an Aktualität nicht verloren hat, was Willkür und falsche Staatsgewalt, Rassismus und Justizbeugung angeht. Der unfähige, selbstherrliche Richter Julius Hoffman legt davon ebenso Zeug ab wie die FBI-Agenten, welche die Bürgerrechtler beschatteten. Dass der Film rechtzeitig vor den US-Wahlen in die Kinos kommt, ist Netflix zu verdanken, die den Film für 56 Millionen Dollar kauften. Aaron Sorkin hatte das Drehbuch bereits 2007 verfasst, Steven Spielberg sollte Regie führen. Doch das Projekt wurde auf Eis gelegt, bis Paramount Pictures die Rechte erwarb und Sorkin die Regie übernahm.
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I Am Greta
rbr. Aufschlussreiches Porträt. Sie wurde zur Ikone der Klimabewegung, die schwedische Schülerin Greta Thunberg – beachtet, bewundert, bezweifelt. Nathan Grossman hat sie schon begleitet, als die Medien sie noch nicht im Fokus hatten – nämlich als die 15-Jährige 2018 erstmals in Stockholm streikte Schulstreik «för Klimatet». Mit ihrem individuellen Protest hat sie eine Lawine weltweit losgetreten: die «Fridays for Future». Grossmans Dokumentarfilm «I Am Greta» hat die junge Aktivistin hautnah über zwei Jahre begleitet. Er dokumentiert die berühmten Begegnungen mit dem Papst, Frankreichs Präsident Macron und anderen «hohen Tieren» der Politik, ihre Auftritte in Brüssel, vor den Vereinten Nationen, der Klimakonferenz in New York oder am WEF in Davos. Doch eindringlicher, menschlicher und persönlicher sind die Momente, wenn Greta allein und sich selbst ist, mit ihrem Vater spricht, ihre Bedenken, auch Zweifel äussert, etwa bei der Überquerung des Atlantiks auf einem Segelschiff. Da sind wir, die Zuschauer, ihr ganz nah, erleben ein Menschenkind, das sich sorgt und entschlossen für ihre Sicht, ihre Klimaanliegen eintritt und sich hergibt. Die Umweltaktivistin Greta Thunberg hat das Asperger-Syndrom zur eigenen Stärke gemacht, etwa im Bereich Sprache und Artikulation. Der irische Kinderpsychiater Michael Fitzgerald veröffentlichte seit 1999 eine Reihe von Aufsätzen und Büchern, in denen er die Lebensläufe berühmter Persönlichkeiten auf Anzeichen des Asperger-Syndroms hin prüfte. Fitzgerald ist davon überzeugt, dass viele Merkmale des Asperger-Syndroms Kreativität begünstigen und dass die Fähigkeit, sich intensiv auf einen Gegenstand zu konzentrieren und für eine schöpferische Arbeit endlose Mühsal auf sich zu nehmen, für dieses Syndrom charakteristisch sei. Wie auch immer, Greta Thunberg ist eine starke Persönlichkeit, der der junge schwedische Regisseur Nathan Grossman ein einfühlsames und aufschlussreiches Porträt gewidmet hat. Es wurde am 16.Zurich Film Festival mit dem Science Film Award ausgezeichnet.
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Misbehaviour – Die Misswahl
rbr. Als man die Haut zu Markte trug. Es gibt sie zwar noch, die Wahlen zur Apfel- oder Weinkönigin, Miss dies oder das. Doch Schönheitswettbewerbe haben Glanz und Gloria verloren und sind aus der Zeit gefallen. Mister- oder Miss-Wahlen haben an Bedeutung und Unterhaltungswert verloren. Das war noch vor ein, zwei Jahrzehnten anders. Manche Karrieren bauten auf solchen Schönheitswettbewerben auf – auch in der Schweiz. Philippa Lowthorpe ist in die Siebzigerjahre getaucht und schildert, wie sich junge Frauen aus aller Welt auf der Bühne zur Schau stellen und im Bikini messen. Das waren noch Zeiten, als weltweit 100 Millionen Zuschauer an den Bildschirmen diesen Schönheitsreigen verfolgten. Hinter den Kulissen und auch auf der Bühne zogen Männer die Fäden – auch zur Misswahl 1970. Allen voran das Ehepaar Morley, das 1951 die Miss World-Show begründete.
Der Spielfilm «Misbehaviour» – nach wahren Begebenheiten – verfolgt zwei Handlungsstränge: hier die internationale Miss-Show in der Londoner Royal Albert Hall, moderiert vom schmierigen Entertainer-Macho Bob Hope (Grag Kinnear), mit den Kandidatinnen, dort eine aufkeimende Frauenbewegung, die gegen die Miss-Vermarktung und Zurschaustellung ankämpft. Eher zufällig kommt die angehende Akademikerin Sally Alexander (Keira Knightley) mit den Aktivistinnen um Jo Robinson (Jessie Buckley) in Kontakt. Die überlegte Sally, geschiedene Mutter mit Kind, und die wilde Rebellin Jo spannen zusammen, um die «Fleischbeschauung» und ihre Hintermänner zu attackieren. Und das passiert in der ehrwürdigen Albert Hall: der Beginn einer feministischen Revolution.
Auf der anderen Seite junge Frauen, die sich durch ihre Auftritte Chancen erhoffen, aus ihren Verhältnissen auszubrechen und eine eigene Karriere zu lancieren. Das gilt vor allem für Miss-Kandidatinnen aus armen Ländern, Jennifer Hosten (Gugu Mbatha-Raw) etwa aus Grenada, dazumal britische Kolonie, aber auch für Pearl Gladys Jansen (Loreence Harrison), die schwarze Teilnehmerin aus Südafrika (neben ihrer weissen Konkurrentin aus Südafrika). Dass eine schwarze Schönheit diesen Wettbewerb 1970 gewinnt, schien schier unmöglich.
Macho-Herrlichkeit und Männerdomäne im Showbiz, Sexismus und Feminismus, Kampf um Gleichberechtigung und Protest, Selbstbewusstsein und Selbstverwirklichung – all diese Themen bringt das Show-Drama mit ironischen Spitzen unter ein Dach, mit einigen Dokumentaraufnahmen bestückt. Produzentin Suzanne Mackie, Autorin Rebecca Frayn und die englische Regisseurin Philippa Lowthorpe haben ein Zeitbild geschaffen, das aktuell wie eh und je scheint. Keira Knightley besticht als smarte kämpferische Rebellin, der Jessie Buckley als kecke burschikose Aktivistin in Nichts nachsteht. Fazit: Intelligenz und Herz kommen vor Schönheit und (männliche) Eitelkeit.
