FRONTPAGE

Isolde Schaad: Giacometti hinkt»

Von Isolde Schaad.

 

 

An einem wolkigen Nachmittag in der Innenstadt rechts der Limmat. Das erste Restaurant am Platz, der neu Bührle-Platz heisst, ist halb leer. Das Problem mit unserm Meister ist, dass er nicht mehr von heute ist und noch nicht von gestern. Deshalb, mein Freund, brauchen Sie ein verblüffendes Zwischenstück, das als Verbindung dient. Das möchte ich Ihnen deutlich machen, bevor Sie Ihre Stunde vergeuden, die, soweit mir bekannt ist, nächste Woche ansteht.

 

Sammler und Überflieger

Der Sammler, im sichtbaren Status der Bedeutung, als Bedeutungsträger im grauen Nadelstreifenanzug mit Dreiecktuch in der Brusttasche, schlägt die Nadelstreifenbeine übereinander und süffelt an seinem Aperol Spritz. Sein Gesprächspartner, von dem wir nicht wissen, ob er ein Direktor eines renommierten Kunstinstitutes ist oder ein Ganove aus deutschem Adelsgeblüt, genehmigt sich einen Schluck Hugo, indem er den Ellbogen aufstützt, was besonders salopp aussieht. Das ist die Haltung der Gelassenheit, die sich der Überblicker, im Unterschied zum Überflieger, leistet:
Sehen Sie, bei uns geht es um Hugo, nicht um den Aperol Spritz, Hugo ist das Spitzengetränk von gestern, das wir zum Klassiker unter den Happy-Hour-Getränken machen werden, wenn die Credit Suisse genügend Dividenden ausschüttet. Sie wissen, die Credit Suisse ist unser Hauptsponsor.
Der Mann gegenüber lächelt, Lächeln ist das Markenzeichen von steinreichen Sammlern, die die Zukunft auf ihrer Seite wissen.
Und Sie halten Giacometti also für Ihren Hugo? Es ist noch nicht allzu lange her … Sein Gesprächspartner unterbricht, leicht nervös: Genau fünfzig Jahre ist es her, mein Freund.
Nun ja, damals sträubte sich die Stadt Zürich, die Kleinigkeit von 250 000 Franken für die gesamte Sammlung Thompson zu reiben, und wenn nicht private Gönner dafür gesorgt hätten, gäb’s in dieser Gegend nicht mal einen L’homme qui marche. Wenn der helvetische Giacometti-Schwerpunkt in ein Bündner Bergtal abwandert, wo jüngst in Stampa ein Museum eröffnet wurde, laufen wir Gefahr, dass der Meister zum Tourismusmaskottchen verkitscht wird. Sie verstehen, Doktor, was ich andeuten will. Ein Giacometti im Bergell ist für den Weltmarkt verloren.
Der Mann, von dem wir nicht wissen, ob er ein Ehrenmann oder ein Erstklassganove ist, legt seine Stirn in gepflegte Falten, er besucht vermutlich jeden Monat einen Beautysalon, um im Geschäft zu bleiben, das heute von einer Führungspersönlichkeit manches fordert, was ausserhalb des Fachbereichs liegt.
Ich meine, es geht darum, an diesem Künstler, den ich zweifellos für Weltklasse halte, neue Aspekte zu erschliessen, ja, vielleicht lässt sich sogar an ihm entdecken, was bisher noch kein Experte entdeckt hat.
Also doch kein Hugo?
Nennen Sie’s, wie Sie wollen, ich verrate Ihnen eines, wir kommen voran.
Sie meinen die Gipse, ich weiss, Doktor, dass Sie die Gipse restaurieren lassen, doch diese Gipse sind ein reines Insidergeschäft. Ich sage Ihnen, aus Giacometti einen Ausstellungsrenner zu machen, wo doch in jedem Museum von Rang ein paar seiner Hungergestalten herumlungern, von denen der Löwenanteil vermutlich Fälschung ist, das wird ein Sisyphus für Sie werden.
Hören Sie, Ihr Angebot in Ehren, ich weiss es zu schätzen, aber verhandeln lässt sich in dieser Phase nichts. Sie wissen, dass ein Kunsthaus keine Verkaufsausstellung machen kann, ohne seinen Ruf zu gefährden.
Und was ist dann mit Merzbacher und den Arabern, die Sie letzthin brachten?
Das ist eine andere Geschichte, darüber kann ich jetzt nicht reden. Auf jeden Fall wurde diese Sache in der Presse verzerrt dargestellt.
Wie auch immer, mein Freund, das Angebot gilt für Sie bis zu meiner Abreise nach Shanghai. Heute in sechs Wochen, und ich sage Ihnen, dann ist die Sache für Sie gelaufen. Die Chinesen sind auf alles Europäische scharf, und sie zahlen verdammt gut und pünktlich.
Ich fürchte, wir werden uns nie einig werden, mein Lieber. Ich sehe unsern guten Alberto längst nicht mehr als Sammelgut. Meiner Ansicht nach gibt es für sein Werk, oder sagen wir für seine Vita, was in diesem Fall ein und dasselbe ist, nur eine Möglichkeit.
Und die wäre?
Nehmen wir an, er sei der gemachte Klassiker der Bildhauerei in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, also eine einwandfreie, diskussionslose moderne Grösse. So weit, so gut. Doch wenn man nicht der Louvre ist, wo die indiskutablen Klassiker sozusagen aufgebahrt sind, kann man sich nicht leisten, ihn als den globalisierten Nationalchampion einzumotten. Er muss am Leben gehalten werden, und das geht nur, indem man ihn immer wieder neu entdeckt.
Das hatten wir schon. Was genau wollen Sie eigentlich an ihm entdecken?
Das werden wir sehen.
Dann rate ich Ihnen eins, Doktor, gewinnen Sie Warren Buffett als Investor, dann garantiere ich den Erfolg, sonst nicht. Auf geht’s, zu den Chinesen, ich sage Ihnen, Doktor, Sie verpassen eben einen grossen Moment der globalen Museumsgeschichte.
Nun, ich habe verstanden, doch das ist der Preis der Seriosität.
Der Sammler hebt die linke Augenbraue, dann zuckt er bloss die gut gepolsterten Schultern, und aus der Antwort wird ein blasses Ach.
Sehen sie, meint genussvoll gedehnt der andere, das ist der Unterschied zwischen dem Sammler und dem Bewahrer von Kulturgut. Ich hoffe, Ihnen damit nicht zu nahe zu treten, mein Freund.
Ihr Wort in Gottes Ohr, Doktor, machen Sie’s gut.
Auf einen Hugo, das nächste Mal. Tschüss.

 

