FRONTPAGE

«Trekking im Süden Islands»

Von Ingrid Schindler

 

Wir sehen weder Elfen, noch Trolle, keine Berg- und Wassergeister und begegnen auch keinen toten Seelen. Wir fühlen nicht, dass der Boden unter uns bebt, die Magma brodelt, obwohl ein vierzig Kilometer langer Magmastrom in wenigen Wochen nach oben drängen und der Bardarbunga unter dem Gletscher Vatnajökull sein Innerstes nach Aussen speien wird.

Was wir spüren: die Füsse, Fersen und Zehen, wenn sie nach sieben, acht Stunden müde sind vom Wandern. Wenn sie beim Furten eiskalter Gletscherflüsse das Gefühl verlieren. Kaum wird es gemütlich warm im Schuh, ist die nächste Furt zu queren. Wir spüren den Regen, wenn er als Sprühnebel die Haut streichelt, wenn er sich zum prickelnden Niesel-Peeling steigert, wenn er waagrecht mit harten Strahlen ins Gesicht sticht. Wir spüren, wie die Kälte heraufkriecht, wenn wir in der Nässe und im Wind stehen bleiben. Ein Wind, der uns die Funktionsjacken bis zur Nasenspitze schliessen und Mützen, Handschuhe und lange Unterhosen im Hochsommer tragen lässt.
Ob Sonne, Wind und Regen, vorhersagbar ist das Wetter im isländischen Hochland nicht. «Es heisst zwar, Süd- und Ostwind bringen Regen und Wolken, Nordwind kaltes, klares Wetter. Aber fragt nicht nach Prognosen», sagt unser Guide, es ist sinnlos». Am Morgen schön, am Mittag schlecht, am Abend schön und umgekehrt. Drei Jahreszeiten an einem Tag. Nur der Sommer lässt auf sich warten, er kommt im Juli/ August nicht über 15 Grad hinaus.

 

 

Feuer und Eis
Zwei Wochen ziehen wir in dem Sommer, der auch zuhause in der Schweiz keiner ist, zu Fuss durch menschenleere Mondlandschaften im Südwesten Islands. Myrdalsjökull und Vatnajökull, die grössten Gletscher Islands, bilden die groben Eckpunkte der Trekkingtour, die am östlichen Ranga-Fluss bei Hella beginnt und irgendwo im Nirgendwo an der 70 km langen Eldgja endet. Die Feuerschlucht ist die grösste Vulkanspalte der Erde. Sie trennt die eurasische Kontinentalplatte von der nordamerikanischen, die jedes Jahr weiter auseinanderdriften.

Die Gebiete, die wir bergauf, bergab durchstreifen – Landmannaleid, Maelifellssandur und Fjallabakleid, das «Land hinter den Bergen» – sind geprägt von heissen Quellen, kochenden Schwefeltöpfen und vor allem von Vulkanen. Man kennt ihre Namen aus den Nachrichten. Hekla, Laki, Katla, Tindfjallajökull, Torfajökull, Eyjafjallajökul. Ausbruchslüstern und gefährlich. Feuer und Eis. Die meisten verbergen sich unter Gletschern und Schneedecken. Nicht jedoch die Hekla, der aktivste, tückischste und berüchtigste Vulkan von allen. Der feuerspeiende Drache tarnt die fünf Kilometer lange Vulkanspalte wie ein schlummerndes Chamäleon als langgezogenen Bergrücken, mit Schuppen aus Schnee auf schwarzem Lavageröll.
Die Hekla, in deren acht Kilometer ins Erdinnere hinabreichendem Magmatunnel Dichter, Forscher und Abenteurer früher das «Tor zur Hölle» und tote Seelen sahen, bildet den Dreh- und Angelpunkt unserer Tour. Tagelang faszinieren uns die bizarre Schönheit der Lavaformationen, je älter, desto malerischer mit Flechten und graugrünem Moos überzogen, und die Lebensfeindlichkeit der vorgelagerten Aschewüsten, die an Science-Fiction-Filme auf anderen Planeten erinnern – tatsächlich wird hier oft gedreht. Von allen Seiten kreisen wir um den 1491 Meter hohen Spaltenvulkan, dessen Laven von insgesamt 38 Ausbrüchen stammen und eine Fläche von 65 km2 bedecken. Seit Jahren ist der nächste Ausbruch nach Ansicht von Wissenschaftlern überfällig, zuletzt brach er 1970, 1980/81, 1991 und 2000 aus, mit nur 30 bis 80 Minuten Vorwarnzeit. Jede Veränderung am Berg und jedes noch so kleine Beben werden akribisch beobachtet.