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Eden für jeden
rbr. Kleinkrieg im Gartenkosmos. Sie bringt frischen Wind in die Zürcher Schrebergartenidylle, in der Schweiz meistens Familiengarten genannt. Die kesse Busfahrerin Nelly (Steffi Friis) im Nebenberuf und Studentin kümmert sich um ihre leicht demente Grossmutter Rosmarie (Heidi Diggelmann). Doch nun haben die beiden ein Problem, ihnen wurde die Wohnung gekündigt. Sie suchen eine Bleibe. Da kommt Nelly der Schrebergarten ihres Grosi in den Sinn, und flugs ziehen die beiden in die urbane Idylle. Der Präsident der Multikultigesellschaft im Grünen, Franco (Pablo Aguilar), freilich mokiert sich nicht nur über Nellys forsches Velofahren, sondern pocht auch auf das Übernachtungs-und Wohnverbot im Areal. Und so liefert sich die kesse Nelly mit «Il Presidente» einen kleinbürgerlichen Kleinkrieg, der in einer turbulenten GV und in Neuwahlen mündet. Es kommt zum regelrechten Wahlkampf in der Idylle. Nelly weiss ihre Grossmutter und natürlich auch den musikalischen Nachbarn mit brasilianischen Wurzeln, Paolo (Marc Sway), auf ihrer Seite. Als dann Nellys ausgebüxter Vater Albert (Andreas Matti), der im Burgund Reben pflegt, auftaucht, wird mancher Familienstrauss gefochten und kommt ein Geheimnis an den Tag.
Komödienkenner Rolf Lyssy und sein bewährter Autor Dominik Bernet liessen sich von Mano Khalils Dokumentarfilm «Unser Garten Eden» (2010) inspirieren und schufen eine neckisch nette Gartenkomödie (Untertitel «Jedem siis Gärtli»), die auf schönstem menschlichen Mist gewachsen ist und nicht nur schelmisch Vereinsmeierei und Nachbarschaftsklüngel auf die Schippe nimmt, sondern auch liebenswürdig unterhält. In dem leichten Sommervergnügen erblüht die Solothurnerin Steffi Friis wie eine Sonnenblume auf. Sänger Marc Sway steuert musikalische Samba-Sidelights bei und ist ein stimmiger Partner der Kandidatin für den Vereinsvorsitz.
Wer aufmerksam hinschaut, kann Fredi M. Murer für einen winzigen Moment als Schrebergartengast entdecken und Rolf Lyssy als Plakatträger «Nelly for President». Gedreht wurde übrigens im Zürcher Familiengärtenareal Aussersihl. Die Kamera führte nicht zum ersten Mal Lyssys Sohn Elia. In einer Schlusseinstellung sieht man in unmittelbarer Nachbarbarschaft auch den Friedhof Aussensihl. Wer meint, in dieser luftigen Gartenkomödie wimmele es von Klischees – vom kleinkarierten Präsidenten bis zum Latino-Sonnyboy – hat recht. Doch die gibt es (nicht nur) in der wirklichen Schweizer Gartenlauben-Szenerie. Kleinbürgerliche Geister, rüstige Senioren, Klein- und Grossfamilien und Partyleute geben sich ein Stelldichein im Minikosmos zwischen Obst, Gemüse, Grill und Kompost – ein «normales» Leben eben im Grünen.
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The Singing Club
rbr. Starke Stimmen, starke Frauen. Man weiss es ja, in England, Schottland oder Irland wird gern gesungen – im Pub, in der Küche oder Kirche, in Spitälern und auch in der Kaserne, aber nicht von Soldaten, sondern von «Military Wives». Und so gräbt Peter Cattaneo («The Full Monty – Ganz oder gar nicht») eine wahre Geschichte aus und liess sich zum Feel-Good-Film «The Singing Club» inspirieren. Die Geschichte um 2010 ist so simpel wie warmherzig: Die Offiziersgattin Kate Taylor (Kristin Scott Thomas) soll den Trübsal der Strohwitwen in der Garnison ausblasen und Lebensfreude vermitteln. Die Männer sind in den Krieg gegen Afghanistan gezogen und liessen ihre Familien mit Angst und Sorgen zurück. Töpfern, Stricken, Teetrinken oder andere betuliche häuslichen Aktivitäten sind dazu wenig geeignet, die Stimmung zu heben. Wie wär’s mit Singen! Doch die strenge, eher preussisch geeichte Kate versucht’s, kommt aber mit Lisa (Sharon Horgan) nicht klar, die eher auf Herz und Temperament, denn auf akademische Strenge setzt. Das Chörli der einsamen Frauen gedeiht zierlich, droht aber am Clinch der beiden Alphatiere Kate und Lisa zu zerbrechen, erst recht als die forsche Lisa einen Song nach Briefen der fernen Männer kreiert und einen wunden Punkt Kates trifft. Der grosse Auftritt des «Singing Club» in der Londoner Albert Hall ist infrage gestellt.
Klar drückt Regisseur Cattaneo aufs Gemüt und lässt sein Militärchörli, weiblich, verzweifeln, hoffen und frohlocken. Er hätte sich 2017 für diese Frauen interessiert, blickt Cattaneo zurück. Gedreht wurde auf der Militärbasis RMB Catterick in North Yorkshire, wo der erste Chor der Militärfrauen gegründet wurde. «Wir haben auf diesem Wege einige ausgesprochen mutige und aufrichtige Frauen kennengelernt. Die persönlichen Geschichten, die sie mit uns geteilt haben, waren erschütternd, aber teils auch rasend komisch», berichtet Peter Cattaneo.
Kate und Lisa sind die beiden Gegenpole, bilden das Rückgrat des Chors, der die Frauen zusammenschweisst. Dabei sticht die vom Schicksal geprüfte Jess (Gaby French) als Solistin hervor – etwa beim Klassiker «Time After Time» oder dem berühmten «Ave Maria» anlässlich einer Beerdigung. Der Film mit viel Herz und Stimme beschreibt berührend, wie Musik bindet, stärkt und trägt. Der Chor aus Yorkshire war nur der Anfang einer Entwicklung. Inzwischen gibt es in Grossbritannien über 75 «Military Wives»-Chöre.
