«Opulente japanische Holzschnitte: Die Welle rollt wieder an»
Von Ingrid Schindler
Auf dem Höhepunkt der japanischen Holzschnittproduktion rollte der Japonismus wie ein Tsunami über die europäische Kunst. Ein opulenter Prachtband zeigt 200 Meisterwerke von 1680 bis 1938 und macht deutlich, warum der japanische Farbholzschnitt bis heute fasziniert.
Riesenkrokodilhai und Vogelmenschen
Ein Riesenfisch mit weit aufgerissenem, wehrhaftem Maul, Fabelwesen, halb Mensch, halb Vogel, ein Boot in stürmischer, blauer See und dreieinhalb Menschen in Not. Dramatischer und packender als Utagawa Kuniyoshi illustrierte keiner die «Rettung Tamemotos durch die Verbündeten des zurückgetretenen Kaisers Sutoku». Der Druck von 1851 markiert den Höhepunkt der japanischen Holzschnittproduktion und zeigt eine Schlüsselszene aus dem Fortsetzungsroman «Wundersame Geschichten vom Sichelmond». Wir sehen, wie dem Samurai Minamoto (im Boot), dessen Frau, Prinzessin Shirami (in den Wellen), beide gerade zum rituellen Selbstopfer bereit, und dem kaiserlichen Vasall (auf dem Rücken des Fisches, mit dem kleinen Kaisersohn im Arm) Rettung durch Fabelwesen widerfährt. Geschickt hat die Helfer der Rachegeist des abgesetzten, verbannten Kaisers. Kunisada hat diese Wesen aus der anderen Welt nicht farbig bedruckt, womit sie schon optisch sie aus dem Farbmeer der «realen» Welt herausfallen. Seine Interpretation von Heldenkriegern, allein oder in panoramaartigen Szenen wie in der «Rettung Tamemotos» dargestellt, beeinflusste nachhaltig die nachfolgende Künstlergeneration.
Schwergewicht
Kunisadas Fischszene ziert das Cover des opulenten Bands «Japanische Holzschnitte (1680-1938)», erschienen Ende 2019 bei TASCHEN. Das Blättern in dem dreisprachigen Wälzer ist ein Spaziergang durch 250 Jahre japanischer Holzschnitt-Geschichte, von den frühen Meistern Ende des 17. Jahrhunderts bis zum Niedergang der Druckgrafik zu Beginn des 2. Weltkriegs. Der über 600 Seiten und fast 6 kg starke Band zeigt 200 Meisterwerke in hervorragender Druckqualität, nach Möglichkeit in Originalgrösse, daher das überdimensionale XXL-Format mit 17 Ausklappseiten für Panoramadrucke.
In dreijähriger Recherche und Sammeltätigkeit hat Kurator Andreas Marks die Arbeiten von 89 Künstlern aus Museen und Privatsammlungen weltweit zusammengetragen. Er bringt dem Leser mithilfe aufschlussreicher, gut verständlicher Texte diese beliebte Kunstform näher, über die man bei uns immer noch erstaunlich wenig weiss.
Die Abbildungen ziehen den Betrachter in Bann: faszinierende Landschaften, Pflanzen und Tiere, subtil erotische Szenen, Schrecken verbreitende Geister und Dämonen, Sumo-Ringer, Kabuki-Schauspieler und Kurtisanen, die zu ihrer Zeit wie Popstars gefeiert wurden. Der über japanische Schauspielerdrucke des 19. Jahrhunderts promovierte, auf ostasiatische Kunst spezialisierte Autor (Uni Bonn und Leiden) leitet seit 2013 u.a. das Clark Center for Japanese Art am Minneapolis Institute of Art. Er hat für den «Japanischen Holzschnitt» nicht nur die üblichen Verdächtigen, sondern auch weniger bekannte Meister ausgewählt. Die Einführungen zu den chronologisch aufgebauten Kapiteln und die Texte zu jedem Werk vermitteln einen tiefen Einblick in eine Kunstform, die mit der Öffnung Japans gegenüber dem Westen in der europäischen Kunstszene einschlug wie eine Bombe.