Am Born der Weisheit

So reden die, die drauskommen, die am Born der Weisheit sitzen, elitär sind die, und horten alles Wissen. Da versteht dann einer wie er nur Bahnhof. Der Jungspund nebenan, schmal, fast bedürftig sieht er aus, kratzt sich am spärlich spriessenden Flaum ums Kinn. Nun stützt er den Kopf in beide Hände und starrt auf die Speisekarte, die quasi aus Japanpapier und wie handkoloriert wirkt, passend zu dieser Umgebung, die aus Kunst besteht, l’art pour l’art, lalala. Und dabei ist das Ganze eine Baustelle, nicht nur was den Ort angeht, nein, eine Baustelle ist auch die gesamte Innenwelt der Mitmacher, lauter Mitmacher hier, die sich smarte Pöstchen zuschanzen, sagt man. Aber was weiss er schon, der Novize an der Uni, der seine erste Semesterarbeit angehen sollte, ausgerechnet über das Werk von jenem Typen, den die beiden Lackmeier besprachen, bekam er leider wenig mit, obschon er seine Lauscher mega offen hielt. Nicht mal einen Fünfliber im Hosensack findet er. Eine Pleite ist er, Krattiger Luis, das Greenhorn. Sitzt am lätzen Ort, ist ein falscher Fuffziger der Kunstgeschichte, zu der er sich mehr schlecht als recht durchgerungen hat. Nun studiert er also die Figuren von Giacometti, der Mutter zuliebe, die ein Fan ist, ihr Alberto, ja, sie nennt ihn tatsächlich so, ihr Alberto ist die höchste Inkarnation der künstlerischen Wahrheitssuche, er modelliert die Ohnmacht der Existenz, siehst du das denn nicht, Lou, schau doch bloss hin, Lou, und sie erschauert in Entzücken über einen Mann, der ein Leben lang mit Gips herumgepröbelt hat, sich die Nächte in Bordellen um die Ohren schlug und sich zu Tode rauchte. Alberto, ihr Idol, dabei ist sie nicht die Einzige. Was die Frauen nur an diesem ewig zerrauften Nachtarbeiter finden, das nimmt ihn tatsächlich wunder, ja, das will er nun wirklich wissen und schleicht deshalb täglich in der GiacomettiSammlung herum, wie ein Hund, dem man den letzten Knochen verweigert. Ja, der Hund, mit dem könnte er etwas anfangen, der Hund gefällt ihm, aber davon will sein Mentor nichts wissen, bei Giacometti gehe es in erster Linie um die menschliche Gestalt in Raum und Zeit, daran habe er sich zu halten, das sei die Grundlage, das ABC der Plastik im frühen 20. Jahrhundert.
Er hat doch hier gar nichts zu bestellen, warum hockt er bloss da, ohne was herum, nicht mal für einen Schluck Red Bull vom Migros Budget würde es reichen. Kein Geld für gehobene Kulinarik, kein Geld nirgends, blöd, den letzten Cent hat er gestern auf der Party ausgegeben, zu der er sich verleiten liess. Als er wie üblich seine Mutter anpumpen will, ist auch der Akku des Smartphones leer. Luis Krattiger, genannt Lou, sitzt in seinem zweiundzwanzigsten Lebensjahr mit leerem Magen und leerer Emoji-Station auf einem mit rot-weissen Brettern verrammelten Platz und kommt sich verdammt überflüssig vor.
Der erste Satz, der berühmt-berüchtigte erste Satz. Wie soll er lauten, wenn von einem die Rede sein soll, der seiner Meinung nach zu Tode interpretiert worden ist? Dutzende Male hat er die Giacometti-Sammlung durchquert, durchspurtet, durchtrottet, durchkreuzt, erwandert auch, und einmal hat er sie auf leisen Sohlen durchschnürt wie ein Fuchs auf Nahrungssuche. Doch dieses Futter ist aus Gips, aus Ton, aus Bronze, ist tote Materie, tote Hose, der er einfach nichts abgewinnen kann. Einmal hat er versucht, sich an die Schreitenden, den Taumelnden, die auf Sockeln oder in Gehäusen winzig kleinen oder mammutmässig bis zur Decke Reichenden heranzupirschen, als sei die Sammlung ein Tierpark in der Wildnis, um die Natur der Sache aufzuspüren. Denn er denkt, dass dieser Bergeller doch eigentlich ein Naturbursche war, der im Grossstadtdschungel gehaust hat, wo ihm verquere Geistesmenschen auflauerten, die Bude eingerannt haben, darunter abseitige Typen mit Vorstellungen, die Alberto dann doch mit der Zeit zu unappetitlich vorkamen, sodass er sich schliesslich befreit hat von ihren hochartifiziellen Ismen, dem Surrealismus, dem Kubismus, dem Situationismus, ein Existentialist ist er in der Praxis gewesen, nicht in der Theorie des grossen Sartre, der ihn falsch zitiert hat in seiner Autobiographie «Les Mots», sodass Alberto mit ihm brechen musste, weil Alberto der Inbegriff der Integrität war, die redlichste Person unter all diesen abstrusen Theoretikern und überkandidelten Literaten. Diesem Alberto war der Mensch ein Mensch, ob Hure oder Luxuspuppe, ob reiche Witwe oder armes Schwein. Das ist das Einzige, was der Luis Krattiger geschnallt hat, bisher, und es hat ihm imponiert.
Aber das Werk, Mann, das Werk. Da steht er nun nicht wie der Fuchs davor, sondern wie der unbedarfteste unter den Eseln. Vor diesen riesenhaft verkrusteten Knochengestellen, die das Abbild der Frau unserer Zeit sein wollen, beinahe hätte er aus Verzweiflung an ihren verschmorten Hängebrüsten herumgemacht, um zu spüren, ob sich taktil etwas herauslotsen, herauskitzeln lässt, aus diesem grimmigen Schweigen der Gestalt. Das hat dann eine sich nähernde Aufsicht verhindert, er ist zusammengezuckt und fast zu Boden gegangen, worauf er an einen massigen Klumpfuss eines Riesenweibes geprallt ist und daran geschnuppert hat, in der Hoffnung, es sei ihr und ihren Schwestern mit den verkorksten Extremitäten olfaktorisch etwas abzugewinnen, aber nein. Der Besuch der Sammlung ergab auch nichts Weiteres, als was er bereits in seinem Tablet notiert hat. Was er als Grünschnabel der Rezeption, ja, als der totale Banause, checkt, ist, dass dieser Mensch im Atelier, das den Fotos nach zu schliessen eine schäbige Eremitenklause war, gelitten hat. Dass es eine Qual war, diese Figuren herauszupellen aus einer ewig unerreichten Vision, eine Marter, den Lehm bis zum Gehtnichtmehr zu kneten, zu pressen, als sei der Künstler ein Dauergebärender der Selbsterlösung oder vielleicht eine Leihmutter für den unerreichbaren Genius? Und dieses Paar in Bronze, wo der Mann einen Pfeil in den Schoss der Frau stösst, das ist die reine Kriegserklärung an die Mösen, das sieht auch er, der deklarierte Ignorant. Schmerzgeburten allesamt, auch diese späten Köpfe im vergilbten Gips, die nach vorne greifen, nach dir wie schneidende Klingen greifen, direkt ins Gesicht, in die Fresse hauen, ja, denn dieser Künstler war nicht zimperlich, hat an allen Sorten der Erotik herumgemacht, ist aber nie richtig gekommen, soll impotent gewesen sein, schreibt der Biograph James Lord, der jedes Detail protokolliert, als müsste er eine sich entziehende Vita mit dem Staubsauger aufscheuchen bis in alle Winkel und Ecken des schwer Begreiflichen. Er, Luis Krattiger, wäre verzweifelt, hätte er James Lord geheissen, denn der schreibt und schreibt und kommt doch nirgends hin, wo ein Funke der Erkenntnis springt, was das alles soll, diese Riesenkrake von einem angeblichen Meisterwerk.
Zuletzt immer dieser Lotar, der Lotar seitlich, von hinten und vorn, und dann Diego, fortwährend Diego, in Gips, in Holz, in Bronze, sogar in Stein gemeisselt. Dazwischen dieser Japaner, mit dem die Frau Annette aus sexueller Not ein Verhältnis einging, weil ihr Mann ein Autoerotiker war und sich mit Huren in Bars herumtrieb, seine Lust soll im Scheitern bestanden haben, wie soll einer das verstehen, der Luis Krattiger heisst, in Schwamendingen wohnt, mit einer alleinerziehenden Mutter, die in der Freizeit kleine Lehmfigürchen à la Giacometti bastelt?
Trotz des Lotars, wer der war, ist ihm schleierhaft, bleibt Diego die Hauptperson in diesem Werk. Diego naturalistisch, Diego kubistisch, Diego expressionistisch, minimalistisch, stilistisch verfremdet, Diego seit eh und je and forever. Der war halt immer da, das handgreifliche Modell. Ach, er kann’s nicht mehr sehen, wie dieser Diego ein Leben lang herhalten muss für die Obsession des grossen Bruders.