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The Wall of Shadows
rbr. Menschen am Berg. Drei Männer hatten eine Expedition auf den Kumbhakarna in Nepal geplant, ein Bergriese (7712 Meter ü.M.). Ihr Ziel war eine Besteigung über die Ostwand, die noch keinem Bergsteiger gelungen war. Die Polin Eliza Kubarska, Dokumentarfilmerin («K2.Touching the Sky») und Bergsteigerin, schloss sich dieser Expedition an. Sie wusste, dass die Alpinisten Sherpas aus dem Dorf Kambachen verpflichten würden. Sie wusste auch um die Härte dieser Lastendienste, hatte die Familie um Ngada, Jomdoe und Dawa Sherpa kennengelernt. So erfuhr sie von der Legende des Kumbhakarna und die Bedeutung dieses Heiliges Berges für die Einheimischen. Das Gesetz der Lamas und der Götter verbot es, den Berg zu besteigen. Die Sherpa-Familie musste also ein Tabu brechen. Obwohl seine Frau Jomdoe dagegen war, entschloss sich der Vater Ngada Sherpa, der bereits neunmal den Mount Everest bestiegen hatte, mitzumachen, um mit dem Verdienst das Medizinstudium des 16-jährigen Sohnes Dawa Tenzin zu ermöglichen. Bis zum Basislager schleppten die Sherpas die Lasten, dann weigerte sich Ngada, die «Gipfelstürmer» aus Europa weiter zu begleiten. Angesichts der Wetterunbilden, Gefahren und des hohen Risikos stieg auch der polnische Teilnehmer, Marcin Tomaszewski, aus. Die beiden Russen liessen nicht locker, wollten Sturm, Eis und dem Berg trotzen…
Spät hatte der polnische Alpinist erkannt, dass Eliza Kubarska keinen Film über die Besteigung dieses Himalaya-Riesen drehen wollte, sondern über Menschen. Der Bergexpertin ging es nicht um eine halsbrecherische Kletterperformance, nicht um den Akt des Aufstiegs, sondern um zwischenmenschliche Konflikte und das Dilemma der Sherpa-Familie. Das eindrückliche Dokudrama «The Wall of Shadows» beschreibt Extremsituationen und die harte Wirklichkeit solch einer Expedition – angesichts eines majestätischen, aber auch gefährlichen Berggiganten. Selten wurden die Gewalt der Natur, die Verlockung eines mächtigen Gipfels, aber auch die Kleinheit und Widersprüchlichkeit der Menschen so fesselnd und spektakulär eingefangen wie in diesem Bergdrama (Kamera: Piotr Rosołowski).
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Persischstunden (Persian Lessons)
rbr. Lügen-Lessons. Dieser Spielfilm geht einem an die Nieren, wühlt auf, erschüttert und lässt einem fassungslos zurück. Der Spruch «Not macht erfinderisch» klingt viel zu harmlos, wenn man diesen Film erlebt hat. So oder ähnlich haben sich Überlebensgeschichten während der Naziherrschaft zugetragen. «Persischstunden» basiert auf der Kurzgeschichte «Erfindung einer Sprache» von Wolfgang Kohlhaase. Der Belgier Gilles (Nahuel Pérez Biscayart), der 1942 von den Nazis als Jude identifiziert, wird in ein KZ im Nordosten Frankreichs «versorgt». Zufällig ist Gilles im Besitz eines persischen Buches und gibt sich als Perser Reza aus, um der jüdischen Stigmatisierung zu entkommen. SS-Hauptsturmführer Koch (Lars Eidinger) wird hellhörig, denn er will Farsi (Persisch) lernen, um nach dem Krieg in Istanbul ansässig zu werden, wo schon sein Bruder leben soll. Reza soll ihn diese Sprache lehren – und zwar 24 Worte, später 40 Worte pro Woche. In seiner Not erfindet Reza sein «Farsi», indem er Namen auf den KZ-Listen mit Begriffen verbindet. Rottenführer Max Beyer(Jonas Nay) ist jedoch misstrauisch und hält Reza für einen Betrüger. Er tut alles, um den «Perser» zu entlarven. Und beinahe kostet es Reza den Kopf, als er bei einem Picknick der SS-Schergen ein «falsches» Wort verwendet. Die Sekretärin Elsa (Leonie Benesch) genügt nicht den Ansprüchen Kochs und wird zum Küchendienst verknurrt. Reza nimmt ihre Stelle ein und hat sich so ungewollt eine Todfeindin gemacht. Brandgefährlich wird’s für «Lehrer» Reza, als ein Brite mit persischen Wurzeln eingeliefert wird und ihn ungewollt verraten könnte. Der Engländer kommt jedoch um, dank italienischen Gefangenen, denen Reza geholfen hat…
Die irrsinnige Tragödie über «Persischstunden» im KZ – nicht ohne komische Momente – schildert extreme Situationen, beschreibt ein Klima der Angst, Brutalität und Gewalt, aber auch das intime Verhältnis von Täter und Opfer. Man nimmt dem SS-Handlanger Koch sogar ab, dass er Gefühle und menschliche Seiten hat. Koch sieht in Reza einen Verbündeten im Geiste und wähnt sich als Schutzbefohlener. Regisseur Vadim Perelman, als jüdisches Kind 1963 in Kiew geboren, schuf ein packendes, tragisch-absurdes Drama über menschliche Abgründe mit zwei ergreifenden Hauptfiguren – mit einem diabolisch guten Lars Eidinger als Menschenverachter und Menschenfreund sowie Nahuel Pérez Biscayart als drangsalierte kreative Kreatur Reza/Gilles. Unvergesslich und ungeheuerlich, als der nach Kriegsende einem britischen Offizier Rede und Antwort steht, und 2840 Namen von KZ-Häftlingen aus seinem «Farsi-Gedächtnis» nennt.
