«Ein unkonventionelles Leben als Hüttenwartin 2610 Meter über Meer im Val Roseg Engadin»
Von Ingrid Isermann
An der Buchpräsentation in Zürich im Viadukt 97 erzählt Irma Clavadetscher über ihr Leben als SAC-Hüttenwartin in der Bergwelt im Oberengadin bei Pontresina, von der Magie der Natur und dem Privileg der Freiheit.
Das Publikum lauscht den schlagfertigen, spritzigen Antworten der 81-jährigen Irma Clavadetscher und den Passagen aus dem Buch «Ein Leben auf der Coaz-Hütte». In langen Gesprächen hatte Irma Clavadetscher der Autorin Irene Wirthlin aus ihrem Leben berichtet, manche Anekdote hervorgekramt, die vor der Vergessenheit bewahrt wurde und wie sie dem einfachen Leben in der Berghütte den Vorrang vor dem städtischen Leben gab.
Denn es ist eine Romanze, natürlich, und eine Entdeckung! Der Verlag kam gar nicht nach mit dem Nachdruck, nun bereits in dritter Auflage. Die ungewöhnliche, von der Autorin einfühlsam imaginierte Lebensgeschichte erklärt das anhaltende Interesse. Dabei spielten mehrere Zufälle eine Rolle, wie das Buch entstand.
Irma Clavadetscher erzählte in ihrem Bekanntenkreis, sie suche jemand, der ihre Lebensgeschichte aufschreiben könne. Das kam der Autorin zu Ohren, und so pilgerte Irene Wirthlin zwei Jahre lang nach Samedan ins Engadin, wo die Protagonistin heute noch lebt, um Irma Clavadetschers Geschichte authentisch zu erzählen.
Begonnen hatte alles am oberen Zürichsee in Schmerikon (Kanton St. Gallen), dort war Irma Adelina Müller am 29. März 1940 in einer gutbürgerlichen Familie zur Welt gekommen. Der Vater führt eine Spenglerei und besitzt einen schwarzen Mercedes, der stolz zur sonntäglichen Ausfahrt mit der Familie vorgeführt wird. Irmas Weg scheint vorgezeichnet, nach ihrer Ausbildung als Damenschneiderin in Rapperswil hatten die Eltern einen jungen Mann für sie ausgespäht, aus gutem Hause, der um sie warb. Irma rebelliert, vor allem zieht es sie in die Welt hinaus, nach Paris, der Vater ist dagegen. Sie findet in Arosa eine Saisonstelle bei einer Damenschneiderin und beginnt im Herbst 1959 in einem Couture-Atelier zu arbeiten.
Ist es Zufall, dass sich Irma und Christian Clavadetscher in Arosa begegnen? Als Irma Christian, genannt Hitta, kennenlernt, ist sie fasziniert. Man erzählt, dass er mit Maultier und Schäferhund zu Fuss über die Berge ins Engadin gehe, um seinen Bruder zu besuchen, der als Hüttenwart eine SAC-Hütte bewirtschaftet. Irma trifft sich mit Hitta an Sonntagen und sie machen gemeinsame Bergtouren.
Hitta verbringt den Sommer in der Coaz-Hütte im Val Roseg. Sein Bruder hat ihm die SAC-Hüttenwartstelle überlassen, die Ausbildung zum Bergführer hat er begonnen.
Hitta schreibt Irma sehnsuchtsvoll aus der Bergwelt: (…) «Arno (Hittas Schäferhund) und ich sind zur Coaz gewandert. War das schön! Dieses rauschende, gelbe Gras am Wege, diese leuchtenden, lodernden Lärchen, die sanften Birken, die sturmzerzausten Arven. Diese Täler im purpurnen, sanften Licht des Herbstes, diese lichtumfluteten Felsaltäre im grossen Schweigen, berührt nur noch vom unsäglich leisen Raunen und Weben der Ewigkeit. (…) Ich versuchte durch Wandern, Dich zu vergessen. Aber alles glitt an mir vorbei wie tote Blätter, Blätter, die bunt gefärbt sind, aber von den Ästen gerissen. Ich habe versucht, Dich hinter mir zu zurückzulassen, aber ich bin treuer als ich sein will».