 

Das berühmt-berüchtigte Atelier

Das Atelier – die Anlaufstelle der künstlerischen Verwandlung, sodass es einer von Staub, Fusseln und Gipsflocken verschneiten Kloake nicht unähnlich sah. Auch da gibt es Dutzende von Fotos, ganze Bücher voller Albertos beim Schaffen. Übersät, besprüht mit spröden Krümeln, die sich überall einnisten, festnagen am Stuhl, am Tisch, am Gewand, auf den Regalen, in der Spüle und den überquellenden Aschenbechern, überhaupt auf all dem Ungewaschenen, puh. Ob Alberto wohl mehr als einmal im Monat geduscht hat? Hallo, Luis, jetzt fällst du unter dein Niveau, würde Mam sagen. Sie gibt sich gebildet, sie ist gepflegt. Also, wo war er, beim Gips, bei den weissen Spritzern im Lockenhaupt, das dem schaffensdurstigen, schaffensgequälten Künstler paradoxerweise lebenslang etwas Bubenhaftes verpasst, als käme er fortlaufend von der Schulreise heim und müsse seiner Mutter unbedingt all die Funde von unterwegs zeigen. Albertos Mutter, ein herber Machtbrocken, vielleicht blieb sie die wichtigste Person, wie kann man das wissen. Wenn er an seine Mutter denkt, dann gute Nacht. Hinreissend findet sie ihn, ihren Alberto, letzthin hat sie einen Altar mit ihren Figürchen errichtet, dahinter Albertos Fotoporträt, dann sank sie davor auf die Knie, just als er nach Hause kam. Das ist krank, so was. Eigentlich hat er Mitleid mit ihr. Einer Mam, die vom Leben auf dem Abstellgleis deponiert worden ist, die eine einzige Scheisse mit den Typen erfuhr, muss der Sohn helfen. Nun sitzt er im Vorzimmer der Falkultät, wo die Frischlinge vortraben müssen. Luis soll dem Assistenten den Entwurf seiner ersten Semesterarbeit erläutern, die eine These enthalten müsse, hat der Mentor gesagt. Hat ein Luis Krattiger aus Schwamendingen, welcher der Mutter zuliebe das Fach gewählt hat, in welchem alles aus Vermutungen, Vagheiten und sogenannten Annäherungen besteht, die man dann zu einer These zusammenpappt, hat dieser mit Kunst geschlagene Debütant Luis diese These parat?
Ach woher, hat er nicht. Es sei denn, dass er die grosse Frage stellt, sie auf den Tisch knallt als eine sozusagen philosophische Grundsatzfrage und diese als ein Sonderfall einer These durchgewinkt werden wird. Wir sind ja schliesslich in der philosophischen Fakultät. Diese Frage ist das Resultat seines gutwilligen Giacometti-Marathons und lautet: Wie kann ein Künstler behaupten, dass sein lebenslänglicher Effort nicht dem Gelingen, sondern dem Scheitern verpflichtet gewesen sei? Ist das etwa kein Masochist, dessen Werk einen superlativen Hype schafft, und der dann behauptet, er sei von der Überzeugung seines Scheitern ausgegangen? Je mehr ich scheitere, desto erfolgreicher bin ich, wird er zitiert; so etwas kann doch bloss ein abgefeimter Zyniker sagen.
Interessanter Ansatz, Luis, durchaus machbar, obschon die These erst noch hergeleitet und entwickelt werden muss. Für das zu erstellende Exposé schlage ich Ihnen folgende Formulierung vor, die in etwa Ihren Ansatz reflektiert: Könnte ein der Redundanz gewidmeter handwerklicher Impetus im Schaffen von Giacometti allenfalls das Künstlerprofil eines letzten Wahrheitssuchers des Existentialismus stimmig umreissen? Voilà, das wäre in etwa Ihre These, Luis. Das ist just ein Vorschlag, Sie wählen dann die schlüssige Form. Das wär’s für heute, ich sehe Sie wieder, der Assistent zückt seine Agenda und wirft einen prüfenden Blick auf den Kandidaten Krattiger, ich sehe Sie wieder in vierzehn Tagen, dann sollte das Exposé in der Rohfassung vorliegen.
Luis’ Knie sind weich geworden, er denkt statt an die These an den gottverlassenen Anblick seiner Mutter vor dem häuslichen Giacometti-Altar. Bitte, also Herr Assisstent, könnten Sie mir den Wortlaut Ihrer Formulierung wiederholen, sorry, die war mir jetzt zu hoch. Der Assistent runzelt die Stirn und sagt, nanu, Luis, sind Sie sicher, dass Sie das Fach studieren wollen, in das Sie sich eingeschrieben haben? Ihnen ist bewusst, er spricht in Grossbuchstaben, dieser Giacometti ist nicht irgendwer, an ihm hat sich schon mancher die Finger verbrannt. Vielleicht wählen Sie lieber Hans Krüsi, den Naiven, oder Max Gubler und seinesgleichen, also eine währschafte postexpressionistische Schweizer Peinture, die Ihnen bekommt. Pause. Fingerklopfen. Wie auch immer, Luis, Sie denken ernsthaft darüber nach und melden sich vor dem offiziellen Besprechungstermin. Alles klar?

 

Edelschwätzer und Frustierte

Die Entfernung zwischen einem Erstsemestrigen und einem Assistenten der Kunstgeschichte, der vermutlich unter Stress steht, da er sich mit der Erlangung seiner Doktorwürde schwertut, an der er seit Monaten herumtüftelt, könnte nicht grösser sein. Die Fallhöhe zwischen dem Lehrstuhl und den schlotternden Knien von Krattiger Luis ist vermutlich geringer, ja, der Professor selber hätte ihm gewiss Mut zugesprochen, wird ihn später seine Mam trösten, doch befinden wir uns noch auf der Freitreppe des Universitätsgebäudes und suchen den Seitenpfad, der zur Mensa führt. Und in der Trostspende des ordentlichen Professors werden wir uns gründlich täuschen. Doch das kommt später. Vorerst steht der Kandidat Krattiger vor der Mensa und äugt durch die mit Eventund Mitmach-Klebern gerschmückten Fenster.

Drinnen hofft er einen Kumpel zu treffen, mit dem er seinen Frust begiessen kann und chillen, wenn der ihm ein paar Mäuse leiht, und tatsächlich findet er einen Jahrgänger, mit dem er sich austauschen kann. Der hat die Tortur der Vorladerei schon hinter sich. Am Anfang kommst du dir wie ein Idiot vor, das kenne ich, du musst einfach weitermachen und dich nicht beeindrucken lassen von diesen Edelschwätzern, die Assistenten sind die Frustriertesten, ich rate dir, bleib bei deinem Grundgedanken und mach was draus. Und so kam Luis K. aus Schwamendingen heraus aus der Neulingsmisere und schliesslich auf studentische Tour. Und entwickelte innerhalb von ein paar Semestern eine mastermindmässige These für seine Abschlussarbeit über die Aktualität von Giacometti.

