«Ivna Žic: Vexierbild einer Spuren- und Sprachsuche durch Europa»
Von Ingrid Isermann
Eine junge Frau reist im Zug von Paris nach Kroatien, wo jeden Sommer die Familie auf der Grossmutterinsel wartet. Sie denkt an den Mann, mit dem sie ein Jahr lang eine Beziehung führte. Ein Maler, der nicht mehr malt. Im Zug setzt sich der verstorbene Grossvater zu ihr. Auch er ein Maler, auch er hatte aufgehört zu malen.
Sie werden zu gedanklichen Begleitern auf ihrer Reise in die Vergangenheit. Das Auswandern der Eltern kurz vor dem Krieg in Kroatien löste den Aufbruch und Abbruch aus. Im Spannungsfeld der geographischen und sprachlichen Verschiebungen, in diesen von Geschichte besetzten Räumen, erzählt Ivna Žic mit atemlosem Furor in ihrem beeindruckenden Debütroman von einer beginnenden Suche, die zugleich das Jetzt und das Damals abtastet:
«Man wird die Sprachen, die man in sich trägt, niemals gleichzeitig sprechen können. Wie man nicht alle Leben leben kann, die es bräuchte, um mit all den Menschen zu leben, die man gleichzeitig liebt. Diese Sprache und ich müssen die Schrittlänge wieder finden, sind einen in graue Platten aufgeteilten Küchenboden gewohnt, auf dem wir Kinderhüpfspiele gespielt haben und den wir lange schon mit nur wenigen Schritten durchqueren können». Das Buch ist nominiert auf der Shortlist des Schweizer Buchpreises und auf der Longlist des Österreichischen Buchpreises.
Leseprobe:
JAHR JAHRE GROSSVATER
Sie schnarcht. Die Frau unter mir schnarcht, eine ganze Nacht hat sie geschnarcht, aus ihrer Liege kippen weiße Waden, Sommermückenstiche, sie schwitzt, ich schwitze, alle Stiche aufgekratzt, an den nackten Sohlen Wundpflaster und Striemen von Sandalen, blaue Venen,
Haarstoppeln, Mundgeruch im Raum, Bitterkeit unter den Achseln.
Keine Nacht mehr.
Ich setze mich auf, die Decke ist zu niedrig, doch langsam ist es egal, wie sich der Körper verbiegt, fast zwölf Stunden ist er schon unterwegs, wieder einmal, kaum geschlafen, wieder einmal diese Fahrt, die weder auf hört noch irgendetwas auslöst, außer die Wiederholung, außer ihre Dauer, bekannte zwölf Stunden, wo stapeln sie sich wohl, diese immer wieder neuen fast zwölf Stunden Fahrt, irgendwo in diesem gekrümmten Körper liegen und stapeln sie sich, denk ihn weg, wisch ihn weg und auch diese Fahrten. Hundertmal oder waren es schon fünfhundertmal oder nur sehr viele, für einen einzelnen Körper vielleicht jetzt schon zu viele, waren es mal drei Mal im Jahr und dann vier Mal, dann die Jahre, in denen nur Sommer und Weihnachten möglich waren, so waren es unausweichlich diese Stunden und ihre fast genaue Anzahl, die unsere Bewegungen aufeinander zu und wieder weg seit
jenem Tag bestimmen, als sie die Koffer nahmen, als sie die Wohnung im obersten Stock des Plattenbaus in Novi Zagreb abschlossen, als die Zweiten die Ersten wurden, die gingen, und die Mutter mich in den gelb gestreiften Rock steckte und sich den Bruder um den Bauch hängte und wir ins Flugzeug stiegen. Wohl gepackt, wohl vorbereitet, wohl organisiert, es warteten Wohnung, Arbeit und ein Kindergartenplatz, es wurden getauscht: die mir
bekannte Straße, das Plattenbauviertel, die Großeltern, die Tante in der Stadt, die vielen Parks und Ausflugsziele, die Sarma und die gefüllte Paprika, die kleinen Schokoladen mit den Tierbildern zum Sammeln, Zagreb, die Stadt, und das Land, das damals noch ein anderes war
