«Grösser als Zürich» - Kunst in Aussersihl
Irène Schweizer
«Irène Schweizer – Aussersihl goes Chicago, New York, ausnahmsweise Tonhalle»
Von Isolde Schaad
In Venedig hätte sie residieren können, im Palazzo Castelforte umflort von den blühenden Inkarnationen der Kunstgeschichte, aber Venedig ist kein Ort für sie, ein Arbeitsort schon gar nicht, da kämen New York oder Berlin eher infrage, Einladungen gab es genug. Nein, sie lebt seit 35 Jahren in Aussersihl, Zürichs ehemaligen Arbeiterviertel, und ich behaupte rundheraus, dank ihr sei Aussersihl das New York der deutschen Schweiz geworden, mitsamt den Handwerksbetrieben, die zu Kunstschauplätzen avanciert sind.
Etwas Robustes, handwerklich Solides strahlen Person und Werk aus, sie lebt ja schon länger auf der Sonnenseite des Lebens und darin nahe am Alltag, mit seinen kleinen Genüssen, etwa der Gemüsemarkt am Helvetiaplatz, das Plaudern mit Bäuerinnen und Nachbarinnen, die sich freuen, wenn denn einmal an der Feldstrasse im vierten Stock ihr alter Occasions-Flügel, ein Steinweg Grotrian, erklingt.
Erklingen? Kein Wort für diese Frau, die in ihrem Quer- und Alleingang zu den letzten Kühnheiten aufbrach, die ein Saloninstrument genannt Piano überhaupt hergeben kann.
Ueben tut sie selten, wenn schon, dann steigt sie dafür aufs Velo und radelt der Bäckeranlage entlang zur Magnusstrasse, wo sich das WIM befindet, die Werkstatt für improvisierte Musik. Wäre diese Irène nicht eine ganz dem Diesseits verpflichtete Praktikerin, würde man sagen, das WIM sei ihr Ort der Kraft.
Soll man, sie schert es nicht, es geht um die Sache, die durch und durch aus Musik gemacht ist, und einen organisatorischen Einsatz über die Tonleiter hinaus erfordert, manchmal sitzt sie sogar an der Kasse der von ihr mitbegründeten Festivals. (Fabrikjazz, taklos, unerhört).
Sie ermutigt und fördert junge Talente, egal ob Frau oder Mann. Klar, dass sie Feministin ist, aber ohne irgendein ideologisches Scharnier, das würde bloss quietschen in den Pedalen, sie bearbeitet mit Händen und Ellbogen das Instrument integral, gestattet sich zusätzlich einen Ausflug ins Sphärische.
Das hat einmal irritiert, aber das musste sein, und jetzt wartet man schon auf die Harfenklänge aus dem Innenraum des Klaviers. Es ist dann, als würde sie immer wieder von vorne anfangen, die eigene Klangwelt zu entdecken, zu ergründen, dieses Universum namens freie Improvisation.
Man kannte sie früher als ernst und konzentriert, als jene Aussergewöhnliche, die ohne Seitenblick kam, sich setzte, die Aermel zurückschob, um einen dissonanten Orkan zu entfesseln. Es hat gedauert, bis sie sich die Freiheit der freien Musik auch wirklich hat nehmen können, (und den Brotjob als Sekretärin der Firma Paiste Gongs quittieren).
Hingegen vermute ich, dass es im Tiefsten doch die Tugenden der protestantischen Ethik hinter den Geleisen in Schaffhausen (wo sie aufwuchs) gewesen sind, die sie durch ihre wilden Tastenpartien trugen. Disziplin, Ausdauer, Zähigkeit waren vonnöten, um sich durchzubeissen, nachdem sie das Clusterwunder Cecil Taylor kennengelernt hatte und nahe daran war, aufzugeben.
Die versponnene Magie eines Taylorschen Rituals, wie es in den Siebzigerjahren abging, verlangt hinterher dann einige Hiebe sowie strikte Akkordfolgen, die stützen, was an Rebellion der weissen Frau auf die Tasten prallt und in wirbelnde Ekstase umschlägt. Sie ist trotz aller Kollegialität sehr allein gewesen in der mächtigen meist farbigen Männerdomäne namens Freejazz.
Klar, dass sie weitermacht. Sie weiss ja mit einer Direktheit, die auch schmerzen kann, wer sie ist und wer nicht, und wittert sofort den falschen Ton in der Umständlichkeit genannt mitmenschliche Kommunikation. Da ist sie, das will sie, und damit basta. Notfalls muss ein Steinway in eine Waldlichtung gehievt werden. Wenn das Bürgertum sich seine gediegene Festlichkeit etwas kosten lassen möchte, nicht ihr Problem. Ihr Humor aber rettet sie ins Eigene, ganz und gar Unverwechselbare, ohne ihn, der in der Selbstbescheidung wohnt und erst allmählich aus dem Gespräch winkt, hätte sie das Eigene nicht erkunden und behaupten können.