Nach den Vorlesungen, die er mit zunehmendem Eifer besucht, kommt er zu einem Befund, den er in seinen Laptop tippt und auf die externe Festplatte kopiert, weil man nie wissen kann. Dieser Befund ist seine Leitplanke, sein Anker im aufgesaugten, durchgekauten, abgetippten, heruntergeleierten, noch und noch repetierten Stoff, der schriftlich noch keine eindeutige Form gefunden hat. Er lautet so: Am Fuss eines vermeintlichen Einsamkeitsgebirges mit Namen Giacometti, Alberto, geboren 1901 in Stampa, Bergell, gestorben 1966 in Chur, löst sich jede Sichtweise in spekulativen Schwaden auf. Es geht nicht mehr um einzelne Aspekte des Œuvres, es geht um das Grundsätzliche, also um die Frage: Ist dieses Werk der äussersten Reduktion in seiner Lauterkeit noch relevant in einem Zeitalter, das Authentizität in den Wind schreibt? Ist das Original überhaupt noch von Interesse, wenn der Fake, die Kopie, die Doublette, das Multiple, das Remake, die Fälschung und der Fälscher gesellschaftlich obenaus schwingen und den Kunstbetrieb erfolgreich manipulieren?
Die Antwort ist nein. Den Beleg liefert ein Gemälde, ein sprechendes Gemälde, sagt sich Luis, das ging letzthin für mehr als eineinhalb Millionen auf einer renommierten Auktion weg, es heisst «Der Wald von Max Ernst» von Wolfgang Beltracchi. Luis findet es kirre, dieses schwurblige Bild, das der derzeit berühmteste Fälscher gemalt hat.
Aus diesem Auktionsbusiness lässt sich doch herleiten, dass es in der Malerei nicht mehr auf die sogenannte Authentizität ankommt. Die Rechteinhaber der Zunft werden zwar darauf pochen. Doch das sind fast ausnahmslos Greise, lauter ausgediente Jurisprudenzler in Grabesnähe, die behaupten, das Original sei gerade deshalb umso wichtiger. Denen geht es doch bloss um die Kohle, und wie diese Pedanten dann den grossmäuligen Kunstbetrieb melken, igitt. That’s part of the story. Der Wert des Originals sei unvergleichlich? Die Antwort erzählen dir die zwanzigtausend Likes auf Facebook für den Ernstwald von Beltracchi. Das mit den Anwälten behält er freilich für sich, der Luis. Er will keine Klage wegen Verletzung der PC garnieren, also hält er, was seine persönliche Ansicht betrifft, die Klappe.

Es spielt keine Rolle, was den interpretatorischen Fleissarbeiten zu einem Genie noch beigefügt wird, entgegnet der Professor, bei dem der Student Krattiger dereinst seine Masterarbeit abliefern will, da müssen Sie sich schon noch etwas Überraschendes einfallen lassen, wenn das bei mir geschehen soll. Liess der Mann verlauten, der als die G.-Kapazität schlechthin galt, seit er bei den restauratorischen Entschlüsselungen der Gipse führend und federführend gewesen war und glaubte, der G.-Forschung damit eine entscheidende Wendung verpasst zu haben.

Den Vorwärtsdränger, welcher der Krattiger Luis unterdessen geworden ist, einer, der es mit dem Abschliessen ernst meint im Unterschied zu vielen Unibummlern, die reiche Eltern haben, stach plötzlich der Hafer. Er hatte eine Dreiviertelstunde im Vorzimmer gewartet, bis sich der Kunstprofax herbeiliess, ihn zur Besprechung hereinzubitten, und er hatte den empörten Blick einer Eleganz vorgerückten Alters aufgefangen, die auf unerreichbar hohen Absätzen an ihm vorbeigeschuht ist, vermutlich eine dieser Spätberufenen, die bei Professor M., für latente Frauenfeindlichkeit bekannt, in Ungnade gefallen war. Das ist just der Moment, sagt sich der vom Sekretariat aufgerufene Krattiger Luis, der an männlicher Statur gewonnen hat, da er regelmässig ins Training geht, mit dem Zaunpfahl zu winken, ja, mit dem Zaunpfahl auf einen aufgeblasenen Meinungspotentaten zu schmeissen, sagt sich der für alles Gewappnete und bleibt vor dem überladenen Pult stehen.
Herr Professor, Sie werden mir beipflichten, wenn ich Ihnen den Arbeitstitel meiner Masterarbeit nenne. Er lautet: Die Bedeutung der absoluten Authentizität im Zeitalter der absoluten Reproduzierbarkeit oder Warum die Generation Selfie, Instagram und Fake News, also ich meine die Generation der Totalsimulation, nichts mehr mit einem Alberto Giacometti anfangen kann. Man kann’s auch nennen: Die Dekonstruktion von Bedeutung am Beispiel von Alberto Giacometti oder Warum die tradierte Ethik oder sagen wir die allgemeinen Moralvorstellungen keine gültigen Kriterien des aktuellen Kunstschaffens sind. Das ist der gegenwärtige Trend, ob er einem gefällt oder nicht. So oder so, bei diesem Aspekt des Werks werde ich bleiben. Ich finde ihn mit Verlaub dufte oder schnieke, geil oder ghetto, ganz wie Sie wollen, in jedem Fall äusserst zeitgemäss.
Soso, Sie sind mir ein verwegenes Bürschchen. Aber wissen Sie, um bei mir abzuschliessen, bedarf es einer trittsicheren Innovation innerhalb der Giacometti-Rezeption. Und wer die beibringen kann, wird ein gemachter Mann sein, ich gestehe, der wäre ich gern höchstpersönlich. Diese Innovation muss ausserdem eine Dringlichkeit enthalten, die über den kunstgeschichtlich abgesicherten Befund hinausreicht. Da dürften Sie mit Ihrem schmalbrüstigen Arbeitstitel keine Chance haben, den Titel eines Master of Art zu erlangen, aber wissen Sie, Krattiger, da sind Sie nicht allein, es haben es schon einige vor Ihnen bei mir versucht. Schon in der Ära vor der Bologna-Reform. Ihr Ansinnen steht im Schatten von zahlreichen Vorgängern, die daraufhin den Künstler gewechselt haben.
Mann, den Künstler wechseln? Jetzt, wo ich sozusagen in ihn hinein und über ihn hinaus gedrungen bin? Kommt nicht in Frage. Verstehen Sie denn nicht, Mann, also Herr Professor, mein Arbeitstitel IST die These, und sie ist im aufgebauschten Zirkus um dieses angebliche Jahrhundertwerk heutzutage von höchster Dringlichkeit.
Na na, belieben zu spassen, junger Mann. Im Ernst, da werden Sie sich um einen anderen Beichtvater bemühen müssen, bei mir kommen Sie damit nicht durch.
Der junge Mann, der weder junger Mann noch Jüngling genannt werden möchte, wie man erfährt, als eine junge Frau sich an seine Seite gesellt, die ins Sprechzimmer schnellte, um ihm etwas ins Ohr zu flüstern, war bereits aufgestanden und hatte sich zur Tür gewandt. Wie Sie meinen, Herr Professor, Sie werden von mir hören. Ich werde diese Arbeit publizieren, ob Sie von Ihnen abgesegnet wird oder nicht, ist mir egal.
Der Professor stand mit offenem Mund an der offenen Tür und starrte mit leerem Blick auf die auf und davon Gehenden, die sich offenbar anschickten, ein Paar zu werden. Die Frau hatte sich beim Mann untergehakt, sie hatte mit ihm wohl etwas Bedeutendes vor.