und sich bald ändern sollte, gegen eine neue Entfernung und ihren Wert, gegen die Erinnerung, die ab diesem Moment anders verlaufen würde, mit zweisprachigen Träumen und zeitrennenden Ferien, immer zu wenig Zeit für die vielen Verwandten, immer zu wenig Zeit für eine wahrhaftige Unterhaltung, renn, renn, renn! Ostern, Weihnachten, wieder Ostern, schon wieder Weihnachten, dazwischen und davor und meist auch danach ein schlechtes Gewissen, ein Sprachspagat oder ein heulender Salto, inzwischen eine Kindheit an einem See weit weg davon, Anke für Butter, zuhause putar, und Grüezi, Ade, Merci, Frau Rüedi, die Nadines und Stefanies und Chrigis und Sämis im Chindsgi und in der Schule, inzwischen ein Studium, noch weiter weg, mit jenem Tag beginnend, an dem die Mutter mich in den gelb gestreiften Rock steckte und sich den Bruder um den Bauch hängte und wir dann
ins Flugzeug stiegen. Ein kurzes Gewitter, eine verschüttete Coca¬Cola und dann die Landung in Zürich, wo der Vater schon wartete, ein Foto fürs Familienalbum, darauf
ist schräg hinter uns KUNFT ZÜ zu lesen, das Ende des Stadtnamens verdeckt ein großer Kopf im Hintergrund, den Anfang der Ankunft hat die Kamera abgeschnitten, unser Nullpunkt, von dort wächst alles aus zwei Richtungen heraus. Aus den Stunden dazwischen und jenen, die stets fehlen, entstehen irgendwo Stapel, die sich nicht mehr abtragen lassen werden.
Draußen jetzt Vorstadt, kein Land mehr, gleißende Morgensonne, graue Betonklötze, Vorstadt, Großstadt, die ausgestorben sein wird, der Zug halb leer. In einem Land am Meer bleibt im August keiner in der Stadt. Der Boden glüht, Staub, die Fenster in den Betonblöcken stehen fast alle offen, an den Häuserwänden hängen Klimaanlagen, ab und zu Satellitenschüsseln.
Ich drehe mich um.
Vor drei Tagen noch ein anderer Zug.
Ich drehe mich um.
Es beginnt drei Tage zuvor, ich drehe mich auf den Bauch, auf den Rücken, auf die Seite, und es hört auf, ich drehe mich um, in einem Zug nach Paris, vor drei Tagen, ich drehe mich um, in einem lila¬roten TGV, glühender Körper in einem eiskalten Zugabteil, um mich herum
Stille, ich drehe mich um, durch diese Ruhe schlich ich auf die Toilette, zog mich um, in der Hoffnung, dass es keiner bemerkt, als würde es jemanden interessieren, ob ich mich umgezogen hatte, ob ich nun besser, schlechter oder einfach nur anders aussah, eine Unsicherheit insgesamt, die in Wirklichkeit keinem einzigen Blick im Zug galt, sondern ihm.
Ich liege auf dem Rücken. Ich liege still.
Dabei kennen seine Hände und Augen jeden Teil meines Körpers auswendig, kennen die Höhlen zwischen den Achseln, in der Armbeuge, beim Schlüsselbein, können im Schlaf meine Brust nachzeichnen, meine Ohren, meinen Hals, Hände, die tief eingedrungen sind, die den Körper immer und immer wieder auseinandergebaut und neu zusammengeschraubt haben, ich zog mich um, als könnte diese kleine Entscheidung alle weiteren bedingen, als wäre sie ein Panzer, mit dem ich sicher oder zumindest sicherer aussteigen würde. Wenn ich in diesem unterkühlten Zug nach Paris eine klare Entscheidung treffen könnte, dann müsste es auch nach der Ankunft möglich sein, eine weitere zu treffen. Doch es gab weder Sicheres noch Unsicheres, wenn ich an die Treffen und Berührungen dachte, es gab mich, es gab ihn, es gab keinen Panzer, mit dem ich für das Eine oder Andere kämpfen konnte, also beschwor ich dieses Umziehen, ich beschwor die Unterwäsche, das Hemd, die Hose und die Socken, ich beschwor jeden Teil meines Körpers, diese Begegnung zu schützen, mehr konnte ich nicht tun in einem kalten Zugabteil vor drei Tagen, als ich nach Paris fuhr, um eine Entscheidung zu treffen.