 

 

Moos und Schafe
Unser Weg ist weglos und abwechslungsreich und führt uns täglich durch andere fremde Welten. Wir gehen querfeldein, folgen den Canyons von Gletscherflüssen, die sich in vegetationslose, buntgebänderte Rhyolithberge, graue Basaltfelsen, schwarz glänzende Obsidianhalden und saftiggrüne Mooshänge einschneiden, rutschen auf losem Geröll Kraterränder hinunter, queren Tundren, Heiden, Asche-, Stein- und Sandwüsten, springen über Bäche, waten durch weitverzweigte Wasserlandschaften, versinken mit den Schuhen in vor Wasser triefenden, schmatzenden Wollgraswiesen, in Schlick, Morast und superflauschige Teppichen aus Moos.
In den Bergen ist die Vegetation überaus spärlich. Selten hie und da ein Pflänzchen – Grasnelken, Seggen, Engelwurz, Knöterich, Säuerling oder etwa Arktischer Thymian –, das es schafft, sich im losen Untergrund Erosion, Wind, Wasser und Sandstürmen standzuhalten. Leuchtend frisches, kitschig schönes Moosgrün wuchert nur an Quellen, Bergbächen, kleinen Wasserfällen.
Wo spärlich Gras und Kräuter wachsen, grast ab und zu eine Dreiergruppe Schafe. «Sie weiden immer zu dritt, Mütter mit Nachwuchs», erklärt der Guide. Schafe ziehen den Sommer über im Hochland frei herum, bis sie im September mithilfe von Hunden und Islandpferden zusammen getrieben und eingestallt werden, denn den Winter würden sie hier nicht überleben. Ansonsten kein Tier, keine Menschenseele, der wir tagsüber begegnen. Nicht mal ein Vogel zeigt sich. Alle paar Tage erspähen wir in der Ferne einen töltenden Reittrekk oder Geländewagen, der sich mühsam durch die Wildnis arbeitet. Einmal stossen wir im Gebiet der Hekla selber auf eine Sandpiste. Und tatsächlich kommt ein Auto vorbei. Verirrte Touristen, heilfroh, dass sie jemanden nach dem Weg fragen können. Sie haben längst den Bereich ihrer Karte verlassen. Unser Guide hilft ihnen mit seinem Gespür für Topografie und seinem Navi weiter.

 

 

Hüttenleben
Unsere Gruppe ist klein. Wir sind sechs bzw. acht Teilnehmer aus USA, Kanada, Deutschland und der Schweiz, dazu der französische Guide und eine isländische Geologin, die unsere Köchin und Fahrerin ist. «In Island sind Frauen Männer», heisst es im vielfach ausgezeichneten Island-Film «Of Horses and Men», der am 11. September in die Kinos kommt und das Wesen der Isländer, ob Mensch oder Pferd, erklärt.
Unsere junge Fahrerin steuert den für hiesige Verhältnisse umgebauten und höhergelegten Geländewagen mit dem Anhänger fürs Gepäck, die Schlafsäcke, Lebensmittel, Töpfe, Gaskocher und -flaschen geschickt und ungerührt über die kurvigen, unbefestigten Schotterpisten, über Schlaglöcher, Treibsand, steile, unübersichtliche Passagen und Flüsse ohne Brücken hinweg. Immer findet sie den Weg, obwohl oft nicht ersichtlich ist, wo die Piste verläuft und wo sie sich am anderen Ufer einer Furt fortsetzt.
An der Hütte angekommen, kurbelt die Frau am Steuer den Hänger ab, schleppt die wasserdichten Outdoor-Taschen und Küchenboxen in die Hütte, macht Feuer und Pfannkuchenteig und strickt, wenn es nichts weiter zu tun gibt, Warmes aus isländischer Wolle. In Island macht man zwischen Frauen und Männern keinen Unterschied, sagt die 30-Jährige. Man ist gleichberechtigt.