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Der Nagel im Kopf
I.I. Das literarische Werk Nizons als autobiografische Endlosschleife durch die Zeit. Der Dokumentarfilm «Der Nagel im Kopf» von Christoph Kühn erzählt Paul Nizons Reise zu sich selbst. Paul Nizon, 1929 in Bern geboren, ist eine Legende der deutschsprachigen Weltliteratur. 1977 tauchte Nizon in Paris unter, um neu zu beginnen. Heute wird der bald 91-jährige Schweizer Paul Nizon, dessen Herz für Paris schlägt, in Frankreich als Schriftsteller-Mythos gefeiert. Im Dokfilm gewährt Nizon intime Einblicke in sein Leben und Schaffen. Regisseur Christoph Kühn besuchte den Autor in Paris und zeigte ihm zu Beginn seiner Dokumentaraufnahmen ein Interview des Schweizer Fernsehens von 1967 mit Nizon, was ihn zu süffisanten Kommentaren animierte. Der Auftakt zu einer vielschichtigen, aber auch melancholischen Rückschau des Literaten auf sein Werk und sein Leben. Christoph Kühn begleitet Nizon auf Spaziergängen in seinem Quartier Latin und Fahrten mit der Métro. Thomas Sarbacher liest dazu aus den Werken «Canto», «Das Jahr der Liebe» und «Im Bauch des Wals», sodass sich Räume im sprachlichen und gedanklichen Universum des Autors öffnen, dessen Charisma ungebrochen fasziniert. Der Regisseur sagt über den Film: «Ich war schon immer fasziniert von Menschen mit Abgründen in sich, die sie zu extremen und mutigen Entscheidungen bewogen haben. An Paul Nizon und seinem literarischen Werk hat mich beeindruckt, dass er sich jenseits der Trends befand. Die deutschsprachige Nachkriegsliteratur setzte sich mit sozialen Problemen, mit Klassenkonflikten auseinander. Nicht so Nizon. Sein Schaffen kreiste stets um sein Innen- und Privatleben, was damals verpönt war. Ohne Geschichten zu konstruieren, hat er seine Seelenzustände, seine inneren Gefühle erforscht. Was kann der heute 90-jährige Paul Nizon jungen Leuten für einen Rat geben? Etwas zu wagen. Keine Angst zu haben, den eigenen Wünschen und Träumen nachzugehen. Und keine Angst vor den eigenen Gefühlen zu haben.»
Paul Nizon, Sohn eines russischen Chemikers und einer Schweizerin aus Bern, studierte Kunstgeschichte, Klassische Archäologie und Germanistik in Bern und München. 1957 Promotion zum Dr. phil. mit einer Arbeit über Vincent van Gogh, bis 1959 wissenschaftlicher Assistent am Historischen Museum in Bern. Ab 1961 Kunstkritiker der Neuen Zürcher Zeitung. Er gab den prestigeträchtigen Posten für ein unsicheres Leben in der Literatur auf. Der dazugehörige Entscheidungsprozess findet sich literarisch gespiegelt in «Untertauchen. Protokoll einer Reise» (1972). Paul Nizon war dreimal verheiratet, er hat vier Kinder. Seit 2011 ist er Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt. Nizons Archiv befindet sich im Schweizerischen Literaturarchiv in Bern.(Siehe auch Gespräch mit Paul Nizon).
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Jean Seberg. Against all Enemies
I.I. Nouvelle Vague-Ikone Seberg engagiert sich für die Black Panthers und wird zur Zielscheibe des FBI. Paris, Mai 1968. Die amerikanische Schauspielerin Jean Seberg (bestechend: Kristen Stewart) reist für Dreharbeiten zurück in die USA. Auf dem Flug nach Los Angeles begegnet sie dem bekannten Schwarzen Bürgerrechtskämpfer Hakim Jamal (Anthony Mackie). Bei ihrer Ankunft auf dem Flughafen solidarisiert sich Seberg spontan mit der Black-Panther-Bewegung und erregt damit nicht nur das Aufsehen der anwesenden Presse, sondern gerät ins Fadenkreuz des FBI-Chefs J. Edgar Hoover. Seberg trifft sich in Los Angeles privat mit Hakim Jamal und ist beeindruckt von seiner Mission, für die Bürgerrechte der Schwarzen zu kämpfen. Sie beginnt eine Romanze mit ihm und unterstützt die Black Panther mit grosszügigen Geldgeschenken, Hakim erklärt ihr: «Wir sind im Krieg mit den USA». Jack Solomon (Jack O’Connell), ein junger, ambitionierter FBI-Agent, wird auf sie angesetzt und soll Jeans Privatleben aufmischen. Doch je mehr er über die sensible Schauspielerin weiss, desto mehr beginnt er seinen rigiden Einsatz Tag und Nacht zu hinterfragen. Aus der polizeilichen Überwachung ist eine infame öffentliche Hetzkampagne geworden, die Sebergs Karriere und Ruf massiv schadet. Als sie 1970 ihr zweites Kind erwartet, wird vom FBI das Gerücht gestreut, Seberg habe eine Liaison mit einem Black-Panther-Aktivisten und sei von ihm schwanger. Die Medienkampagne bleibt nicht ohne Folgen. Im August 1970 kam das Baby Nina zur Welt und starb zwei Tage nach der Geburt. Die Aufnahmen der Presse zeigten ein weisses Kind, womit Gerüchte über den angeblichen Vater entkräftet wurden.
Jean Seberg (1938 in Iowa-1979 in Paris) pendelte zwischen Hollywood und Europa und spielte Hauptrollen in Filmen renommierter Regisseure wie «Bonjour Tristesse» (1958), Regie Otto Preminger, nach dem Debütroman von Françoise Sagan, wie auch im Kultfilm «Ausser Atem», Regie Jean-Luc Godard (1960), die zu Filmklassikern wurden. Seberg war dreimal verheiratet, 1958 mit dem französischen Anwalt François Moreuil, der das Drehbuch zu ihrem Film «Brennende Haut» (1961) mitverfasste und mit Fabien Collin auch Regie führte. Sie liessen sich 1960 kurz nach den Dreharbeiten scheiden. Im Juli 1962 bekam sie ihren Sohn Diego, Vater war der 24 Jahre ältere Schriftsteller Romain Gary.
1979 wurde die erst 40-jährige Jean Seberg nackt tot in ihrem Auto aufgefunden, mit fast 8 Promille Alkohol und Schlafmitteln im Blut, was den Verdacht erhärtete, dass sie keines natürlichen Todes gestorben war. Ein Suizid wurde von ihren Freunden vehement ausgeschlossen. Die Umstände ihres Todes wurden nie geklärt und nie widerlegt, ob der FBI darin verwickelt war. Am 30. August 2019, etwa 40 Jahre nach ihrem Tod, wurde der Film «Jean Seberg – Against all Enemies» beim Filmfestival von Venedig uraufgeführt. Regie führte der Australier Benedict Andrews. Das ausgezeichnete Biopic, wegen der Corona-Pandemie nun verspätet in unseren Kinos, ist ein absolut aktueller Hintergrundfilm über die rassischen Unterschiede und Konflikte in den USA. Es scheint sich seither wenig verändert zu haben, sondern die Fronten wurden noch verschärft. Der Film kommt zur richtigen Zeit zu den Wahlen auch in die Kinos in Amerika.