Im August 1961 findet der erste Besuch mit ihrem Bruder Franz auf der Coaz-Hütte statt. Sie fahren mit dem Zug nach Chur, steigen in die Rhätische Bahn um, Piz Bernina und Berninakette mit dem Roseggletscher scheinen zum Greifen nah. Irma hat noch nie einen Gletscher gesehen, eine Welt aus Fels und Eis! Der Weg zur Hütte schlängelt sich an blühenden Bergwiesen vorbei und eine Stunde später stehen sie vor Hitta und der grauen Steinhütte mit dem flachen Satteldach, die sich an eine hohe Felswand schmiegt. Ihre Begeisterung für die Bergwelt entwickelt sich zum Fundament ihres gemeinsamen Lebens und ihrer Verbundenheit, in der die Natur eine prägende Rolle spielt.
Teamarbeit in der Coaz-Hütte
Am 10. November 1962 heiraten Christian Clavadetscher und Irma Müller in der St.Antonius-Kapelle in Maladers. Den Sommer verbringt das Paar in der einfachen SAC-Berghütte. Den Winter 1963/64 leben Irma und Hitta in ihrer neuen Wohnung in Samedan im Engadin. Hitta leitet die Skischule Samedan und arbeitet als Skilehrer und Bergführer. Die alte Chamanna Coaz auf 2385 Meter ü.M. gilt jedoch als zu unsicher, so wird 1964 auf 2610 Meter ü. M. eine grössere Berghütte von 170 m2 gebaut, mit fünfzig Schlafplätzen auf zwei Etagen, Gaslampen und Telefonverbindung. 1982 folgt ein Anbau mit einer Etage, sodass achtzig Schlafplätze für Wanderer zur Verfügung stehen. Bevor die Clavadetschers im Frühjahr 1965 ihre Arbeit in der neuen Berghütte aufnehmen, stehen Veränderungen an, denn am 21. November 1964 erblickte ihr Sohn Andrea das Licht der Welt. Vorläufig bleibt er mit seiner Grossmutter in Samedan, zur Sommersaison fliegt Andrea mit seinen Eltern erstmals im Helikopter auf die Berghütte. Die Warentransporte erfolgen zunehmend mit dem Helikopter statt mit Maulesel, doch Irma selbst bevorzugt Rucksack und Skier für die Strecke ins Tal.
Die Welt zu Gast in der Berghütte
Hitta ist oft tagelang mit Kunden auf Bergtouren unterwegs, während Irma vom Bergneuling zum Hüttenprofi mutiert. Irma ist für die ganze Infrastruktur zuständig, für Übernachtung und Verpflegung. Sie vertritt Hitta und hat es auch mit Kunden in der SAC-Hütte zu tun, die ihre Autorität anzweifeln. Doch Irma kann energisch werden und sich durchsetzen. Auch in einer Berghütte gelten Regeln, vor allem, wenn es ums Bezahlen geht, wovor sich einige gern drücken.
Inzwischen zählt die kleine Familie mit Töchterchen Christine vier Personen. Für die Kinder ist der Wechsel zwischen Wohnung und Schule in Samedan und der Coaz-Hütte eine Bereicherung.
Hitta, der Kunst zugeneigt, hat den Zürcher Galeristen Bruno Bischofberger eingeladen, der begeistert dem Maler Francesco Clemente davon erzählt, bis dieser ebenfalls auf der Coaz-Hütte eintrifft und die imposante Bergwelt auf die Leinwand bannt. Ein Impuls für den vierzehnjährigen Andreas, statt Bergführer wie der Vater, Künstler zu werden. Und tatsächlich zog Andrea mit 18 Jahren 1982 nach Zürich und besuchte die Kunstgewerbeschule.
Auch Irma und Hitta blieben Wandervögel und reisten zusammen auf die Seychellen, nach Mauritius und Jamaika, Kenia und in den Senegal, um fremde Kulturen kennenzulernen.
«Ich brauche nichts Grossartiges mehr zu erleben, nirgends mehr hin zu reisen», sagt Irma Clavadetscher, «ich habe alles gehabt, was ich wollte».
Ein ganzes Stück Schweizer Zeitgeschichte kommt in ihrer Lebensgeschichte zur Sprache, von kargen Kriegsjahren in der Schweiz zu den Anfängen der Frauenemanzipation, vom einfachen Leben und freiheitlicher Selbstbestimmung.
Untermalt wird das Epos von eindrücklichen schwarz-weiss-Fotografien von Christian Clavadetscher (1933-2009) aus der Bergwelt und der Familie mit ihren Kindern Andrea und Christine. Die Chamanna Coaz auf 2610 Metern ü.M. zwischen Fels und Eis ist von 1963 bis 2001 ihre Heimat.