Sie, verwegen: Das werden wir beide schon hinkriegen, das mit dem attraktivsten Mann der vergangenen Kunstgeschichte, sexy ist der.
Er, verdutzt: Kennen wir uns denn? Also im Ernst, was wollen Sie? Mir etwa meine sauer erarbeitete These abjagen? Das geht nicht.
Sie: Ich schlage Ihnen eine diskursive Arbeit vor, ich konstatiere, dass Sie das Werk verehren, während ich damit nichts anfangen kann. All unsere Porträts hat er mit dieser grauschwarzen Tamponade versaut, und das Gesicht kommt dann aus der Kritzelei nicht mehr heraus. Finde ich. Und mit diesen venezianischen Klumpfussfrauen hatte ich eh nix am Knöchel. Umso mehr mit dem Kerl selbst, da ist dann was abgegangen mit dem feschen Alberto, der war nämlich megacool, dabei kein bisschen arrogant wie all diese Schleimscheisser, die über ihn schrieben.
Er: Das hat was, gebe ich zu. Aber es verhält sich in meinem Fall gerade umgekehrt. Ich mag den Mann, aber sein Œuvre leuchtet mir je länger je weniger ein. Es ist ein Werk, das zwischen die Zeiten fällt. Überholt, veraltet, denke ich. Doch glaube ich kaum, dass Ihre Ausdrucksweise sich für eine wissenschaftliche Arbeit eignet. Er wirft sich in Pose: Für eine dialektische Auseinandersetzung mit der letzten existentialistischen Künstlerpersönlichkeit, die noch der Wahrheitssuche verpflichtet war, bedarf es einiger Kenntnisse.
Sie, übellaunig: Was bist du bloss für ein altmodischer Knacker, mit deiner akademischen Prahlerei verscheuchst du uns jede Inspiration.
Er, perplex: Also, wovon reden Sie eigentlich?
Sie: Von unserer ersten Team-Session. Oder sagen wir dem ersten Date, um rhetorisch im Schuss zu bleiben. Im Schuss sein musst du nämlich, wenn du dich mit Alberto einlassen willst. Das haben alle diese verquasten Typen nicht gecheckt, auch seine Schicksen nicht, bin wohl die Einzige, denn du musst wissen, Kleiner, ich war seine Muse.
Er: Wer sind Sie eigentlich?
Sie: Ich heisse Caroline, Nachname tut nichts zur Sache, ich komme aus der Unterwelt von Paris und kenne meinen Alberto darum besser als jeder sogenannte Experte. Leider hat mich seine Entourage abgelehnt, speziell Annette, die gelangweilte Ehefrau, und natürlich stand ich Diego, dem kleinen Bruder, im Weg. Der war ja sein lebenslanger Arbeitssklave, weil er ihm nahe sein wollte. Ja, du sagst es, es war Liebe, Bruderliebe, nichts Sexuelles, wenn du das meinst. Alberto war nicht gay, du Ignorant.
Er, ärgerlich: Ganz schön frech sind Sie, kommen einfach an mit Ihrer unverschämten Behauptung …
Sie: Auf jeden Fall kenne ich Alberto besser als jeder werdende Kunsthistoriker, mein Lieber, alors mon petit chouchoux, je te dis au revoir.
Und sie war verschwunden. Und er stotterte hinterher: Caroline, das war doch diese Kleinkriminelle, sein Modell und seine Geliebte, die es wagte, an sein Sterbebett in Chur zu treten, ganz in Schwarz gehüllt, als sei sie die werdende Witwe.

Luis Krattiger reibt sich die Augen. Was war das für ein Spuk? Ist die Frau, die sich an ihn heranmachte, real? Er lehnt es ab, sich darüber Gedanken zu machen, er besucht weiterhin die Sammlung, um seine These zu erhärten. Dann merkt er, dass er auf Distanz gehen muss, denn er könnte weich werden, es könnte ihm anfangen zu gefallen, was ihn stört und nachgerade ärgert. Die beiden kleinformatigen Objekte in der Vitrine, sie stammen aus der frühen surrealistischen Periode, sie heissen «Die gefangene Hand» und «Blume in Gefahr», das findet er possierlich, ja, wunderhübsch und also geradezu gefährlich für seine Überzeugung, dass Alberto den Triumph der Hässlichkeit feiert, also muss er das Frühwerk künftig meiden.

In dieser Nacht träumt er, dass die Figuren von ihren Sockeln steigen und auf ihn zukommen, ihn gefangen setzen und hungern lassen in einem fensterlosen Abstellraum. Dann kommt Alberto, geht an einer Krücke und befreit ihn, pfeift all die Figuren auf ihren Standplatz zurück. Er humpelt durch die alte Fabrikhalle, die mit seinen Gipsen verstellt ist. Am Ausgang sagt er, also, Luis, machen Sie’s gut, bleiben Sie bei der Sache, die Ihre Sache ist. Ich muss zurück. Sie wissen ja, dass ich im Gefängnis lebe, nur als Gefangener kann ich künstlerisch tätig sein.

Tatsächlich hat Luis gestern im Kunsthaus einen temperamentvollen Herrn älteren Datums beobachtet, der leicht hinkte und vor sich hin murmelte. Dann deutete er mit der Krücke auf die Büste von Diego, als wolle er sie ansprechen, besann sich jedoch eines anderen, durchquerte den Raum in der Diagonalen und schenkte den anderen Torsi kaum einen Blick, er schien es plötzlich eilig zu haben, ein Bildungsbürger, der zu einer Sitzung muss, nachdem er die Hüftoperation erfolgreich abgeschlossen hat. Die Krücke ist jetzt nur noch Accessoire, bald wird er sie entsorgen können.
Nach einigen Wochen, in denen Luis im Kunsthaus vergeblich nach Inspiration sucht, taucht dieser Mann erneut auf, wieder trifft er auf ihn im modernen Betonbau, der auf die Winkelwiese hinausgeht, wo sich die G.-Sammlung vorübergehend befindet, da im vorderen Moserbau die Erweiterung von David Chipperfield beginnt. Der Mann stellt sich vor das farbtrunkene Jugendporträt von Alberto und sagt mehrmals Mhmm, sieh an, mmh, das bin also ich. Hurra, es ist derselbe Macker, er wirkt diesmal keineswegs wie ein Bildungsbürger, im Gegenteil ähnelt er in der zerbeulten Manchesterhose eher einer verkrachten Künstlerexistenz, zerzaust und ziemlich verhärmt.

Auf dem Nachhauseweg denkt Krattiger Luis über einen Menschen nach, der offenbar über eine ungewöhnliche Wandelbarkeit verfügt, eigentlich sah er unter der Maskerade doch eher durchschnittlich aus, trotz der Krücke wirkte er auf diskrete Weise abenteuerlich, und männlich, sehr männlich. Und noch etwas, was war da noch, ja, erst jetzt fällt ihm ein, weshalb ihm der Kerl aufgefallen war, weswegen er ihm bis in die Garderobe gefolgt ist. Die auffallende Ähnlichkeit mit Alberto. Vielleicht produziert sie freilich sein verwirrter Geist, werweisst Luis, der seit der spukhaften Begegnung seinen Sinneswahrnehmungen nicht mehr traut. Aber vor dem Kunsthaus war er unauffindbar, verschluckt von dem Baustellenchaos, das dort herrscht. Luis gerät nachträglich in Aufregung, Shit, dass er diese Chance verpatzt hat, den Typen anzusprechen. Freilich fehlte ihm ein zwingender Anlass dazu. Verzeihen Sie, mein Herr, sind Sie vielleicht Albertos Wiedergänger? Auf Sie habe ich seit Wochen gewartet. Blödmann, der Krattiger Luis, Wiedergänger, so was von gestern. Doch lässt ihn der Gedanke, der wie ein postfaktischer Einfall neben ihm hertrottet, nicht mehr los. Es muss sich doch dahinter eine Spur, eine Inspiration finden lassen, die er nicht vermasseln darf, und bald sieht er in jedem scharfkantigen Leptosomen mit graumelierten Pudellocken sein Ziel, seinen Ansprechpartner, dem er hinterherhechelt, doch wenn er den Anvisierten endlich überholen kann und dann von vorne ins Visier nimmt, ist die Enttäuschung gross und die Scham mächtig.
Was für ein Trottel ist er doch, mit seinem Fimmel, in der Sammlung des Pudels Kern finden zu wollen. Das haut offensichtlich nicht hin.
Also pausiert er vierzehn Tage lang mit dem Museumsbesuch, geht stattdessen in die Kunsthausbibliothek, um die einschlägigen Publikationen zu konsultieren, hat ihm ja sein Mentor geraten. Schau, was bereits verfasst worden ist, damit du keine Doppelspur fährst. Und bedenk, dass wer sich mit einer abgesegneten Grösse anlegen will, gute Argumente braucht. Bitte hallo, er will sich doch gar nicht mit Alberto anlegen, wie käme er, ein Luis aus Schwamendingen, dazu, er ist hineingeschlittert, er tat es seiner Mam zuliebe, obschon er das unterdessen nicht mehr wahrhaben möchte. Denn es hat ihn ja mittlerweile selber gepackt, das Giacometti-Fieber.