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Meine Freundin Conni – Geheimnis um Kater Mau
rbr. Rotgekringelte Göre. Eigentlich ist die nette blonde Göre mit den rotgekringelten T-Shirt/Pulli schön längst aus dem Teenageralter heraus. Denn Cornelia «Conni» Klawitter tauchte bereits 1992 im Kinderbuch «Conni kommt in den Kindergarten auf. Aus dem Kind, ersonnen von Autorin Liane Schneider nach dem Vorbild ihrer Tochter Cornelia, wurde ein Teenager und Erfolgsheldin. Inzwischen umfasst die Kinder- und Jugendbuchreihe mit den Autorinnen Liane Schneider, Julia Boehme, Dagmar Hossfeld unzählige Ausgaben, 65 Hörspiele und eine Zeichentrickserie mit über 50 Folgen. Und nun nach zwei Realfilmen 2015 und 2017 der erste animierte Kinofilm «Meine Freundin Conni – Geheimnis um Kater Mau». Connis grösster Freund ist Kater Mau, und ausgerechnet der darf nicht mit auf den dreitägigen Ferientrip zum Schluss Finkelstein? Denkste. Der kecke Schmusekater heftet sich als blinder Passagier an die Socken von Conni und ihren Freunden Anna und Simon. Mau, der alles andere als mau ist, freundet sich mit dem Waschbären Oskar an und stellt allerlei Unfug an. Schlimmer noch, Oskar oder Mau oder beide werden des Diebstahls verdächtigt, aber da gibt es doch noch die Mär von der diebischen Elster… Regisseur Ansgar Niebuhr («Prinzessin Lillifee») hat das Kinoabenteuer mit Conni & Co ganz im Sinne der Bücher inszeniert – liebenswürdig altmodisch, gleichwohl spannend und lustig. Ein Ferienspass ohne Techno-Schnickschnack (Handys oder so) für ganz junge Kinobesucher, wo es um Tierliebe, umtriebige Kinder und Freundschaft geht.
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The Personal History of David Copperfield
rbr. Viktorianische Odyssee. David Copperfield ist kein Unbekannter in der Filmgeschichte. Bereits zu Stummfilmzeiten wurde der berühmte Bildungsoman von Charles Dickens fürs Kino adaptiert. Nun ist Armando Iannucci (Buch und Regie) ins viktorianische Zeitalter eingetaucht. Der Held, also David Copperfield (Dev Patel, «Slumdog Millionaire»), blickt quasi zurück und kommentiert seinen Aufstieg – vom Waisen und gebeutelten jungen Arbeiter zum Schriftsteller. Das Schicksal, vor allem die Gesellschaft meint es nicht gut mit dem jungen Burschen. Seine Mutter Clara, früh verwitwet, heiratet den garstigen Industriellen Edward Murdstone (Darren Boyd), der den Stiefsohn für Jahre als Arbeitstier in seine Flaschenfabrik beordert. Es sind miese, auch kauzige und herzensgute Gestalten, welche die viktorianische Szenerie bevölkern: Die schrullige wohlhabende Tante Betsey (Tilda Swinton, eher blass) beispielsweise, der netten Schnorrer Mr. Micawber (Peter Capaldi), die gutmütige Haushälterin Mrs. Peggoty (Daisy May Cooper) und nicht zuletzt der arglistige «Freund» Uriah Heep (Ben Whishaw) beeinflussen und formen David Copperfield massgeblich. Er lernt die Niederungen menschlicher Existenz wie die Sonnenseiten des Lebens kennen. Das alles hat Iannucci recht vergnüglich in seine «Copperfield-History» verpackt. Der bunt-pittoreske Gesellschaftsreigen ist schön anzusehen, und das ist das Problem – zu schön und lackiert. Das Elend, etwa das armselige Strassenleben, die Fabrikarbeit und argen Wohnverhältnisse, macht keinen grausamen Eindruck. Da wird auch der fiese Intrigant Uriah Heep nur zum arglistigen, verklempten Kauz mit einer schwarzen (!) Mutter (Nikki Amuka-Bird). Diese geschönte illustre Selbstfindungsgeschichte wird Freunde aufwändiger Gesellschaftsbilder gefallen.
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Le meilleur reste à venir
rbr. Beste Freunde. Es beginnt alles mit einem Missverständnis und Vertuschung – wie so oft in Komödie von Shakespeare’s «Was ihr wollt» oder «Komödie der Irrungen» über Erich Kästners «Drei Männer im Schnee» bis zu Sydney Pollacks «Tootsie». Matthieu Delaportes und Alexandre de La Paterllière lieferten nach dem Kinoerfolg «Der Vorname» (Le Prénome, 2012) eine tragikomische Buddie-Performance. Zwei Freunde wollen das Beste für den anderen: Arthur (Fabrice Luchini), der Pedant, glaubt von César (Patrick Bruel), dem Lebemann, dass er todkrank sei – und umgekehrt. Eine Verwechslung bei einem Spitalintermezzo eben. César hat Lungenkrebs, Arthur weiss es, bringt es aber nicht fertig, seinen Freund aufzuklären. Umgekehrt meint Arthur, dass der andere sterbenskrank ist. Das ist für den Zuschauer zwar leicht durchschaubar, für die Protagonisten freilich nicht. Also ergeben sich kuriose Begebenheiten auf ihrer Reise nach dem Motto «Das Beste kommt noch», aber auch Misstöne, Zorn. Das Tête-à-Tête um beste Freunde bietet einige Verrenkungen, ist wie gesagt nicht neu, unterhält aber passabel mit Herz und ernstem Humor, getragen von den Schauspielern Fabrice Luchini und Patrick Bruel, Sänger und professioneller Pokerspieler, der bereits in «Le Prénome» mitwirkte. Ein beherzter Clinch, in dem Freundschaft über alles geht – trotz einiger Winkelzüge.
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Corpus Christi
rbr. Glaubensfrage. Auch dieser polnische Film fühlt der Gesellschaft auf den Zahn, obwohl der Titel «Corpus Christi» nicht gerade darauf hindeutet. Jan Komasa schildert den Glaubensweg eines jungen Kriminellen. Der 20jährige Daniel sitzt in einer Jugendstrafanstalt und hat ein offenes Ohr für Pater Tomasz. Auf Bewährung entlassen findet der gläubige Straftäter einen Job in einem Sägewerk und wie der Zufall so will, interessiert sich Marta (Eliza Rycembel) für seinen Glauben, sein Menschsein. Daniel (Bartosz Bielenia) gibt sich als pilgernder Priester aus und nimmt die Rolle eines Paters an. Und der wird im Dorf gebraucht, weil der zuständige Priester in Kur gehen muss. Der lässt sich gutgläubig täuschen wie auch die ganze Gemeinde, die an diesem jungen unorthodoxen Gottesmann trotz Bedenken Gefallen findet. Er ist ehrlich, unverblümt, menschenfreundlich – das kommt bei den jungen Leuten gut an. Keine Frage, Daniel alias «Pater Tomasz» geht es nicht um die Kirche, ihren Popanz und ihre Rituale, sondern um Menschen. Der unkonventionelle Prediger scheut sich auch nicht, sich für einen Dorfbewohner einzusetzen, den man als Schuldigen an einem Verkehrsunfall stigmatisiert, bei dem sechs junge Leute starben. Daniel will, dass sich die Menschen versöhnen.
