«Kalmann: Ein Simpel, der die Welt versteht»
Von Ingrid Schindler
Kalmann Odinnsson ist Haifischfänger, Gammelhai-Spezialist, Dorftrottel und selbsternannter Sheriff von Raufarhövn. Der Held des neuen Romans des Bündner Autors Joachim B. Schmidt sieht die Welt auf spezielle Weise: ergreifend naiv und erstaunlich logisch. Ein berührender, fein gewebter Stoff, der ungeschönt Lust auf Island macht.
Der Dorftrottel als Held. Kalmann als isländischer Forest Gump. Lars Eidinger wäre die Idealbesetzung. Zu wenig Sauerstoff bei der Geburt und alles geht einen Gang langsamer, einfacher gestrickt, simpler zu im Leben und Denken des 34-jährigen Grönlandhai- und Polarfuchsjägers. «In Kalmanns Kopf laufen die Räder manchmal rückwärts», näher geht Autor Joachim B. Schmidt nicht auf die geistige Behinderung seiner Hauptfigur ein. Sein Grossvater hat ihn fit fürs Leben gemacht, ihm das Wesentliche beigebracht und sein Boot «Petra» überlassen. So hat der Tor, der nordische Simplizissimus, seinen Platz in der Gemeinschaft der kleinen Fischergemeinde gefunden.
Mit Cowboyhut, Pistole und Sheriffstern, die ihm als einziges von seinem Vater, einem amerikanischen Soldaten geblieben sind, sorgt er als Sheriff von Raufarhövn für Ruhe und Ordnung, von den anderen manchmal belächelt, aber doch akzeptiert und respektiert. Wenn Fremde ihn irritiert anschauen oder fragen, «was grinst der so blöd?», sind es «immer die Leute aus Raufarhövn die mich verteidigen, denn hier kennt man mich, hier bin ich wer». Handkehrum mag Kalmann Leute, die er nicht kenne, grundsätzlich nicht. «Ausser Frauen. Die muss man nämlich mögen, denn das ist die Natur. Fortpflanzung.» Eine Frau ist das einzige, was Kalmann fehlt.
Jammerkaff. Jenseits von Kitsch und Idylle zeichnet der Autor ein realitätsnahes Bild Islands. Das abgelegene Fischernest Raufarhövn ist ein sterbender Ort, «ein Jammerkaff». Alle Versuche der Wiederbelebung – vom Bau des Arctic Golfplatzes oder Versuch, den Chinesen den Hafen zu verkaufen, bis zur Errichtung des Steinkreises Arctic Henge als Touristenattraktion – reichen nicht aus. Mit dem Verlust der letzten Fangquote für Lodde und Kabeljau verlieren die Fischer ihre Existenz, das Dorf verweist. Das Geschäft mit traditionellem Gammelhai dagegen ist quoten- und krisenresistent und sichert Kalmann sein Auskommen als «zweitbester Hakarl-Produzent nach seinem Grossvater Oddin». Schmidt ist ein profunder Islandkenner und liefert ein umfassendes Bild des Lebens im rauen Norden aus Sicht seines liebenswerten Tors, weit über Schafsköpfe, Gammelhai, Sauerwal und faszinierende Naturschilderungen hinaus.
Blut im Schnee. Die Story ist als Krimi angelegt, dabei aber vieles mehr. Der Roman beginnt mit einem Ereignis, das den gewohnten Gang der Dinge in der nördlichsten Ecke Islands, «danach kommt der Nordpol», aufs Empfindlichste stört. Kalmann entdeckt auf der Jagd nach einem Polarfuchs eine grosse Blutlache im Schnee. Nach dem Fund stolpert er blutverschmiert über die Melrakkasletta und fragt sich, was der inzwischen demente Grossvater getan hätte. Eine Pfeife rauchen, nichts sagen und die Lache einfach zuschneien lassen? «Immer wenn ein Problem anstand, stopfte er sich eine Pfeife, und sobald uns der süsse Rauch benebelte, war es nicht mehr so schlimm.» Aber weil weder Pfeife noch Grossvater da sind, die Ebene so weiss, still und endlos und das Blut so rot ist, «fühlte ich mich, als wäre ich der letzte Mensch auf der ganzen Welt. Und wenn man der letzte Mensch auf der ganzen Welt ist, ist man froh, wenn man es jemandem erzählen kann. Darum erzählte ich es dann doch, und damit fingen die Probleme an.» Ein Beispiel der einfachen Lebensweisheiten, die der Dorftrottel quer durch das Buch von sich gibt.