Und jetzt also will das Bürgertum den Tonhalleauftritt. Das heisst Fremdgehen ohne Scham für eine politisch Unbestechliche wie sie. Aussersihl goes Tonhalle, das ist die grösste Distanz, die sie in den fünfzig Jahren ihrer Laufbahn zurückgelegt hat. Grenzüberschreitung aber ein Thema, ihm wachsen Flügel, und ein feines Gespinst der Tastenfühlung entsteht.
Im Zenith ihrer musikalischen Reife darf sich eine Irène Schweizer sogar melodische Lieblichkeit leisten, während draussen die stampfende Blasmusik des Sechseläutens verebbt. Drinnen bebt der Raum, das Rampenlicht umkreist statt einer Diva im Abendkleid eine Frau an der Arbeit in Jackett und Hosen. Irène Schweizer Solo, das ist ein Ganzkörpereinsatz mit einem tragenden Crescendo.
Als die Stimmung im Saal zum Bersten ansteigt, und es von der Galerie rote Rosen auf die mit dem Flügel verquickte Person schneit, setzt sie zu ihrem in Chicago und New York erprobten Schweizerschen Hausmacherhit an, und der Applaus prasselt hernieder und will nicht aufhören, sodass sie nach etlichen Verbeugungen noch einmal kommt und sich setzt. An diesem Abend, es ist der elfte April des Jahres 2011, füllt die Tonhalle Sinnen und Herzen mit einem anderen Zürich, einem Zürich ohne Ressentiments und ohne Berührungsängste.
Das Leben geht weiter mit siebzig, manchmal ist es, als fange es erst an. Unermüdlich, unverbraucht ist der Einsatz für ein Schaffen, das mehr will als Konzertieren, ein Musikantentum eher als ein Musizieren, das nach dem Bühnenerfolg schielt, es ist ein schöpferischer Dauerprozess gegen jede Routine, nicht mehr nötig, ihn Gegenkultur zu nennen, im Laufe der Zeit ist alles Programmatische aus ihrem Repertoire gewichen.
Das Jahr geht zur Neige, es ist viel los, mehr Auftritte als je. Als ich anrufe, will sie gleich zum Bahnhof. Joelle abholen. Joelle Léandre, eine alte Freundin und Mitmusikerin.
Du kennst doch Joelle?
Ja, sage ich unbestimmt, und zweifle, ob man jemanden wie die furiose Französin, die mit ihrer Bassgeige verheiratet ist, je kennen kann.
Am Abend wird dann Maggie Nicols, die engländische Voice dazustossen, und der Hexensabbath wird los sein, mit verschmitzten Walzereinlagen.
Les Diaboliques, das ist der Herd der Spielfreude, und darin das ungebrochene Lachen des wachgehaltenen Mädchentums. Sie nennt ihre Auftritte Gigs. Ich ergänze für mich: in diesem Fall kommt Gig von Gigeln.
Eigentlich, denke ich am anderen Ende der Leitung, fährt Irène Schweizer immer zum Bahnhof. Es ist der Bahnhof der Möglichkeitsform, in der sie, am liebsten im Duo, Weltklasseformat am Piano entwickelt.
Weltklasse meint auch ein transnationales, zunehmend universelles Klima, in welchem sie einen wachsenden Nachwuchs hegt und coacht, als Mutter dieser Möglichkeitsform.
Dieser Beitrag über Irène Schweizer erscheint im Buch des Verlages Scheidegger & Spiess zur Ausstellung im Helmhaus über Zürich-Aussersihl.
Zürich-Aussersihl ist das kreative Zentrum der Stadt: Wer Kunst macht, wer sich dafür interessiert, kommt am Kreis 4 kaum vorbei. Das Helmhaus Zürich widmet dieser auf kleinstem Raum konzentrierten Kreativität eine grosse Ausstellung mit über 300 beteiligten Künstlerinnen und Künstlern.
Helmhaus Zürich, bis 22. April 2012
Verlag Scheidegger & Spiess
«Grösser als Zürich −
Ein kleines Psychogramm des
Zürcher Stadtquartiers Aussersihl».
www.scheidgger-spiess.ch
CHF 44.00 / Euro 39.00
ISBN 978-3-85881-352-7