Ein Priester als Hochstapler und Betrüger, der Gutes stiftet. Ein Gottesmann und Seelsorger – nicht von Amts und der Kirche wegen, sondern aus vollem Herzen. Natürlich wird er von einem Mithäftling aus schnöden Gründen enttarnt, aber Daniel hat sich zum tätigen Gläubigen entwickelt. Insofern erweist sich «Corpus Christi» nicht nur als bemerkenswertes Glaubensbekenntnis, es lässt sich auch zwischen Predigt und vermeintlichen «Freveltaten» (als falscher Priester) einiges an Kritik über die polnische Gesellschaft ablesen. Sei es, dass der Katholizismus in seinen Formen erstarrt und die Kirche teilweise unglaubwürdig geworden ist, dass der Schein manchmal trügt und das Wahre auch in einer falschen Vorstellung (Hochstapelei) stecken kann. Bartosz Bielenia überzeugt als Priester Daniel auf der ganzen Linie. Eine Entdeckung: «Corpus Christi» pendelt zwischen Komödie und menschlichem Drama und wurde für den Oscar nominiert. Respekt.
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Schwesterlein
rbr. Verzehrende Liebe. An den Filmfestspielen in Berlin fand das Drama um ein Geschwisterpaar starke Beachtung. Jetzt wurde «Schwesterlein» von der Schweiz für die Oscar-Nominationen angemeldet. Auch wenn namhafte deutsche Schauspieler im Mittelpunkt stehen, hat das berührende Drama einen Schweizer Touch. Vega Film (Ruth Waldburger) ist Produzent, die Schweizerinnen Stéphanie Chuat und Véronique Reymond schrieben Drehbuch und führten Regie. Altstar Marthe Keller («Homo Faber») agiert als unstete überforderte Mutter des erkrankten Schauspielers Sven (Lars Eidinger). Demnächst wird sie auch in der Comédie humaine «Wanda, mein Wunder» von Bettina Oberli zu sehen sein, der das Zurich Film Festival am 24. September eröffnet.
Das Lied von Johannes Brahms ist quasi das musikalische Leitmotiv: «Schwesterlein, Schwesterlein, wann gehen wir nach Haus? ‚Morgen wenn die Hahnen krähn, wollen wir nach Hause gehen. Brüderlein, Brüderlein, dann gehen wir nach Haus.’» Das melancholische Volkslied, von Brahms adaptiert, deutet eine Liebe an, von der das Schwesterlein verzehrt wird und sich nach dem Tod sehnt. Stéphanie Chuat und Véronique Reymond verändern die Verhältnisse. Sven, ein Star an der Berliner Schaubühne, ist schwer erkrankt an Leukämie. Seine Zwillingsschwester Lisa (Nina Hoss) umsorgt ihn mütterlich. Die Mutter selbst (Marthe Keller) hat viel zu sehr mit sich selber zu tun. Geradezu besessen will Lisa ihrem Bruder auf die Beine helfen. Dabei machen sich beide etwas vor, verkennen die Tatsachen. Sven, der gefeierte «Hamlet» (auch im wirklichen Theaterleben feiert Lars Eidinger seit Jahren Riesenerfolge als «Hamlet» und «Richard III.»), will zurück auf die Bühne. Koste es, was es wolle. Der Schaubühne-Intendant David, gespielt vom wahren Intendanten Thomas Ostermeier, ist dagegen. Er traut dem todkranken Star kein Comeback zu, denkt an mögliches Versagen und das Wohl seines Hauses. Lisa nimmt ihren Bruder mit in die Schweiz, nach Leysin, wo ihr Mann Martin (Jens Albinus) eine leitende Lehrerstelle hat. Lisa, die Theaterautorin, leidet an einer Schreibblockade und leugnet den wahren Grund ihrer Schwäche. Sie ist verstummr, seitdem sie von der Diagnose ihres Bruders weiss. Sie ist vollkommen auf ihren Bruder fixiert und nimmt eine schwere Ehekrise in Kauf. Man sieht es förmlich kommen, alle Liebesbeweise nützen nichts, auch nicht ihr Stück von «Hänsel und Gretel», das sie für ihren Bruder verfasst hat. Ein Abschied? Eines Nachts, wieder in Berlin, formt sie in einem Sandkasten ein Labyrinth. Es scheint, als könne sie ihren eigenen Verstrickungen entkommen.
Das Schweizer Regieduo lieferte nach ihrem zweiten Spielfilm «La petite chambre» (Das kleine Zimmer) ein kleines Meisterstück. Die beiden Filmschaffenden Stéphanie Chuat und Véronique Reymond, seit der Schulzeit in Liebe zur Bühne und zum Film verbunden, schufen ein intimes Liebesdrama der anderen Art. Sie beschreiben eine Seelenverwandtschaft in starken Bildern mit starken Schauspielern, die berührt. Kino, das bewegt und ans Herz geht – ohne Schmalz, falsche Töne oder Kalkül.
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Tenet
rbr. Vorwärts – rückwärts. Alle Medien-Augen schienen nur auf diesen Film zu warten – wie auf eine Naturkatastrophe oder ein Wunder. Er sollte, wenn nicht schon das Kino retten, so doch reanimieren. Filmemacher Christopher Nolan liefert mit seinem Action-Opus «Tenet» den ersten Blockbuster nach dem Corona-Kinoaus. Über 200 Millionen Dollar soll das Spektakel gekostet haben, das in einem halben Dutzend Ländern spielt (von Estland über Indien, Italien bis England und den USA). Die monatelange Startverzögerung ging obendrein ins Geld. Der Film müsste 800 Millionen Dollar einspielen, heisst es, um Gewinn zu machen. Ist das Zweieinhalbstundenwerk nun wirklich das Kinoereignis, zu dem es hochgejubelt wurde? Der «TagesAnzeiger» lobt «Tenet» über Massen und spricht von faszinierendem intelligentem Überwältigungskino für die Massen. Manche Kritiker sehen in dem schwarzen Helden (John David Washington), kurz «Protagonist» genannt, gar einen neuen James Bond. Man kann auch übertreiben.