Irene Wirthlin studierte Anglistik und Germanistik an der Universität Zürich und bildete sich in Individualpsychologie weiter. Nach diversen Auslandsaufenthalten war sie als Gymnasiallehrerin an einer Zürcher Mittelschule tätig und gibt Sprach- und Literaturkurse für Erwachsene.
Irene Wirthlin
2610 m ü. M. Irma Clavadetscher.
Ein Leben auf der Coaz-Hütte.
Verlag Hier und Jetzt, Zürich 2021
Geb., 228 S., 30 s/w-Fotografien
CHF 36. €36.
ISBN 978-3-03919-524-4
E-Book 978-3-03919-973-0
«Paul Nizon: Der Nagel im Kopf – Journal 2011-2020»
In seinem Journal 2011-2020 widmet sich Paul Nizon den Fragen seiner Herkunft, Identität und Heimat. Er spürt aufgrund von Notizen und Erinnerungen die Motivationen und Befindlichkeiten seiner Handlungen auf. Wirklichkeitherstellung durch Verschriftlichung, wobei sich Paul Nizon fragt, wo ist das Leben?
«Aber wo ist das Leben? Wie kann ich mich in das Gedächtnis der Literatur einschreiben? Wer bin ich eigentlich?». Diese Fragen haben Paul Nizon seit seiner Kindheit umgetrieben. Welche Antworten es darauf gibt, in diesem Exkurs einer Selbstanalyse, die noch die kleinsten und geheimsten Winkel der Seele auszuloten versucht? Mitunter fällt der Befund nach eigenem Bekunden nicht gerade schmeichelhaft aus, auch haben sich seine Perspektiven und Reflexionen auf Innen- und Aussenwelt im Laufe der Jahre geändert.
Ein Lesevergnügen ist es allemal, Nizons nicht unkritische, fundierte Notate zu lesen, ein kunsthistorisches und literarisches Universum, von Giacometti bis Frisch, Dürrenmatt oder Canetti. Auch über seine Familie spricht Nizon, insbesondere über den Vater als „Fremdling“ lettisch-russischer Herkunft, den er mit zwölf Jahren verlor. Eine Wunde, die nie heilte. In die Rolle des Fremdlings begab sich Nizon selbst mit seinem erfolgreichen „Diskurs in der Enge“ (1970). 1977 emigrierte er nach Paris, wo er auch heute lebt. Die Welt blieb da nicht aussen vor, Paris inspirierte und verzauberte ihn, liess ihn atmen.
Einfache Antworten gibt es nicht. Die Komplexität des eigenen Seins und Verhaltens zu hinterfragen, ist eine anspruchsvolle Aufgabe, die nie beendet ist, worin eben auch ihre existenzielle Herausforderung besteht. Journale zu schreiben, entspräche ihm am besten, erklärt Paul Nizon. Denn sein Roman sind die Journale. Bislang sind fünf Journale in 60 Jahren von 1961 bis 2010 entstanden.
Im nun vorliegenden sechsten Journal aus der unmittelbaren Gegenwart der Jahre 2011 bis 2020 erzählt er von Einsamkeit, Verlusten, von einem Schreibvorhaben, das wie ein «Nagel» in seinem Kopf feststeckt, und nicht vorankommen will, aber auch von Euphorie und Erkenntnissen. Das Frauenbild oszilliert zwischen Romantik und ungestillter Sehnsucht, und welche Ironie der Geschichte, die Frau, Maria, die seinen Weg nur kurz kreuzte, konnte er ein Leben lang nicht vergessen, wie einen Nagel im Kopf.
Ein Autor, der exzessiv über sein Leben, das Schreiben ist, und Schreiben, das Leben ist, Einblicke gewährt und Sprachlosigkeit zu poetischer Sprachkunst destilliert.
Und ja, die Journale sind nicht nur eine persönliche Chronik, sondern auch eine zeitgeschichtliche Dokumentation.