Ivna Žic, 1986 in Zagreb geboren, aufgewachsen in Zürich, studierte Angewandte Theaterwissenschaften, Schauspielregie und Szenisches Schreiben in Giessen, Hamburg und Graz. Seit 2011 arbeitet sie als freie Autorin, Dozentin und Regisseurin, u.a. am Berliner Maxim Gorki-Theater, Schauspielhaus Wien, Luzerner Theater, Theater Neumarkt, Schauspiel Essen, Theater St. Gallen. Sie erhielt für ihre Texte zahlreiche Stipendien und Preise. Sie lebt in Zürich und Wien.
Ivna Žic
Die Nachkommende
Matthes & Seitz, Berlin 2019
164 S., CHF € 20.
ISBN 978-3-95757-769-6
«Ocean Vuong: Auf Erden sind wir kurz grandios»
Vuong erzählt fragmentarisch vom Leben eines Jungen namens Little Dog, der in Saigon geboren wurde, in Hartford/USA aufwächst und sich in einen Jungen verliebt, der den Drogen verfällt. Aus seinen Skizzen hört man den Schmerz eines Aussenseiters, der sich aus der vietnamesischen Kriegsvergangenheit seiner Familie und den Grenzen seines Milieus herauskämpft. Alle Figuren, so Vuong, basieren auf realen Vorbildern. Sein erster Roman hat die Literaturszene begeistert.
Ocean Vuong kam über die Poesie zur Prosa. Seine Gedichte erschienen in renommierten Publikationen wie «New Yorker» oder «New York Times». Sein Gedichtband «Night Sky with Exit Wounds» wurde mit dem T.S. Eliot Prize ausgezeichnet und erscheint im nächsten Frühjahr im Hanser-Verlag in einer zweisprachigen Fassung: «Nachthimmel mit Austrittswunden». Auch sein erster Roman «Auf Erden sind wir kurz grandios» hat eine poetische, lyrische Form und ist als Brief verfasst. Der Ich-Erzähler schreibt seiner Mutter, Tochter eines US-Soldaten und eines vietnamesischen Bauernmädchens, einer Analphabetin, die den Brief nie lesen wird. Sie arbeitet in ihrer neuen Heimat Amerika im Nagelstudio und versucht, ihren sensiblen, homosexuellen Sohn mit Schlägen zu erziehen und auf das Leben vorzubereiten. Dieses aufregende Debüt erzählt von den Qualen des Erwachsenwerdens und wie die Traumata der Eltern und Grosseltern prägend weiterwirken. Der 30-jährige Ocean Vuong schreibt in einer kristallinen Sprache, deren Klang lange nachhallt.
Ocean Vuong wurde 1988 in Saigon, Vietnam, geboren und zog im Alter von zwei Jahren mit seiner Mutter nach Amerika, wo er heute lebt. Für seine Lyrik wurde er mehrfach ausgezeichnet, zuletzt u.a. mit dem «Whiting Award for Poetry» (2016) und dem «T.S. Eliot Prize» (2017). «Auf Erden sind wir kurz grandios», Hanser 2019, ist sein erster Roman.
Leseprobe:
LASS MICH VON vorn anfangen.
Ma,
ich schreibe, um dich zu erreichen – auch wenn jedes Wort auf dem Papier ein Wort weiter weg ist von dort, wo du bist. Ich schreibe, um zu jenem Mal an der Raststätte in Virginia zurückzukehren, als du voller Entsetzen den ausgestopften Hirschkopf angestarrt hast, der über dem Getränkeautomaten bei den Toiletten hing; sein Geweih überschattete dein Ge- sicht. Im Auto hast du immer noch den Kopf geschüttelt. »Ich verstehe nicht, warum die Leute so was machen. Sehen die denn nicht, dass es ein totes Tier ist? Eine Leiche sollte ver- schwinden, nicht für immer so feststecken.«
Ich denke jetzt an diesen Hirsch, wie du in seine schwarzen Glasaugen gestarrt und dich selbst, deinen ganzen Körper ver- zerrt in diesem leblosen Spiegel gesehen hast. Wie es nicht die groteske Zurschaustellung eines geköpften Tieres war, die dich so aufwühlte – sondern dass die Ausstopfung einen Tod verkörperte, der nicht enden würde, einen Tod, der ununter- brochen stirbt, während wir auf dem Weg zur Toilette daran vorbeigehen.