Gut, der Protagonist alias John David Washington ist ein Mann der Tat, besitzt aber weder besonderen Charme noch nachhaltige Ausstrahlung. Er ist die (gute) Hauptfigur im Agentenspektakel, in dem es um nichts Geringeres geht, als die Welt zu retten, herausgefordert vom zynischen Bösewicht Sator (Kenneth Branagh). Dabei spielt dessen Gattin Kat (Elizabeth Debicki – sehr überzeugend) eine wichtige, auch erotische Rolle.
Es führte zu weit, in die Details dieser verzwickten Geschichte zu gehen. Wer blickt bei den pausenlosen Zeitverschiebungen, Vor- und Rückblenden noch durch, wohl nur Autor und Regisseur Christopher Nolan. Der jongliert zügellose mit seinem Lieblingselement, der Zeit – mal vorwärts, mal rückwärts, mal gleichzeitig. «Tenet», so die Mission des Protagonisten, soll so viel wie «Grundsatz» bedeutet. Witziger ist jedoch, dass man den Filmtitel auch rückwärts lesen kann. Und so spult Nolan seinen gigantischen Actionmix aus Spionage und Sciencefiction als Zeitspiel ab. Wie schon in seinen Filmen «Inception» oder «Interstellar» springen Handlung und Action hin und her. Da donnert beispielsweise ein Flugzeug in das Flughafengebäude und fährt zurück, zischen Kugel vorwärts und rückwärts, wird hoch- und runtergekraxelt (eben zurückgespult). Das ist bisweilen spannend anzusehen, bleibt aber pures Actionkino. Das Spektakel «Tenet» dröhnt allfällige Reflexionen über Zeit und Zeitlichkeit mit Power und Pulver zu. Ihm «existenzialphilosophische» Qualitäten anzudichten wie im Magazin «epd-Film», sei dahingestellt. «Tenet» ist eine Materialschlacht, die auf verschiedenen Zeitebenen spielt, wobei sich die Story laufend verschiebt. Ein bombastischer Thriller, der unterhalten kann, aber auf Dauer auch ermüdet.
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The Climb
rbr. Strapazierte Freundschaft. Passend zur aktuellen Tour de France: Zwei Freunde radeln im Hinterland der Côte d’Azur – fast wie die Profis. Doch Kyle (Kyle Marvin) ist Amateur und kommt schnell ausser Puste. Derweil sein Freund Mike (Michael Angelo Covino) munter drauflos strampelt und seinem Velogefährten so nebenbei gesteht, dass er mit dessen Verlobten Ava (Judith Godrèche) ein langjähriges Verhältnis hatte – und das kurz vor der Hochzeit. Gleichwohl wird geheiratet. Doch immer wieder geraten die beiden Busenfreunde aneinander. Man rangelt sich, versöhnt sich – mal bei einer Beerdigung, mal an Weihnachten, mal in den Skiferien. Es scheint, als könne der eine vom anderen nicht lassen.
Über sieben Kapitel strapazieren die beiden Helden, die gleichzeitig Autor (Covino/Marvin) und Regisseur (Covino) sind, ihre Freundschaft – von «I’m Sorry» (1) über «Thanks» (3) und «It’s Broken» (4) bis «Grow Up» (6) und «Fine» (7). Das Ende hat wieder mit Radfahren zu tun, aber auch mit Trennung und Happy-end. Das Kinodebüt der beiden Buddies Covino /Marvin ist gelungen, auch wenn die beiden nicht auf Klamauk und Klischees verzichten mochten, die dann ironisch gebrochen werden. Passend dazu oft bekannt Songs wie Elvis‘ «What Now My Love», als sich Kyle von seiner Frau trennt, oder ein Chanson von Charles Aznavour, als doch alles gut geht. Über weite Strecken macht die Buddy-Komödie Spass, auch weil letztlich nicht alles so ernstgenommen wird – ausser Freundschaft. Manches scheint schelmisch übertrieben, wirkt aber irgendwie dank der Hauptdarsteller kurios authentisch.
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Zwischenwelten
rbr. Heilsam. Von manchen Ärzten belächelt, von vielen Menschen geschätzt: Geist- oder Naturheiler werden geduldet oder verdammt. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts hat der Kanton Appenzell-Ausserrhoden im Gegensatz zu anderen Kantonen Naturheilpraktiker in einem offenen Gesundheitsgesetz legitimiert. Noch heute gibt es in Innerrhoden mehr Gebetsheiler als Hausärzte. Thomas Karrer, in Appenzell aufgewachsen, nahm es Wunder, welche Menschen solche unterschiedliche Wege des Heilens gehen und praktizieren. Acht Heiler und Heilerinnen haben sich der Kamera gestellt, geben Einblicke in ihre Praxis. Sie verfolgen unterschiedliche Methoden. Gerhard Kügl aus Ruggell arbeitet etwa als Aurachirurg, Niklaus Nauer als Gebetsheiler in Grub, Heinz Rüdlinger aus Ebnat-Kappel und Susanne Schiesser aus Frauenfeld als Geistheiler. Ihnen ist eines gemeinsam: Sie geben sich mit Hingabe dieser Aufgabe hin, wollen «göttliche» Energie in Bewegung setzen und materialisieren, Blockierungen lösen und helfen. Einer sieht spirituelle Kraft in seinen Bildern, andere suchen ihr «Heil» in Berührungen und Gebeten. Er wollte das Unsichtbare, das Mythische fassbar machen, meinte Thomas Karrer. Mit Makroaufnahmen und Bildern von Bergen und Wolken wollte er den Blick aufs Unsichtbare schärfen, die Verbindung zwischen Mensch und Natur nahebringen. Sein Dokumentarfilm «Zwischenwelten», an dem er sechs Jahre gearbeitet hat, erhebt keinen missionarischen, eher einen erhellenden Anspruch. Er hat zwar keine heilende, aber eine inspirierende Kraft und kommt der Aussage des Geistheilers André Peter aus Heiden nahe: «Wenn alles mit uns im Lot ist, sind wir heil.». Der Film, ist im Lot – verständnisvoll, sinnlich und inspirierend.
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Undine
I.I. Undine, die mythische Figur, will dem Mythos entrinnen. Was ist nicht schon alles über Undine geschrieben worden. Die Undine, eine Nymphe des Wassers, bekommt erst dann eine Seele, wenn sie sich mit einem Menschen vermählt. Einem untreuen Gatten bringt Undine den Tod. Auch Ingeborg Bachmann nahm sich schon des Themas an und rechnet in ihrer feministischen Erzählung Undine geht mit der seelischen Ignoranz der Männerwelt ab.