«Revolution im Sehen»
Bis Mitte des 19. Jahrhunderts, als die japanische Holzschnittproduktion ihren Gipfel erreichte, betrieb Japan eine rigorose Abschottungspolitik und nur mit China, Korea und den Niederlanden Handel. Vier Jahre rang der amerikanische Commodore Matthew Perry vor Edo, dem heutigen Tokio, um die Öffnung des Hafens. 1857 gelang es den Amerikanern schliesslich, Handelsbeziehungen mit Japan zu knüpfen. Die Franzosen schlossen ein Jahr später einen Handelsvertrag mit den Japanern ab.
Der Japonismus, die Begeisterung der Europäer für alles Japanische, hat die westliche Kunst, Literatur, Mode und Design von Frankreich aus wie ein Tsunami überrollt. Das Bild, das man sich von Japan machte, wurde wesentlich durch die Flut an Ukiyo-e-Farbholzschnitten geprägt, die nun Europa regelrecht überschwemmte. Die schattenlosen, flächigen Darstellungen von japanischen Alltagsszenen und Landschaften der traditionellen Holzschnitte zeigten Bilder der «fliessenden Welt» (ukiyo-e), flüchtige Momente mit oft vergnüglichem, sinnlichem Beigeschmack. Van Gogh, Manet, Monet, Gauguin, Degas, Toulouse-Lautrec u.v.a. waren von den Techniken und Formen der japanischen Drucke fasziniert, liessen diese in ihre Kunst einfliessen und malten japanische Sujets und Muster. Der Schriftsteller Edmont de Goncourt brachte die Japanmanie auf den Punkt: «Nicht mehr und nicht weniger als eine Revolution im Sehen der europäischen Völker, das ist der Japonismus; ich möchte behaupten, er bringt einen neuen Farbsinn, neue dekorative Gestaltung und sogar poetische Phantasien in das Kunstwerk, wie sie noch nie selbst in den vollendetsten Schöpfungen des Mittelalters oder der Renaissance existierten.» Die Öffnung gegenüber dem Westen wirkte sich umgekehrt auch auf die Motivwahl und Technik des Holzschnitts in Japan aus.
Welle als Wahrzeichen
Marks Monumentalwerk erlaubt nun einen neuen, fesselnden Einblick in diese Kunst. Er beschreibt den Zeitraum zwischen 1830 und 1852 als produktivste und erfolgreichste Phase des japanischen Holzschnitts, in der er sein höchstes Niveau erreicht. Nie kamen mehr Holzschnitte auf den Markt als um 1850. Ganz oben auf dem Podest steht in dieser Zeit Utagawa Kunisada. Keiner produzierte mehr und mit grösserem finanziellem Erfolg.
Anfangs spezialisierte sich Kunisada auf Entwürfe von Schönheiten und Schauspielern des Kabuki-Theaters, dem damals grössten Segment auf dem Gebiet des Holzschnitts. Durch das vorübergehende Verbot dieser Sujets wurden sie nur noch populärer. Kunisada hinterliess über 16’000 Druckvorlagen, während von Kuniyoshi und Hiroshige, den beiden anderen stilbildenden Meistern des Genres, «nur» je rund 5’000 Entwürfe bekannt sind.
Utagawa Hiroshige fand in der Komposition von Landschaften seinen unübertroffenen Ausdruck. Seine Serie «36 Ansichten des Berges Fuji» zeitigten einen überwältigenden Erfolg. «Die grosse Welle vor Kanagawa», ebenfalls aus der Fuji-Serie, die eigentlich 46 Entwürfe umfasst und den Vulkankegel aus jeder Perspektive festhält, kennt die Welt, sie wurde zum Symbol für japanische Kunst schlechthin und auf unzähligen Souvenirs abgedruckt.