Die Geschichte nimmt ihren Lauf, Polizei, Presse und Rettungsteams fallen wie ein Schwarm Mücken in das Dorf ein und bringen Kalmanns Gewohnheiten durcheinander. Man rätselt, ob das Blut vom vermissten Robert McKenzie stamme, dem reichsten und mächtigsten Mann im Ort, dem Hotel, Golfplatz, die letzte Fangquote und überhaupt alles gehört. Kalmann gerät als Finder der Lache ins Zentrum des Geschehens und bleibt bis zur Auflösung des Rätsels und dem positiven Ende des Romans die Schlüsselfigur.
«Korrektomundo». Dem Bündner Schriftsteller Schmidt ist mit Kalmann ein Original aus der Feder gesprungen. «Eigentlich hätte er gar nicht die Hauptfigur sein sollen. Doch schon nach wenigen Seiten ist er ins Rampenlicht gelatscht und dort geblieben. Noch nie habe ich die Kontrolle über eine Romanfigur so sehr verloren wie über ihn. Ich habe ihn darum einfach machen lassen und mich mitreissen lassen», erläutert Joachim B. Schmid im Gespräch mit dem Diogenes Verlag. Das funktioniert, der Leser lässt sich mitziehen von Kalmanns Geschick und seinem Blick auf die Welt. Seine Naivität, die offene, ehrliche, geradlinige Art seiner Überlegungen und der feine Humor hinter seinen Aussagen bringen die Dinge auf den Punkt und lassen den Leser an vielen Stellen schmunzeln. Schmidt sagt im Interview, es habe ihm enormen Spass gemacht, das Buch zu schreiben. Es zu lesen auch. «Korrektomundo!», um es mit Kalmanns Worten auszudrücken, «es ist, wie es ist.»
Joachim B. Schmidt
Kalmann
Diogenes 2020
352 S., CH 34.
eBook CHF 24.
Joachim B. Schmidt, Jahrgang 1981, wuchs in Cazis am Heinzenberg in einer Bauernfamilie auf, lernte Hochbauzeichner und Journalist, wanderte 2007 nach Island aus und schlug sich mit verschiedensten Jobs durch. Heute lebt er mit seiner isländischen Familie als Autor, Journalist und Reiseleiter in Reykjavik. «Kalmann» ist sein vierter Roman, er ist im Herbst 2020 bei Diogenes erschienen.
«Island – Schafskopf, Pökelpferd, Gammelhai und Dampfbrot»
Kulinarische Notizen aus Island, verfasst im selben Jahr, als Joachim B. Schmidt nach Island auswanderte.
Brot. Erdnebel wabert aus dem kalten Boden. Die Erde qualmt. Schemenhaft taucht eine aschblonde Frau mit Zöpfen und altrosa Anorak aus dem Dampf auf. «Früher haben wir in den heissen Quellen Wäsche gewaschen, heute backen wir noch das Brot darin», sagt Asthildur Thorsteinsson. Obwohl das heisse Geysirwasser natürlich längst aus der Leitung kommt. Schon Asthildurs Schwiegermutter hat hier das typische schwere, schwarze, süssliche Roggenbrot gebacken, das vom Aussehen her an Pumpernickel erinnert.
Winzige Tautropfen hängen am rosaroten Fäustling, mit dem sich die Isländerin über die Nase wischt. Ein eisiger Wind zieht durch die Glieder hindurch. «Es gibt Sturm», meint sie und lässt uns in die kleine Steinhütte eintreten, der isländischen Version eines Dampf-Backofens. Ins Mauerwerk des «Steamers» sind drei Vertiefungen mit Löchern eingelassen, aus denen der Dampf austritt, der aus dem Erdinneren direkt in die Hütte steigt und den Teig umspielt, bevor er sich nach draussen schlängelt und das Weite sucht. Der Teig wird nicht direkt dem Dampf ausgesetzt, sondern ist in 1,5 Liter fassende Milchkartons eingefüllt. «Ideal zum Brotbacken, alle machen das so.»