Nun liegen Monografien vor ihm, in gestanzter Schrift, man kann sie heute kaum entziffern, gelbstichige Grossformate, und lauter Kataloge, die er halbherzig durchblättert, freilich ohne wesentliche Erkenntnis, ausser der, dass über diesen Bündner mit dem Fuss über der Grenze offenbar mehr erschienen ist als über eine ganze helvetische Künstlergeneration zusammen, seine Zeitgenossen waren zwischen zwei Weltkriegen in der Schweiz blockiert, sie hatten wohl auch anderes zu tun, als Zündholzschächtelchen mit Lehmbröseln zu füllen, winzige Figürchen hat Alberto jahrelang geknetet, was seiner Mutter, seiner Herrin, nicht behagte.
Die Sekundärliteratur ist voller Fotografien, Illustrationen, Lithos und anderer Druckerzeugnisse, mit meditationsträchtigen Texten versehen, die wie alter Küchendunst auf dem Wesentlichen schweben, dem Content. Content ist das Wort von heute, das ist hier nirgends zu erblicken. Hier ist lauter Poesie statt was Handfestem, an dem er sich reiben könnte. So sitzt er vor einer Beige freihändiger Spekulationen über einen berühmten Unbekömmlichen, dessen Nörgelei und cholerische Quergängerei als Charakterstärke gepriesen wird, ja, Albertos Jünger deuten seine Launen gar als unwiderstehliches Charisma; da muss er, Luis, passen. Seinem Geschmack nach sind das lauter verpulverte Gedankengänge einer ideologisch hochgestemmten Zeit, die jeden Furz der Normverweigerung schon als politische Revolte sah.

Am nächsten Morgen starrt er auf den letzten Satz von gestern, er klingt heute triumphal in seinen Ohren, das warst nicht du Luis, das wirkt geklaut aus irgendeinem Bildungskanister. Gestern kam er anscheinend ganz schön in Fahrt: Die Person, die lebende, steht vor dem Werk, schrieb er, die Person ist fraglos, ist unangreifbar, sie ist das Werk. Ist das womöglich der Grund, weshalb das Werk selber nicht wirkt auf manchen User von heute, auf Luis Krattiger zum Beispiel? In keiner kunstgeschichtlichen Sekundärliteratur besteht die Person so sehr aus dem Schaffen an sich, aus dem endlosen, unaufhörlichen, unabdingbaren Ringen wie im Fall von Alberto Giacometti, denn das ringende Schaffen darf nicht enden, geschweige denn zur Vollendung gelangen, weil die Vollendung den Tod bedeutet. Alberto Giacometti, das ist der unentrinnbare Prozess des Machens, des Zerstörens und des Neuanfangs. Klingt gut, ja. Mal schauen, ob diese Behauptung standhält.

Die Tage gehen dahin, der Sommer, dieser heisse Sommer sieht einen Luis an der Arbeit wie nie zuvor, ein Sommer zwischen vier Wänden, er staunt selber über seine Disziplin. Auch an den Sonntagen sass er dran, an den Sonntagen fiel es ihm leichter, die Fülle von Stoff zu ordnen, den er unterdessen beisammenhat. Sich einzulassen auf die Riesenkrake, die ihm jetzt freundlicher erschien. Er kam in Fahrt und arbeitete unter der Woche jeweils bis halb zwei Uhr, um dann in die nächste Migros zu gehen, für einen Happen und ein Coke.
Und schon wird es Herbst, die Blätter der Kastanien wirken wie von Rost angesengt. Vielleicht sind sie ja krank, denn eigentlich gibt es keine Jahreszeiten mehr. Im Juni rollte eine Hitzewelle über das Land, während der August bereits frostig war. Dann blühte die wechselhafte Jahreszeit, für Luis die schönste, noch einmal auf und bescherte dem Volk von Z. goldene Tage der Natur. So was denkt der Krattiger tatsächlich? Er schüttelt den Kopf, ist das noch seine Sprache? Der Infekt namens Alberto, der seine Mutter befiel und zu einer Manie anschwoll, ist offenbar ansteckend, das darf nicht sein. Also macht er früher Schluss, an diesem milden Septembertag packt er den Laptop ein und beschliesst, über die unbekannte Frau nachzudenken, die sich Caroline nennt, und inwiefern sie ihm von Nutzen sein könnte. Er schlendert die Rämistrasse hinunter, bleibt vor dem Springbrunnen in der kleinen Anlage stehen, um sich das Gesicht zu besprühen, in der klimatisierten Bibliothek herrscht in jeder Hinsicht trockene Luft. Er starrt dabei die voluminöse Brunnengestalt an, eine Üppigkeit von vorgestern, wahrscheinlich eine Aphrodite, doch ihrer Steifheit nach zu schliessen eher eine Hera oder wie hiess schon wieder die Gattin von Zeus? Doch die hat nichts für ihn übrig, schon gar keinen Hinweis auf jenes kleine Luder, das sich Caroline nennt. Er geht weiter Richtung Bellevue. Unterwegs tickt sein Smartphone, das er während der Arbeit jeweils auf stumm stellt. Der Anruf dürfte von Mam sein, die ihm noch irgendeine Bestellung verpasst, er soll ein Tetrapack Bio-Milch mitbringen, hörst du, Bio in Grossbuchstaben, und dann das dunkle Walliserbrot, das du doch magst. Etwas in der Art wird sein Handy ausspucken, aber er hat keinen Bock nachzuschauen und trabt vorwärts. Es bleibt noch alle Zeit, eine Besorgung zu machen, seine Mutter arbeitet als Disponentin in der Agglo in einem Walmart-Center und wird nicht vor sechs Uhr zu Hause sein.