Auszüge aus dem Journal 2011-2020
22. Mai 2011, Paris
Ich fürchte mich vor dem Wiedereinsteigen ins Manuskript des Nagels. Und gleichzeitig tönt das Vorhaben wie Stierkampfmusik in meinen Ohren. Wie schnell das Leben abläuft und sich verläuft. Gestern war ich noch an der Rue Simart und schwitzte und weinte an meinem Jahr der Liebe, und ich kann mühelos alles Damalige in mir hervorholen, und doch ist inzwischen ein halbes Leben an mir entlang- und zum Teil vorbeigegangen. Ich möchte so gerne Honig und Pfeffer und andere Betörungseffekte in die meiner harrende Prosa träufeln und mischeln können. Doch zuvor muss ein Atelier her.
3. Juli 2011, Paris
Die Einsamkeitsgefühle mehren sich in der eher finsteren Wohnung, obwohl ich ja alles andere als abgesondert lebe. Ich spüre, dass im Nagel im Kopf das Unglück des Kindes, Familienunglück bevorsteht. Wie war das verstümmelte Berner Familiendasein niederdrückend bis zur Sprachlosigkeit. Darum die Musik mit ihren Schwingen so wichtig. Es war mehr als Einsamkeit, es war die verdammte Niemandszugehörigkeit. Und der Krieg am Horizont. Unsere Familie war ein Unternehmen, ein Gastbetrieb, ich wuchs darin wie ein Luftgewächs empor.
Der Nagel im Kopf. Immer schon hatte ich Mühe mit meinen Personalien. Fragte man mich nach meinen Personalien, gab ich meinen Namen an, und schon bei der Frage nach meinem Beruf oder Alter stockte ich, nicht weil mir die Angaben fehlten, sondern weil sie mir so nichtssagend vorkamen, als gehörten sie einem andern. Nicht mir.
11. April 2014, Paris
Mir ist heute durch den Kopf gegangen, wohl für das Gespräch mit Simons dass ich bislang in Paris im Montmartre und jetzt in Montparnasse, im Norden und Süden und zwischendurch an die fünfundzwanzig Jahre im 1. Bezirk Nähe Louvre, Comédie Française, Palais Royal gelebt habe. Und dass ich immer von der französischen Lebensart samt den diese kräftigenden Werte angezogen bis betört gewesen sei und das pariserische Beispiel in mir nicht nur Lebenslust ausgelöst hat, sondern pures Glücksversprechen, Glücksempfinden, und darin hat das erotische, alles verzaubernde Ferment eine würzige Rolle gespielt.
28. Januar 2016, Paris
(…) Maria kreuzte ich auf der Strasse. Sie blieb stehen. Sie küsste mich. Sie nannte mich beim Namen. Was treibst du nur immer, sagte sie. Und weg war sie. Sie war nicht unnahbar. Ich nippte an ihrem Glanz. Ich erlabte mich an ihrer Erscheinung. Und das Leben war in Glanz getaucht. Und gleich darauf in bittere Entbehrung. Und ihr Bild verfolgte mich wie eine Verbrennung. Noch wenn wir zusammen waren, stach mich der Schmerz des Verlustes. Mit ihr war nie Gegenwart, immer war es Abschied, ein Buchstabieren in der Erinnerung, ein Zusammensuchen. Ich trug ihr Bildchen auf mir und ihren Schmelz in mir, was war mit mir geschehen?
19. August 2020, Paris
Übermorgen geht’s in die Schweiz zu den ersten Kinovorführungen des Nizon-Dokumentarfilms «Der Nagel im Kopf» in Zürich und Bern, vorerst zu Valérie. Ich werde mich mit dem Publikum unterhalten, Rede und Antwort stehen müssen, eine Anzahl alter Freunde wiedersehen. Bin dabei, Reisevorbereitungen zu treffen (…), ein leicht mulmiges Gefühl bezüglich der langen Bahnfahrt unter der (Corona)Maske.
Habe gestern den Umschlag des kommenden Journals mit dem Titel «Der Nagel im Kopf» erhalten, bin gespannt auf die Lektüre der bevorstehenden Konvolenz. Dann setzt endlich meine Arbeit oder Aufsicht ein.
Es ist an der Zeit, dass ich mich wieder – und wenn auch nur lektorierenderweise – an meine Texte mache; wie halte ich es bloss ohne Produzieren aus?
Paul Nizon, geboren 1929 in Bern, lebt in Paris. Der «der zur Zeit grösste Magier der deutschen Sprache» (Le Monde) erhielt für sein Werk, das in mehrere Sprachen übersetzt ist, zahlreiche, Preise, Ehrungen und Auszeichnungen.