Einen Kilometer weiter oben verrät uns Asthildur in der warmen Küche des Wohnhauses das Rezept: 2 kg Roggenmehl, 300 g weisser Zucker, 2 EL Salz, 2 EL Backpulver und viel Wasser. Wieviel genau weiss sie nicht, «gefühlt fast einen Liter». Sie knetet die Zutaten, bis der Teig glatt und geschmeidig ist, verteilt ihn auf vier Kartons, maximal dreiviertelt gefüllt, und lässt ihn eine Stunde gehen. Danach kommt er in den Dampf, gut 24 Stunden später ist das Brot fertig. Wenn man nicht über einen eigenen Geysir verfügt, kann man das Brot auch auf der untersten Schiene des Backofens bei 100 °C 24 Stunden lang backen.
Das frische Backwerk ist so feucht, dass es über Nacht getrocknet wird, «am nächsten Tag schmeckt es sowieso besser», sagt die Bäckerin. Es braucht keine Eile, denn es hält theoretisch drei Wochen lang. So alt wird es aber nie. Um vier Uhr nachmittags gibt’s Znacht, mit dem Brot, belegt mit Lachs, Hering, Leberpastete oder Käse. Der wilde Lachs stammt aus den hiesigen Lachsflüssen, wird selbst geräuchert und schmeckt auf dem Roggenbrot mit salziger Butter himmlisch.
Schaf. Astildurs Tochter Dagbjört schaut uns beim Essen zu. Was sie gerne essen würde, wollen wir von ihr wissen. «Wir leben hier nicht nur von Gammelhai, Hammelhoden und Schafsköpfen», lacht sie. Sie weiss, welche Vorstellungen Fremde über isländisches Essen im Kopf haben, Dagbjört hat im Ausland Modedesign studiert. Pizza, Burger oder Chicken-Tortilla, das gehöre heute dazu, meint sie, und natürlich viel Lamm, «das A und O der Isländischen Küche». Ihre Mutter ässe sogar Schafskopf mit den Augen. Asthildur schüttelt den Kopf, «nein, Zunge mag ich noch lieber, das ist das beste vom Schaf».
Keule, Kotelett, Kopf – vom Bauern bis zum Spitzenkoch sind Isländer überzeugt, ihr Lammfleisch sei das Beste der Welt. Die Tiere leben von Frühjahr bis Herbst frei in der Natur und hätten die reinste Luft, sauberstes Wasser und würzigste Gräser, Kräuter und Moose. Keine Wachstumsbeschleuniger, Antibiotika, Düngerrückstände, sonstige Giftstoffe, nichts. Das Einfangen und Einstallen der Tiere Ende September ist ein Riesenspass. Oft geht das nur auf dem Rücken der Pferde, weil es weder Wege gibt, noch Brücken und Stege über die Gletscherflüsse und Wildbäche.
Pferd. Eine Stunde Fahrt weiter präsentiert uns Flosi Olafsson auf seinem Einödhof tatsächlich Schafskopf mit Augen, Ohren und Zähnen. Zum Glück ist er tiefgefroren, essen müssen wir ihn nicht. «Wir verwerten alles», sagt der bekannte Bauer und Schauspieler – 40 Jahre lang stand er im Nationaltheater in Reykjavik auf der Bühne ¬. «Man nagt den Kopf komplett ab, auch kalt als Knabberzeug, viel Fleisch ist ja nicht dran.» Olafur Flosason, sein Sohn, Oboist und Pferdezüchter, bringt eine andere isländische Spezialität aufs Tapet: gepökeltes Pferdefleisch. «Man bereitet es zu wie eingesalzenes Lamm: ohne Knochen bis zu eineinhalb Stunden im Wasser kochen, in dünne Scheiben schneiden, klopfen und braten.»
Oli und Flosi lieben Pferd nicht nur in der Pfanne, sondern auch lebendig, weil «es der beste Freund des Menschen ist». Ohne die kräftigen, kleinwüchsigen Islandpferde hätte Island gar nicht besiedelt werden können. Sie sind heute noch wichtig für Transport und Verkehr. Das Stockmass der Tiere, deren Vorfahren mit den Wikingern vor 1200 Jahren aus Norwegen nach Island kamen, beträgt nur um 140 cm, niemals dürfe man aber Pony sagen, das wäre verkehrt. Es kamen nie andere Pferde auf die Insel und wenn ein Islandpferd das Land für Wettkämpfe verlässt, darf es nie mehr zurückkehren. So hat sich eine reine Rasse erhalten, die sich nicht nur durch ausgesprochene Witterungstauglichkeit und Robustheit auszeichnet, sondern auch durch angenehme, zusätzliche Ganggarten, den Tölt und den Rennpass.