Undine heisst nun auch ein deutsch-französischer Spielfilm von Christian Petzold. Das Liebesdrama mit Paula Beer und Franz Rogowski in den Hauptrollen orientiert sich frei am Undine-Mythos. Regisseur Petzold, der auch das Drehbuch schrieb, verlegte die Sage um die Wasserfrau ins moderne Berlin. Undine (Paula Beer) ist promovierte Historikerin und führt Touristen durch die Berliner Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und zeigt ihnen Modelle, die von Wachstum und rücksichtsloser Dynamik der Metropole berichten. Nichts bleibt und ist von Dauer. Alles ist im Fluss. Berlin wurde einst am Wasser gebaut. Hier schliesst sich der Kreis zu Undine, der Wasserfrau.
Undine, Freelancerin, arbeitet und lebt zwischen Natur und Gesellschaft. Im Grunde sucht sie ganz mythisch die absolute Liebe, Dauer und Treue. Undine will ihrem Mythos entrinnen und den Bann brechen. Im Museums-Café wird sie von einem jungen Mann (Franz Rogowski) angesprochen, und schon im nächsten Augenblick wird die schicksalhafte Begegnung zum Wendepunkt in ihrem Leben, finden sich Undine und ihr Bewunderer, ausgelöst durch eine ungeschickte Bewegung, auf dem Boden, im Trümmerhaufen eines symbolhaft zerborstenen Aquariums, wieder. Später schlendern die beiden versunken und eng umschlungen durch Berlin, die kalte, babylonische Stadt. Undines neuer Freund ist Industrietaucher von Beruf und hat daher auch mit Wasser zu tun. Wenn er Unterwasserturbinen repariert, begegnet ihm mitunter ein Wels von mythischer Grösse. Das Tier mit Riesenschnurrbart hat einen Wagner-Namen namens Gunther. Der Anspielungen auf Mythen sind viele in diesem poetischen Film, der optisch in Bildern schwelgt, von den Liebenden, vom Wasser, von der Zärtlichkeit, von der Unmöglichkeit von Liebe, von der kalten Stadt, von Trennung und Wiederfinden und dem Reigen, der Leben heisst.
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The Secret – Das Geheimnis
I.I. Zufall geschieht nicht zufällig. In Miranda Wells (Katie Holmes) Leben scheint vieles schief zu laufen. Der alleinerziehenden Mutter von drei Kindern wächst alles über den Kopf, seitdem ihr Mann, ein Erfinder, vor einigen Jahren bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam. Das Geld reicht hinten und vorne nicht. Als hätte sich das Schicksal gegen sie verschworen, kracht während eines heftigen Hurrikans auch noch ein Ast durch das Dach ihres Hauses. Doch das Unwetter stellt Miranda nicht nur vor ihre nächste finanzielle Herausforderung, sondern bringt auch Bray Johnson (Josh Lucas) in ihr Leben. Von nun an scheint sich das Blatt für Miranda und ihre Familie zu wenden. Ob das an dem positiven und lebensbejahenden Spirit liegt, mit dem Bray plötzlich in ihr Leben tritt? Und was hat es mit dem rätselhaften Umschlag auf sich, der Bray Johnson ursprünglich zu Miranda geführt hat? Ein Geheimnis, das den neu gewonnenen Lebensmut und das langsam wiederkehrende Glück der Familie Wells sogleich wieder aufs Spiel zu setzen scheint…
Die Kernaussage des Films ist, dass Gedanken und Gefühle jedes einzelnen Menschen reale Gegebenheiten anziehen und erzeugen, und dieses Gesetz der Anziehung Auswirkungen auf jeglichen Aspekt unseres Seins, wie Gesundheit, zwischenmenschliche Beziehungen, Geld und Beruf hat. Dies geschehe nicht zufällig, sondern mit der Sicherheit und Genauigkeit eines Naturgesetzes. Der Inhalt des Films ergibt eine weitgehende Kongruenz zu den Lehrinhalten der Christlichen Wissenschaft und der Neugeist-Bewegung. Ein Herzschmerz-Film mit Happy End.
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Christoph Schlingensief. In das Schweigen hineinschreien
I.I. Regisseur, Provokateur und Charmeur. Ist es wirklich schon zehn Jahre her, dass Christoph Schlingensief mit erst 49 Jahren starb? Und doch scheint er so gegenwärtig zu sein. Sein wuscheliger Haarschopf, der Präsenz markierte und ihm etwas Wildes verlieh, einen Anschein unverwüstlicher Gesundheit und Stärke, aber eben nur ein Schein. Wie er am Zürcher Bellevue stand, sich unter die Leute mischte mit einem Plakat gegen Nazis für seine Hamlet-Aufführung im Schauspielhaus warb, die irritierten Zuschauer zu einem Besuch aufforderte, denn auch ein ehemaliger Nazi sei mit von der Partie. Oder im Schiffbau, da hatte ich mich vertan, wollte eine Theateraufführung sehen, die aber stattdessen im Schauspielhaus stattfand. Christoph Schlingensief stand neben mir, bekam das mit und sagte spontan, kommen Sie mit mir, wir fahren zusammen mit dem Taxi zum Schauspielhaus. Unterwegs telefonierte er mit Christoph Marthaler, so vertraut, so nahbar, man merkte, dass sie gute Freunde waren und ihm Marthaler viel bedeutete. Unprätentiös, höflich, freundlich und entgegenkommend, und dabei doch ein Bürgerschreck. Er konnte es, all diese Widersprüche in sich zu vereinen. Nun hat die Filmeditorin Bettina Böhler («Die innere Sicherheit», «Hannah Arendt») einen Dokumentarfilm über Schlingensief gemacht, mit Originalaufnahmen aus seiner Kindheit, aus allen Episoden und Filmen und mit Gesprächen von Kollegen und Freunden. Über zwei Jahrzehnte hat Christoph Schlingensief den kulturellen und politischen Diskurs im deutschsprachigen Raum mitgeprägt. Das intensive Filmporträt zeigt die ganze Bandbreite der Entwicklung vom jungen, experimentierenden Filmemacher über den Bühnenrevolutionär von Berlin und Bayreuth bis hin zum Bestsellerautor, der kurz vor seinem Tod die Einladung erhielt, den Deutschen Pavillon in Venedig zu gestalten. In ihrem berührenden Regiedebüt montiert Bettina Böhler virtuos die verschiedenen künstlerischen Arbeiten Schlingensiefs, die seine unbändige Energie spürbar machen. Das erste umfassende Filmporträt des Regisseurs, der in diesem Jahr 60 Jahre alt geworden wäre und unvergessen ist.
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to be continued