Paul Nizon
Der Nagel im Kopf
Journal 2011-2020
Herausgegeben von Wend Kässens
Suhrkamp Verlag, Berlin 2021
Leinen, 263 S.
CHF 37.90, € 26.
978-3-518-42961-7
«Donna Leon: Flüchtiges Begehren – Commissario Brunettis dreissigster Fall»
Der venezianische Commissario Guido Brunetti gehört seit Jahren zur Konstante der Krimiliteratur. Diesmal mischt die Autorin Donna Leon die beliebte Italianità um Brunetti mit dunklen, mafiosen Seiten, in deren Fänge zwei junge Burschen geraten. Auch die Jubiläumsausgabe zum dreissigsten Fall der schon legendären Brunetti-Krimis ist von gesellschaftlich-politischer Aktualität und sozialer Empathie geprägt. Und wie immer schon auf der Bestsellerliste.
An einem Samstagabend auf dem Campo Santa Margherita lassen sich nach einem Drink zwei Touristinnen aus den USA von zwei jungen Venezianern zu einer verlockenden Spritztour in die blaue Lagune einladen. In der einbrechenden Dunkelheit rammt das Motorboot unvorhergesehen einen Holzpfahl, der im Meer treibt. Das Boot gerät ins Schlingern und die Insassen werden heftig hin- und hergeschleudert. Die beiden Touristinnen werden bei dem Manöver erheblich verletzt. Die Männer hieven die bewusstlosen jungen Frauen auf einen Steg beim Ospedale und verschwinden geräuschlos in der Nacht.
Warum wurde die Notaufnahme nicht alarmiert, fragt Brunetti zuerst, als die Polizei verständigt wird, weil die Touristinnen mehr per Zufall verletzt gefunden werden. Die Suche nach den Tätern ist zäh, als Brunetti endlich weiss, wer dahintersteckt, kommt er einer Organisation auf die Spur, die weite Kreise zieht, mit Flüchtlingen Menschenhandel betreibt und vor nichts zurückschreckt, sodass auch Brunetti um seine Sicherheit fürchten muss.
Wie immer, ist auch diese Ausgabe der schon legendären Brunetti-Krimis von gesellschaftlich-politischer Aktualität und sozialer Empathie geprägt. Und man ist gerne dabei, wie Brunetti den Fall löst und en passant philosophische Weisheiten in den venezianischen Alltag einfliessen. Ein wenig dolcefarniente ist Guido Brunetti, dem Commissario mit italienischem Ambiente eigen, nicht zuletzt als charmante Note dieser Krimi-Bestseller.
Leseprobe:
(…) Dann eine kurze Meldung über zwei junge Amerikanerinnen, die man am Sonntag in den frühen Morgenstunden auf dem Steg vor der Notaufnahme des Ospedale Civile bewusstlos vorgefunden hatte. Der Artikel nannte ihre Namen. Dann hieß es nur noch, eine der beiden hätte einen gebrochenen Arm gehabt.
Unaufhaltsam wanderte sein Blick zu dem Artikel darunter: Da ging es um die Durchsuchung eines ehemaligen Schweinezuchtbetriebs bei Bassano, wo man bereits die sterblichen Überreste der zwei Ehefrauen des früheren Besitzers – der inzwischen eines natürlichen Todes gestorben war – entdeckt hatte. Und jetzt gab es Reste, die auf eine dritte Frau hinwiesen, die nach Aussage von Nachbarn eine Zeitlang dort gelebt hatte, dann aber plötzlich verschwunden sei.
Es war das Wort »Reste«, das Brunetti aus dem Büro hinaus und die Treppe hinunter ins Freie jagte. Er hielt auf die Bar zu, getrieben allein von dem Wunsch, all das hinter sich zu lassen.
Bamba Diome, der senegalesische Barmann, hatte seinen Arbeitgeber hinter dem Tresen abgelöst. Brunetti brachte nur ein wortloses Nicken zustande. Er sah nach links, die drei Nischen waren besetzt. Umso besser, sagte er sich, schließlich war er nur hier, um kurz aufzutanken. Er studierte die Glasvitrine mit den tramezzini: Die hatte Sergio gemacht, der sie immer noch zu Dreiecken schnitt, während Bamba Rechtecke bevorzugte. Vielleicht eins mit Ei und Tomate? Bamba kam zu ihm und wischte kurz über den Tresen.