Ich schreibe, weil man mir gesagt hat, niemals einen Satz mit weil anzufangen. Aber ich wollte keinen Satz bilden – ich wollte freikommen. Weil Freiheit, so heißt es, nur der Abstand zwischen dem Raubtier und seiner Beute ist.
HERBST. IRGENDWO ÜBER Michigan macht sich eine Kolonie Monarchfalter von über fünfzehntausend Schmetterlingen auf ihre jährliche Wanderung nach Süden. Im Laufe von zwei Monaten, zwischen September und November, ziehen sie von Südkanada und den Vereinigten Staaten aus, immer einen Flügelschlag nach dem andern, zur Überwinterung nach Zentralmexiko.
Sie lassen sich zwischen uns nieder, auf Fensterbänken und Maschendrahtzäunen, Leinen, wie weichgezeichnet vom eben noch hängenden Gewicht der Wäsche, auf der Motorhaube ei- nes verblichenen blauen Chevy; ihre Flügel schließen sich langsam, als würden sie fortgeräumt, ehe sie einmal zusammenschnellen, in den Flug hinauf.
Eine einzige Nacht Frost kann eine ganze Generation auslöschen. Leben wird so zu einer Frage der Zeit, des richtigen Zeitpunkts.
Jenes Mal, ich war fünf oder sechs und wollte dir einen Streich spielen, sprang hinter der Tür im Flur hervor und rief: »Bumm!« Du hast aufgeschrien, dein Gesicht verzerrt und verharkt, bist dann in Schluchzen ausgebrochen und hast die Hand in der Brust verkrallt, dich nach Luft schnappend gegen die Tür gelehnt. Ich stand verblüfft da, mein Spielzeughelm auf dem Kopf verrutscht. Ich war ein amerikanischer Junge, der nachäffte, was er im Fernsehen sah. Ich wusste nicht, dass der Krieg immer noch in dir war, dass es überhaupt einen Krieg gegeben hatte, dass er, einmal hineingelangt, nie mehr weggeht – aber doch nur widerhallt, als Geräusch, das das Ge- sicht deines eigenen Sohnes formt. Bumm.
Jenes Mal, als ich in der dritten Klasse mithilfe von Mrs Callahan, meiner Englischlehrerin im Förderunterricht, das erste Buch las, das ich wirklich mochte, ein Kinderbuch namens Donnerkuchen von Patricia Polacco. In der Geschichte entdecken ein Mädchen und seine Großmutter, wie sich am grünen Horizont ein Sturm zusammenbraut, doch anstatt die Rollladen herunterzulassen oder die Türen mit Brettern zu vernageln, machen sie sich daran, einen Kuchen zu backen. Et- was lichtete sich in mir bei dieser gefährlichen und doch kühnen Missachtung gesunden Menschenverstands. Während Mrs Callahan hinter mir stand, ihr Mund an meinem Ohr, wurde ich tiefer in den Strom der Sprache hineingesogen. Die Geschichte entrollte sich, der Sturm grollte herein, während sie sprach, grollte dann noch einmal, wenn ich die Worte wiederholte. Einen Kuchen backen im Auge des Sturms. Sich mit Zucker nähren am Abgrund der Gefahr.
Ocean Vuong
Auf Erden sind wir kurz grandios
Hanser Verlag, München 2019
159 S., geb. CHF 33.90
ISBN Nr. 978-3-446-26389-5
«Thomas Meyer: Wolkenbruchs waghalsiges Stelldichein mit der Spionin»
Der erste «Wolkenbruch» war ein durchschlagender Erfolg, verfilmt von Regisseur Michael Steiner und als Schweizer Beitrag zur Oscar-Nominierung eingereicht. Nun gibt’s eine Fortsetzung. Nach dem Bruch mit seiner frommen jüdischen Familie wird Motti Wolkenbruch in einem Kibbuz in Israel aufgenommen. Sie trachten nach der Weltherrschaft, die bisher allerdings ziemlich erfolglos verlief. Erst als Motti eingreift, ändert sich das. Doch eine Gruppe von Nazis hat das gleiche Ziel mit einer attraktiven Agentin, die Motti gefährlich nahekommt. Und da kommt das waghalsige Stelldichein mit der Spionin ins Spiel. Thomas Meyer spielt mit Klischees über Juden und packt den Stier bei den Hörnern.
Thomas Meyer, geübt in charmanten Querpositionen, spielt auch hier wieder auf der Klaviatur der Differenzen zwischen gesellschaftlichen und religiösen Bezügen, Rechtspopulismus und Nazis.