Während unser Gepäck jeden Tag mit dem Wagen weiterfährt, wandern wir zu Fuss mit dem Tagesrucksack, gerüstet für alle Jahreszeiten, 20 bis 30 Kilometer täglich zur nächsten Hütte. Ob alt und urchig, mit Dächern aus Torf und Gras, oder neu und schön, immer liegt die Hütte vor einer grandioser Kulisse. Die Schuhe bleiben draussen im Vorraum; wer Glück hat, stopft sie mit alten Zeitungen aus, damit sie über Nacht besser trocknen. Aber den Luxus des Zeitungspapiers gibt es nicht überall.
Drinnen erwartet uns ein einfaches Matratzenlager, ohne Strom und heisses Wasser. Das gibt es, wenn überhaupt, nur gegen Extra-Kronen in einer Dusche mit Automat. Die Matratzen sind 1,20 Meter breit, je nach Belegung teilt man sie zu zweit. Meist wird im selben Raum gekocht, genächtigt und die Kleidung zum Trocknen aufgehängt. Dann riechen alle nach dem Speiseplan. Nach Lammeintopf und -suppe, gedünstetem oder gebratenem Fisch mit Blauschimmelkäsesauce, Lachsnudeln und wieder Lammsuppe, -keulen und manchmal auch nach Pferd. Zur Nachspeise gibt es abwechselnd Pfannkuchen mit Blaubeeren oder Skyr mit Blaubeeren, fettfreien, isländischen Quark. Als erstes, wenn wir zu den Hütten kommen, stürzen wir uns natürlich gierig auf die Appetizer: auf wilden Lachs und Forellen, über Schafsmist geräuchert, Blauschimmelkäse, Sardinen, Sardellen und Knäckebrot.

 

 

Massenbad
In den Hütten trifft man manchmal auch andere Menschen. Einen Hüttenwart zum Beispiel, vereinzelte Wanderer, die ihr Zelt vor der Hütte aufschlagen, oder Reitergruppen. Reiten ist sehr populär und es scheint in Island mehr Pferde zu geben als Menschen. Ein einziges Mal, in Hvanngil, sind es plötzlich viele Menschen, viel zu viele. Und als spät am Abend auch noch eine Reitergruppe mit grosser Herde ankommt, fliessen Bier und Whiskey, werden Pferdesteaks grilliert und Kraftmeiereien und Spiele unter lautem Gröhlen bis in die tiefe Nacht durchgeführt. Am liebsten würden wir weiterziehen, doch auch wir am nächsten Tag wollen die warmen Quellen von Landmannalaugar besuchen.
Die Touristenattraktion in einer der eindrucksvollsten Landschaften Islands ist der Grund, warum wir auf unserer Wildnisttour den Laugavegur kreuzen, die wohl schönste und beliebste Trekkingroute Islands. Sie führt von Porsmörk bzw. Skogar an der Südküste zu den Quellen, Fumarolen und farbenprächtigen Rhyolitbergen von Landmannalaugar. Die Wanderer übernachten in Hütten des Isländischen Wandervereins, die lange im Voraus ausgebucht und bis zum Bersten gefüllt sind. Vier Räume stehen in Hvanngil für Touristen bereit, jeweils 18 Mann teilen sich neun Betten und einen kleinen Tisch zum Essen pro Raum. In einer winzigen Küche bereiten alle ihr mitgebrachtes Essen zu. Das Wasser muss zum Abspülen erst erhitzen werden.
Noch viel mehr Menschen und ihren Zelten begegnen wir bei den heissen Quellen von Landmannalaugar. Doch lieber, als uns bei Regen die Kleider auf einer kleinen Holzplattform vom Leib zu reissen und vor Schlamm geschützt mit hundert anderen über das Geländer zu hängen, verzichten wir auf das Massen-Vergnügen im Algenpfuhl und ziehen in der kleinen Gruppe weiter. Zwei Tage später sehen wir von weitem Rauchsäulen aufsteigen. Bald geniessen wir das heisse Bad allein. In wilder Einsamkeit und dann auch noch bei Sonnenschein.

 

 

„Of Horses and Men“, ein Film von Benedikt Erlingsson über die eigentümliche Beziehung der Isländer zu ihren Pferden, unterlegt mit berückenden Landschaftsaufnahmen. 
Island, ein Tal irgendwo im Nirgendwo. Menschen gibt es hier wenige, dafür umso mehr Pferde. Das Leben der Männer und Frauen ist untrennbar mit den Tieren verbunden.
Die Häuser der einzelnen Familien stehen hunderte von Metern auseinander. Trotzdem weiss jeder alles von jedem – denn alle beobachten sich gegenseitig mit Feldstechern. So bleibt weder ein willkürlich aufgestellter Zaun noch das erste Treffen eines Paares unbemerkt…
Regisseur Benedikt Erlingsson entfaltet seine geschickt verknüpften Geschichten in der grossartigen Landschaft Islands. Er entwirft einen faszinierenden Mikrokosmos, in welchem die Menschen nicht nur mit der rauen Natur, sondern auch mit ihren Bedürfnissen und Wünschen zu kämpfen haben. «Of Horses and Men» besticht mit eindringlichen Dialogen, einem starken Schauspiel-Ensemble, grossartigen Bildern einer einzigartigen Natur, skurrilem und manchmal auch derbem Humor. Der vielfach ausgezeichnete Film über das Pferd im Menschen und den Menschen im Pferd zieht einen in seinen Bann – und hat Kult- Potenzial (siehe auch Filmtipps).

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