Wenn sie nicht zum Reiten oder Arbeiten gebraucht werden, leben sie frei in Herdenverbänden auf den riesigen Hochlandweiden. Auch Olis Pferde haben jetzt frei. Erst im Mai, wenn die Wanderritte wieder starten, werden sie wieder mit Hufeisen beschlagen.
In heidnischer Zeit wurden Pferde als Götter verehrt. In den Sagen spielen sie exponierte Rollen. Auch den Christen waren die Tiere heilig und ihr Fleisch tabu. «Wenn man früher nichts zu essen hatte, hat man früher lieber seine Schuhe gegessen als ein Stück vom Pferd», erzählt Flosi.
Erst im 20. Jahrhundert wurde das Pferd kulinarisch salonfähig. «Es schmeckt absolut köstlich», findet der alte Mann, «vor allem gepökeltes Fleisch von acht- bis neunjährigen Pferden, die frei gelebt haben. Deren Muskelfleisch ist wunderbar weich und aromatisch.»
Hai. Pökeln, Räuchern, Lufttrocknen, sauer Einlegen oder Fermentieren: «Die isländische Küche kreist um die zentrale Frage, wie man das Essen durch den Winter bringt», erläutert Flosi. Luftgetrockneten Kabeljau, Hardfiskur, habe man früher anstelle von Brot gegessen, viele machten das heute noch aus Gewohnheit. Er bricht ein Stück gelblich-weisses, faserig-sprödes Fischfleischs ab und schmiert ordentlich Butter drauf. «Da, nimm, das isst man so!»
Eine besondere Methode des Haltbarmachens hat 1601 ein Haifänger aus Bjarnashöfn entdeckt. Hakarl, Gammelhai, heisst das Erzeugnis, das heute noch wie damals hergestellt und zur kulinarischen Mutprobe Islands geworden ist. Wir wollen uns am Ursprungsort schlaumachen und fahren durch bizarre, grün bemooste Lavalandschaften nach Bjarnarshöfn, einem einsamen Gehöft mit Kirche und kleinem Gammelhai-Museum an die raue Nordküste der Halbinsel Snaefellsness.
Für Hakarl eignet sich nur Grönlandhai, erzählt Gudjon Hildibrandson, dessen Familie seit über 400 Jahren die isländische Delikatesse produziert und 90 Prozent des Markts abdeckt. Da der Grönlandhai, und nur dieser, keine Nieren besitzt, scheidet er keine Stoffwechselgifte aus, stattdessen lagern sich diese im Fleisch ab. Damit das Fleisch der 700 bis 1000 Kilo schweren Haie geniessbar wird, muss es einen Fermentationsprozess durchlaufen, bei dem sich die Gifte abbauen. Dafür zerlegen Gudjon und seine Helfer das Fischfleisch in fünf bis zehn Kilogramm schwere Stücke, lagern es zwei Monate in Holzkisten ein und lassen es weitere drei bis vier Monate an der kalten Luft trocknen. Was bei feinen Nasen unter Bjarnarhöfn-Besuchern eine Erinnerung an altes Pissoir auslösen kann. Wie beim schwäbischen TV-Koch Vincent Klink, der den Geschmack von Hakarl mit dem von «überreifen Käse, Romadur im Endstadium zum Beispiel, mit einem Schuss Pferdeurin» beschrieb.
Bei unserem Besuch ist es eisig und stürmisch, der penetrante Goût des Fischfleischs, das an Haken in einer offenen Trocknungsscheue baumelt, verfliegt im Sturmwind. Der Geschmack der Hai-Häppchen haut uns nicht um; sie schmecken tatsächlich nach fischig-cremigem, rezentem Schimmelkäse. Muss man nicht wirklich mögen. Dazu trinkt man Brennivin, Kartoffelschnaps, Marke «Schwarzer Tod». Die Kombination Fisch plus Käse, wie sie Isländer generell lieben, ist nicht das Unsere: Schellfisch, Kabeljau bzw. Bacalao mit Blauschimmelkäsesauce begegnet einem häufig auf einer Speisekarte. Noch gewöhnungsbedürftiger als Gammelhai soll übrigens Skata sein, fermentierter Rochen.