Dem ZEIT-Kritiker war das ein zu gefälliger Kitsch. Er monierte, dass durch die Wiederholung jüdischer Stereotype das antisemitische Zerrbild noch zementiert werde. Es lässt sich darüber streiten, ob man Stories ad absurdum treiben und sie damit letztlich auflösen kann und ob diese Perspektive der Aufklärung dient. Thomas Meyer ist ein Geschichtenerzähler, der auch unterhalten will und sein Erfolg hat ihm bisher Recht gegeben. Moralinsaure Bekehrung verfängt nicht und wirkt kontraproduktiv. Aber eine Prise Sarkasmus und Masochismus gehört wohl dazu, die Sprache so zuzuspitzen, dass sie den Judenhassern geradewegs in die Arme treibt. Thomas Meyer hat die Verschwörungsfantasien und -theorien aufgenommen und weitergesponnen. Das könnte man angesichts des grassierenden Antisemitismus durchaus waghalsigen, heiteren Mut nennen.
«Das allgemeine Wissen über das Judentum in der Schweiz ist beschränkt und gehört nicht zum Selbstbild der Schweiz», so Kritiker Caspar Battegay, Dozent an der Uni Basel und FH Nordwestschweiz(«Judentum und Popkultur», Transcript, 2012). Es ist an uns, sich näher zu informieren.
Thomas Meyer, *1974 in Zürich, Sohn einer jüdischen Mutter und eines christlichen Vaters, arbeitete nach einem abgebrochenen Jura-Studium als Texter in Werbeagenturen und als Reporter auf Redaktionen. 2007 machte er sich selbständig. Sein Roman «Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse» wurde zu einem Best- und Longseller. Die Verfilmung «Wolkenbruch» (2018) war ein grosser Kinoerfolg. Thomas Meyer lebt in Zürich.
Leseprobe:
Im Spiegel des Aufzugs begegnet Motti Wolkenbruch einem Motti Wolkenbruch, der nur wenig Ähnlichkeit hat mit jenem, den er bis vor kurzem kannte: Er trägt keine orthodoxe Kleidung mehr, keine Kippa und keinen Bart, sondern Jeans und T-Shirt. Außerdem hat er aufgehört, zu beten und koscher zu essen. Er isst überhaupt kaum noch. Und das alles wegen Laura.
Als er die Lobby betritt, schaut er sich links und rechts nach diesem Herrn Hirsch um. Aus einem der Ledersessel erhebt sich ein kleiner, rundlicher Herr mit Haarkranz, einer dicken eckigen Brille, wie Politiker sie früher getragen haben, und einem ebenso altmodischen beigefarbenen Polohemd, aus dessen Kragen ein goldener Davidstern herausglänzt. Motti geht auf ihn zu. Der Mann, er dürfte um die fünfzig sein, streckt Motti seine Rechte hin und sagt erfreut und mit jiddischem Akzent: »Herr Wolkenbruch! Gideon Hirsch, mein Name.«
Motti schüttelt ihm zaghaft die Hand. Ist er ein Abgesandter seiner Eltern? Soll er Motti wieder nach Hause bringen? Für eine solche Mission sieht er allerdings nicht fromm genug aus.
»Bitte«, sagt Hirsch und weist einladend auf den Sessel gegenüber seinem.
Sie setzen sich. Von irgendwoher erklingt leise klassische Musik. Hirsch studiert einen Moment lang freundlich Mottis Gesicht und fragt: »Nu, Herr Wolkenbruch, wie geht es Ihnen?«
»Gut«, lügt Motti.
Hirsch nimmt einen Schluck von seinem Mineralwasser. »Aber Sie haben den Kontakt zu Ihrer Mischpuche verloren, nicht wahr?«
Also doch, denkt Motti. Ihm wird warm in der schmalen Brust. Er stellt sich vor, wie seine Mame, während hier über seine Heimkehr verhandelt wird, eine Hühnersuppe für ihn zubereitet, mit schwingendem Löffel und wackelndem Tuches.
»Ja. Und Sie sind gekommen, um zwischen uns zu vermitteln?«, fragt Motti. Überflüssigerweise, findet er.
Doch wie Hirsch nun aufhört zu lächeln und den Kopf schüttelt, so gut das bei seiner Halslosigkeit eben geht, ahnt Motti, dass die Verhältnisse wohl anders liegen.