»Wasser, Dottore?«
Brunetti nickte. »Und eins mit Tomate und Ei.« Den vor ihm liegenden Gazzettino schob er beiseite. Bamba, dem dies nicht entging, sagte: »Schrecklich, nicht wahr, Dottore?«, und stellte ihm ein Glas Wasser und das tramezzino hin.
»Ja. Schrecklich«, bestätigte Brunetti, auch wenn er nicht wusste, welchen Artikel der Barmann meinte. Bamba sah nach den Nischen, wo jemand die Hand hob, und glitt diensteifrig hinter der Theke hervor.
Brunetti nahm einen Bissen, legte das tramezzino auf den Teller zurück und trank einen Schluck Wasser. Wenn dies mein tägliches Mittagessen sein müsste, dachte er, wäre mein Leben nicht mehr lebenswert. Das war kein Essen, nur Treibstoff. Gut waren sie ja, diese tramezzini, aber das änderte nichts daran, dass es bloß tramezzini waren. Wo sollte es hinführen, wenn wir ein Sandwich als Nahrung akzeptierten?
Brunetti, studierter Jurist, hatte sich immer auch für Geschichte interessiert, und Bücher über die Geschichte der Neuzeit hatten ihn gelehrt, wie Diktaturen sich oft aus Kleinigkeiten entwickeln: einschränken, wer welche Arbeit machen darf, wer wen heiraten, wer wo leben darf. Mit der Zeit wachsen diese Auflagen sich aus, und bald dürfen manche Leute gar nicht mehr arbeiten oder heiraten oder – am Ende – leben. Er verwarf den Gedanken als völlig übertrieben. Der Weg zur Hölle war nicht mit tramezzini gepflastert.
Er ging zur Kasse. Bamba bongte den Betrag und reichte ihm die Quittung. Drei Euro fünfzig. Brunetti gab ihm einen Fünfeuroschein und wandte sich zum Gehen, ehe der Barmann ihm herausgeben konnte.
Auf dem Rückweg zur Questura horchte Brunetti in sich hinein, ob seine Lebensgeister sich regten.
Die Sonne schwächelte bereits und schaffte es nicht mehr über die Gebäude zu seiner Linken. Endlich kommt das Wetter zur Vernunft, dachte Brunetti, bald wird es Zeit für risotto di zucca. In ein paar Wochen könnten Paola und er in die Giardini gehen und die Verfärbung genießen. Früher saßen sie oft im Parco Savorgnan, aber seit ein Sturm drei seiner Lieblingsbäume umgeworfen hatte, zog es Brunetti nicht mehr dorthin, auch wenn er somit auf das Gebäck bei Dal Mas verzichten musste. Schließlich gab es auch noch die Farbenpracht in den Giardini Reali: Die waren kürzlich wieder hergerichtet worden und lockten zudem mit einem wunderbaren Café, wo man ungestört einfach nur sitzen und lesen konnte.
Was immer an Nährstoffen in dem tramezzino gesteckt haben mochte, zu spüren war davon nichts, keine neuen Kräfte, die seine innere Unruhe hätten vertreiben können.
Unten an der Treppe blieb er vor der Korktafel an der Wand stehen. Der Innenminister, las Brunetti, äußere sich besorgt, dass zu viele Leute ihre Dienstwagen für außerdienstliche Zwecke nutzten.
»Wie schockierend«, brummte Brunetti. »Vor allem hier bei uns.«
Seine gedämpfte Stimmung vom Vorabend hatte ihn immer noch im Griff. Schuld daran war vielleicht auch das Gespräch mit zwei alten Freunden, die vorzeitig in Rente gegangen waren und nun kein anderes Thema mehr kannten als die süßen Streiche ihrer Enkel.
Hier unten war niemand, auch auf der Treppe rührte sich nichts, in der Ferne klingelte ein Telefon und verstummte plötzlich. Beschämt über seine Trägheit und Pflichtvergessenheit gab er sich einen Ruck und rief Signorina Elettra in ihrem nur wenige Meter entfernten Büro an. Er müsse dringend gehen, sagte er, einer seiner Informanten wolle ihn unbedingt sofort sprechen.
Donna Leon
Flüchtiges Begehren
Commissario Brunettis
dreissigster Fall
Aus dem Amerikanischen
von Werner Schmitz
Diogenes, Zürich 2021
315 S., Hardcover
CHF 32.
ISBN 978-3-257-07120 7