Die Kunsthausbibliothek hat sich als patenter Arbeitsplatz für ihn erwiesen, dort hat er sich mit dem Laptop installiert, dort kommt er verlässlich voran, da es rundherum kaum Ablenkung gibt. Meist machen sich da ergraute Häupter zu schaffen, und die verhalten sich ruhig, flüstern allenfalls kurz mit der Dame von der Ausleihe, die auch schon ein Auslaufmodell ist. Keine geile Aussicht, nein, die braucht er nicht, wenn er mit seiner Arbeit an Unbekannt vorankommen will. Das Wort sagt ihm zu. Unbekannt tauft er das File, das die gefragte These ausbrüten soll. Er, der Ignorant, der Banause und ja, was für Invektiven hat ihm der Profax noch an den Kopf geschmissen? Egal, den hat er abgeschrieben, diesen Lackaffen mit einer Egostrippe als Assistenten. Er, Luis, muss aus eigenem Impuls, in Eigenverantwortung verstehen, verstehen lernen, was ein Werk begründet, dessen Schöpfer gesagt haben soll: Je mehr ich scheitere, desto erfolgreicher bin ich. Ein Künstlerstatement von gestern, eine überholte Künstlerposition, und darauf baut er seine These. Während er den Alberto-Satz schon leidlich diskursiv bearbeitet und durchgeknetet hat, indem er ihn dekonstruiert, das heisst auseinanderdividiert und mit seinem Widerspruch konfrontiert, sucht er nach dem Gegenbeweis, will sagen: sucht er nach den Umrissen des aktuellen Rollenbildes in den Künsten, daraus windet sich dann hoffnungsvoll der rote Faden, auf den er lauert, auf den er scharf ist. Das, was die gesamte Gemeinde der alten Schule für einen Affront halten wird, ist sein Element.
Daran hält er sich, seit der Mentor, seine neueste Hoffnung, ihn ermutigt hat, sein Projekt anzukurbeln und die Grundsatzfrage zu einer These auszubauen. Du musst selber denken lernen, Luis, wenn du kein Loser werden willst. Das ist jedoch nicht die passende Motivation für einen Krattiger Luis aus Schwamendingen, Vater lausig, früh abgehauen, Mutter elend, weil damals ohne Geld, von Alimenten keine Spur. Ein Loser ist Krattiger Luis von Geburt auf. Einer, der nicht mal ein eigenes Kindervelo erhielt, geschweige denn ein eigenes Kickboard, alles Leihware oder dann von der Caritas, wo seine Mutter ihre Klamotten dank Aushilfsdienst erschachert. Aus den Verhältnissen, aus denen er kommt, ist man schon im Kindergarten eine Niete. Ein Blindgänger, der Krattiger, sagten die Lehrer, mit Ausnahme von Fräulein Schneeberger, die ihn mochte.
Seine Mam, das ist ein Kapitel für sich. Sie hat ihn mit einer Überzeugungskunst, die er sich kaum zusammenreimen kann, an ein Gymi der Mehrbesseren verfrachtet, das war schwer zu verkraften, nicht nur weil er dafür eine Stunde früher aufstehen musste. Ein Schwamendinger bleibt ein Schwamendinger, das weiss er bis ans Ende seiner Tage. Seine Mam hat sich für ihn starkgemacht, ist zum Schulleiter gegangen, als er gemobbt wurde, und nicht zu knapp. Das war ihm peinlich, er hat versucht, sie davon abzuhalten, doch sie war ganz besessen von ihrer mütterlichen Mission. Das gehört bestraft, das ist Klassenjustiz, sagte sie und prunkte oder punktete bei den Lehrern mit ihrem ehemaligen linken Vokabular, was ihm, Luis, noch peinlicher war. Er wurde gehänselt, weil er mit den gelabelten Klamotten, die die Herrensöhnchen trugen, nicht konkurrieren konnte. Als er zwölf war und ein Schulversager, war es am schlimmsten, einmal haben sie ihn gefesselt und einen Tag lang in einen Keller gesperrt. Mam hat ihn getröstet, aufgemuntert, seit er sich erinnern kann. Als er in die Pubertät kam, gab sie sich Mühe, diskret zu sein, tat so, als wüsste sie nicht, was da unter Jungs abläuft, dass man da halt zusammen Pornos schaut und zusammen masturbiert, schrankenlos gesagt, sich einen nach dem andern herunterholt, und die dollsten Deppen, die in der Schule nicht auf fünf zählen können, sich bereits im Darknet bedienen, was er nicht tat, nein, er ist zu schamhaft dafür. Das Herzklopfen fährt schon ein mit dreizehn, wenn die ältere Schwester des Nachbarbuben draussen vorbeigeht. Weil die nuttig aufgemacht ist, was man heiss findet, aber nicht zugibt, dass man’s heiss findet.
Beschissen fühlt man sich dabei, ganz einfach beschissen, will aber nicht darüber reden, schon gar nicht mit der Mam, die sich kameradschaftlich gibt, so tut, als sei sie die beste Freundin des triebgesteuerten Sohnes. Was dieser Sohn wiederum heuchlerisch findet, denn eigentlich wittert er dahinter bloss die soziale Kontrolle. Uuff, das war mal, jetzt geht es ihm besser, obschon er allmählich checkt, dass ihn die Frauen seines Jahrgangs nicht antörnen, nein, bisher hat ihm keine Studienkollegin richtig gefallen, die meisten tun herablassend und pflegen die Pose von oben herab, rühr mich nicht an, sagt ihr Hüftschwung, während ein sexy Po hinten herauswinkt und man selbst mit der puritanischsten Moral oder sagen wir einer bigotten Kinderstube nicht ungeschoren an ihren offenherzigen Decolletés vorbeikommt.
In der Pubertät und noch lange danach stimmt es einfach nicht zwischen den Guys und den Tussis, wenn man nicht zurande kommt mit diesen krassen Regungen im Geschlechtstrakt und den schüchternen Wünschen oberhalb. Das Oberhalb versteht nicht das Unterhalb, und das Hirn weiss nicht, wohin mit all dem, was südlich der kreatürlichen Maginotlinie abgeht. Die Maginotlinie, ein Kapitel aus dem Geschichtsunterricht: Zweiter Weltkrieg und so weiter, diese Maginotlinie eine Abgrenzung der Franzosen gegen Nazideutschland, die aus einer Panzersperre aus Bunkern bestand.
Der Begriff diente ihm und dem einzigen Schulfreund, den er je hatte, als Geheimcode für das, was sie Mädchenknacken nannten, damals. Leider ist der Kumpel nach der Maturität nach Kanada ausgewandert, er hat ihn schon oft vermisst. Dann kam die Epoche, da die Mam ihn nach Mädchen ausfragte, auch das ist vorbei. Das ewige Gedöns, hast du eine Freundin, sag, Lou, wenn du eine hast, bitte bring sie nach Hause, Lou, ich würde mich freuen, sie kennenzulernen, Lou, mein Schatz, hörst du, ich will wissen, mit wem du verkehrst. Die gesamten Innereien will sie herausklauben aus dir, bis man sagt, du gehst mir auf den Keks, Mam, lass mich endlich in Ruhe mit den Weibern.

Und jetzt? Sie kommen aus, sie mögen sich, manchmal findet er sie schön und begehrenswert, weil geistig hat sie auch was zu bieten. Manchmal kann er echt gut reden mit ihr, also echt cool haben sie’s dann. Manchmal bedauert er sie, wenn sie sich einmal mehr für den Ausgang volle Pulle aufgemacht hat, ein erheblicher Aufwand, denkt er, und dann kommt sie um ein Uhr nachts resigniert nach Hause, schnappt sich einen Whiskey und einen zweiten und einen dritten und beginnt zu lallen, einmal wurde sie fast zudringlich, Shit, hörst du, Mam, hör auf zu saufen, Mam, das ist das Letzte, Mam. So was macht ihn jeweils derart verlegen, dass er dann einfach abhaut, gleichzeitig schämt er sich dafür. Doch hassen, wie der Kumpel von der Mensa seine Alte hasst, das tut er nicht. Was er für sie empfindet, ist ganz gewiss das Gegenteil von Hass, hat aber keine eindeutigen Konturen. Obschon er in letzter Zeit allen Grund hätte, sie zu hassen, weil sie neuerdings die taffe Emanze gibt. Seit sie sich ausgesprochen haben über ihre gegenseitigen Abhängigkeiten und er ihr vorwarf, dass sie ihn zu sehr betüttle und er ausserdem nichts halte von ihrem angelesenen Therapeutenmief, gibt sie vor, nicht auf ihn angewiesen zu sein, klar, verletzter Stolz, kann er ja verstehen, doch vermag er ihr nicht zu sagen, dass er sie gernhat, er müsste ihr das sagen können und schafft das nicht, irgendetwas ist da verkapselt in ihm. Seither also dieses Emanzengetue, gendermässig vorneweg, dieser Supergenderfurz, der ihn anödet. Dann nimm dir doch endlich eine geile Alte, wenn da keiner anbeisst, hat er sie angeschrien, als sie das letzte Mal besoffen heimkam. Immerhin brachte er es fertig, sich dafür zu entschuldigen. Aber sonst? Es gibt Momente, da schleicht der Verdacht in ihm hoch, dass er nichts als ihr Rangierpüppi sei, ihr Ersatzpartner, ein Stehaufmännlein, das sie gängelt, weil sie als Alleinerziehende die Verantwortung hat, sagt sie, und Verantwortung ist just another word for Macht und Machtausübung und die nicht zu knapp.
Dieses Scheisspatriarchat, das ihm doch zutiefst zuwider ist. Rundherum zahlen die Managerund die Banker-Daddies das Studium und nicht wie in seinem Fall eine überqualifizierte Prekäre, eine Überzählige der freien Liebe, die bei Walmart schuften muss, verdammt. Und er ist Mam doch dankbar dafür, aber sicher doch trifft der gesamte Umfang des Wortes Dankbarkeit zu, die kann er aber nicht zeigen, weil ihn der Grund verdriesst. Und ärgert. Und ja, auch schmerzt. Was er niemals zugeben kann. Und es an ihm nagt, dass das so ist. Dass sein Stipendium nicht reicht. Nirgendshin reicht, obschon er ja keineswegs über die Schnur haut, nichts dergleichen tut er. Scheisse, aber was soll’s, eigentlich haben sie es gut zusammen, haben Vertrauen zueinander, verglichen mit sturen Elternhäusern, wo nach aussen alles paletti ist, es drinnen hingegen müffelt und graut, sodass man umkommt in der Kälte des Scheins.