»Nein, Herr Wolkenbruch, leider nein«, sagt Hirsch leise. »Gäbe es in Ihrem Fall noch etwas zu vermitteln, würde Ihr Rabbiner hier sitzen. Nicht ich.«
Motti wird unruhig. Wenn dieser Mann nicht gekommen ist, um ihn mit seiner Familie zu versöhnen – wozu denn dann?
Hirsch bemerkt Mottis Irritation, hebt die Hände und sagt feierlich: »Ich bin von den Verlorenen Söhnen Israels. Und Sie, mein lieber Herr Wolkenbruch, sind nun einer von uns.«
»Mit noch glühenderem Eifer!«
Als am frühen Morgen des dreißigsten April 1945 amerikanische Infanterie aus mehreren Richtungen in München einmarschierte, weckte das bei den Einwohnern gegensätzliche Empfindungen. Die einen fühlten sich befreit, die anderen besiegt. Darüber, dass der Krieg nun aus war, herrschte angesichts der fremden Übermacht allerdings Einigkeit. Die Greise des Volkssturms und die Kinder der Hitlerjugend legten ihre Waffen nieder, die Straßenbahnfahrer hielten auf offener Strecke an, und alle gingen, sofern sie noch eines hatten, nach Hause.
SS-Obersturmbannführer Erich Wolf, ein schneidiger Vierundzwanzigjähriger mit teichgrünen Augen und Stirnglatze, beurteilte die Lage etwas anders. Gewiss, die Dinge standen nicht zum Besten, seit die Plutokraten und die Bolschewisten gemeinsame Sache machten. Aber der Krieg verloren? Das Reich am Ende? Niemals! Erst zwei Tage zuvor hatte er diese Worte ein paar Drückebergern der Freiheitsaktion Bayern, die doch allen Ernstes kapitulieren wollten, ins Ohr gebrüllt, bevor er sie niederstreckte. Aller- dings waren da die Amerikaner auch noch nicht hier gewesen.
Nun, da deren Panzer und Lastwagen unablässig in die Stadt rollten, zog sich Wolf mit seinem noch rund vierhundert Mann starken Bataillon in den Außenbezirk Obergiesing zurück, ließ die Fahrzeuge tarnen und erklomm mit seinem Stellvertreter, Sturmbannführer Kurt Hartnagel, den unversehrten Turm der Heilig-Kreuz-Kirche.
»Denen werden wir Saures geben«, sagte Wolf, während er durch seinen Feldstecher verfolgte, wie Straßenzug um Straßenzug an den Feind fiel. Als Münchner nahm er die Sache zutiefst persönlich.
Hartnagel, ein gewissenhafter Offizier mit Nickelbrille, erlaubte sich die Frage, was der Herr Obersturmbannführer gegen die Amerikaner auszurichten gedenke.
Wolf ließ das Fernglas sinken und starrte Hartnagel an. »Glauben Sie etwa nicht an den Endsieg?« Nur eines hasste er noch mehr als die Juden: Treulosigkeit.
»Doch, natürlich«, versicherte Hartnagel. »Aber was wir konkret tun wollen, meine ich.«
Die Frage war nicht unbegründet. Nebst Wolfs Kommandeurswagen – einem offenen Mercedes Benz Typ 320, in dem er auch unter Beschuss aufrecht zu sitzen pflegte – verfügten sie über zwei Opel-Blitz-Lastwagen und ein Halbkettenfahrzeug, das eine reichlich ausgeleierte 8,8-cm- Kanone zog und noch elf Granaten dafür mitführte. Es mangelte außerdem an Gewehrmunition, Treibstoff, Medikamenten und Verpflegung.
Wolf blickte wieder durch sein Glas. Er beschloss, getreu der jüngsten Anordnung des Führers, den Kampf in den Wäldern fortzusetzen. Hinterhalt. Sabotage. Partisanenkrieg. Was die Russen konnten, das konnten sie schon lange.
»Mit noch glühenderem Eifer«, befahl er.
Thomas Meyer
Wolkenbruchs waghalsiges Stelldichein mit der Spionin
Diogenes, Zürich 2019
CHF 30. € (D) 22. € (A) 24.70.
ISBN 978-3-257-80408-9
Hörbuch
5 CD.