Dutzende von Monografien, Kataloge und Features hat Luis durchgekämmt. Dieser Alberto, diese orgelnde Persönlichkeit, ist menschlich dermassen präsent, daher wollen ihn alle haben, umgarnen, ausnehmen, publizistisch ausweiden wie eine Stopfgans oder kunsthistorisch zumüllen mit einer antikisierenden Suada. Er sieht im Notizbuch nach, da hat er doch selber eine Klugscheisserei hingekritzelt, die ihm eingefallen war, nach der Lektüre diverser Katalogvorworte. Die Person, liest er, die lebende steht vor dem Werk, und diese Person ist fraglos, ist unangreifbar, ja, sie IST das Werk. Hallo, Luis, das hatten wir schon. Doch im Fall eines Weltkünstlers wie Giacometti kann nicht genug repetiert werden, was schon irgendwo stand, was man irgendwo aufgefischt hat, da gilt die Regel: Alles trifft zu oder auch nicht, was zu diesem Lebenswerk herumschwadroniert worden ist. Also noch einmal, Luis, Kopf hoch und schreib: Der Mann, dieser Kerl ist das Schaffen selber, das unerschöpfliche, das nicht enden wollende, das ihn in Trab hält, denn nichts fürchtet dieser Künstler so sehr wie die Vollendung.
Geht doch, sagt der Kollege von der Mensa.
Gewiss kann man nach wie vor von der Integrität und Redlichkeit dieses Künstlermenschen beeindruckt sein, doch sind das Eigenschaften, die heutzutage keine arme Seele der Generation Y aus dem Busch lockt. Sie haben wenig Wert und kaum Bedeutung für Leute, die im Internet aufwachsen, denen die digitale Welt die wahre Identität liefert. Was also fängt ein Luis Krattiger aus Schwamendingen mit diesem Monstrum von einer Aufgabenstellung an, die er sich selber eingebrockt hat?

Gestern hat seine Mam seinen Fleiss gelobt und seine Disziplin. Ganz unvermittelt hat sie das getan. Okay, Mam, ich weiss das zu schätzen.
Das zu sagen hat er immerhin zustande gebracht. Dieses Okay ist ja das Allerweltschmiermittel, auch zwischen den Generationen. Freilich hat er ihr nicht gestanden, dass er sich zwar durch die gesamte Sekundärliteratur gefressen hat, wahrhaftig kein Schleck, die gesamte einschlägige Literatur angehäuft hat er und ist trotzdem so schlau als wie zuvor. Seine These wurde nur erhärtet, aber nicht belegt, und der Gedanke reift in ihm, dass ihm eben doch nur eines weiterhilft, nämlich die Anschauung.
Jene Anekdote, die James Lord referiert, kommt ihm jetzt wieder in den Sinn. Alberto war im Jardin des Plantes von einer betrunkenen Amerikanerin angefahren worden, und trug das gebrochene Bein einige Wochen lang im Gips. Er schien einen besonderen Genuss daraus zu ziehen, weiterzuhinken, als er geheilt war. Das Hinken hat ihn vermutlich bestätigt auf dem ewigen Weg der Sinnlosigkeit, die sein künstlerisches Streben nach dem Absoluten begleitet. Sich invalid zu geben, als Versehrter seines Krieges mit der Materie, entsprach dem unaufhörlichen Versuch, das Scheitern des Künstlers voranzutreiben, nicht das Gelingen.
Also nichts wie hin. Wieder und wieder. Damit der Groschen endlich fällt. Aber oh weh, wenn Luis in der Sammlung steht, wird er stets zum Chorknaben der schönen Lehre, ist er der ewige Student, der einen Pflichtstoff absolviert. Im Museum kommt er nicht weiter. Oder halt, ob er vielleicht neuen Schub erhält, wenn er die Gangart der überdimensionierten Gestalten nachahmt, in klobigem Schuhwerk vorwärtsschlurft, als sei er der schreitende Mann? Klumpfüsse würden ihm vielleicht jenes Körpergefühl beibringen, das die Kunstexperten Existentialismus nennen, dieses Verlorensein unter Menschen, das Ikognito und die Entfremdung des Einzelnen in der Grossstadt, vielleicht muss ich mit ihnen gehen, mich ihnen anschliessen, diesen mit monströsen Fussklumpen beschwerten Schreitenden, vielleicht liegt es am Schuhwerk.
Luis starrte auf seine Füsse, die in Flip-flops steckten und den Träger in sommerlicher Leichtigkeit wiegten, obschon es schon kühles Herbstwetter war, weswegen er Socken trug, was ziemlich daneben aussah, ihm aber egal. Er beschloss, anderntags in Skischuhen durch die Sammlung zu trampen, um nachzuempfinden, wie sich Albertos Personal auf Klumpfüssen erfuhr. Er erhoffte sich davon einen Zugang zu den Figuren, die ihm nach wie vor ein Rätsel waren, irgendein Berührungspunkt zwischen der Botschaft der Kunst und seinem Alltag sollte sich auf diese Weise herleiten.
Nichts änderte sich in Luis’ Wahrnehmung, obschon er es äusserst beschwerlich fand, in diesen Schnallentankern die Räume zu durchmessen; die Aufsicht sandte ihm einen schnöden Blick zu, eine andere schüttelte den Kopf. Das war ein Schuss ins Leere, dachte er, als er ernüchtert ins Foyer kam und sich setzte, um die Plastikmonster loszuwerden und in den aufliegenden Zeitungen zu blättern.
Sackgasse, die Selbsterfahrung, die ist ja auch von gestern. Es sei denn, ja, es sei denn, dass gerade die Beschwerlichkeit der Fortbewegung einen folgenschweren Schluss zulässt, nämlich den der erhöhten Selbstbezogenheit, die den Horizont beschränkt. Skischuhe im Museum distanzieren den gehenden Betrachter von seinem Gegenstand, dem Exponat. In Skischuhen bist du weiter von der Kunst entfernt als auf leichten Sohlen, die den Kopf durchlüften. Kommt er so der Sache näher, die seine Sache ist, innovativ und dringlich wie gefordert? Er liess die Zeitung sinken, er brauchte eine Zweitmeinung und erwischte den Kumpel in der Mensa; er bat ihn, dort auf ihn zu warten.

 

 

Eine fantastisch real-surreale burleske Komödie entwirft Isolde Schaad in ihrer Story «Giacometti hinkt». Der Band enthält weitere neue meisterliche Erzählungen der namhaften Schweizer Autorin. Ein amüsantes, süffisantes sowie tiefgründiges Lesevergnügen!

Ingrid Isermann

(siehe auch AutorInnen Literatur & Kunst)

 

 

Isolde Schaad

Giacometti hinkt

Fünf Wegstrecken, drei Zwischenhalte. Erzählungen

Limmatverlag Zürich, 2019

288 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag

CHF 34. 34 €
ISBN 978-3-85791-870-4

 

 

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