Die durch Hiroshige eingeleitete Blüte des Landschaftsgenres setzte Katsushika Hokusai fort. Anfangs widmete sich der gelernte Holzschneider Schauspieler- und Kriegersujets und der Illustration von Romanen und Gedichtbänden. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts gründete er ein eigenes Atelier und brachte mit grossem Erfolg unspektakuläre, kleinformatige, melancholisch-malerische Landschaftsserien heraus. Um seine 15-bändigen Skizzenbücher, die er «Hokusai manga» nannte, rissen sich die Künstler in Europa. Sie prägten unser Bild des alten Japans. Seine Serie «36 Ansichten des Berges Fuji» zeitigten einen überwältigenden Erfolg. «Die grosse Welle vor Kanagawa», ebenfalls aus der Fuji-Serie, die eigentlich 46 Entwürfe umfasst und den Vulkankegel aus jeder Perspektive festhält, kennt die Welt, sie wurde zum Symbol für japanische Kunst schlechthin und auf unzähligen Souvenirs abgedruckt.
Es stürmt, regnet und schneit
Der Fuji, Wasserfälle, Wasserläufe und Brücken waren Lieblingsmotive der Holzschneider. Zu den besten Arbeiten Hiroshiges, der ein besonderes Faible für die Gestaltung von Regen und Schnee besass, zählt der «Abendschauer über der Ohashi und Atake» (1857) aus den «100 berühmten Ansichten von Edo». Van Gogh war derart von diesem Werk beeindruckt, dass er den Holzschnitt 30 Jahre später im japanischen Stil in Öl kopierte («Brücke im Regen», 1887).
Die nämliche Brücke, japanisch ohashi, brannte über 20mal ab, wurde 1912 aus Eisenfachwerk wiederaufgebaut und 1976 durch eine 170 m lange Hängebrücke aus Stahl ersetzt. In dem Holzschnitt, den ihr Kawase Hasui 1926 widmete («Die Brücke Shin-Ohashi»), überquert eine Rikscha die neue Eisenbrücke, ebenfalls während eines starken Regenschauers. Durch die Verlegung der Szene in die Nacht wird sie durch Hell-Dunkel-Effekte zusätzlich atmosphärisch aufgeladen. Nacht-, Schnee- und Regenszenen sind Hasuis Markenzeichen geworden.
Generell ist die Witterung in der japanischen Druckkunst ein grosses Thema. Es stürmt, regnet und schneit aller Orten, das Wetter erscheint schlechter als in der Realität. Aber es blüht auch gewaltig, nicht nur auf Kirschbäumen; Japan ist stolz auf seine vier Jahreszeiten, die nicht jedes Land in Asien kennt.
Regen, die Kunst des Regenmachens, Regenriten, Regengedichte spielen in der japanischen Kultur, Mythologie und Religion seit je eine bedeutende Rolle, und werden von Beginn an im Holzschnitt thematisiert. Entsprechend seiner starken Differenzierung in der japanischen Sprache, etwa nach Tages-, Jahreszeiten oder Stärke, tritt Regen in unterschiedlicher Varianz im Holzschnitt auf: vom haarfein schraffierten, fast vertikal verlaufenden Mairegen (Samidare) bis zum in kräftigen, schrägen Linienbündeln ausgeführten Starkregen an einem Sommerabend (Yudachi). Er wird traditionell als planparalleler Linienvorhang auf der vordersten Bildebene angebracht und erzeugt, was typisch für den traditionellen japanischen Holzschnitt ist, eine radikale Flächigkeit anstelle eines perspektivischen, atmosphärischen Tiefenraums.
Neue Druckwelle
Vincent van Gogh war ein begeisterter Sammler von Ukiyo-e-Blättern, allein 43 Drucke von Hiroshige brachte er in seinen Besitz. Insgesamt sollen er und sein Bruder Theo 477 japanische Holzschnitte besessen haben. Auch Gauguin war leidenschaftlicher Jäger von Holzschnitten und Mangas, Grafikbüchern, aus Japan.
Nicht immer haben Sammler das Glück, einen Originaldruck zu erwerben. Um bei Hiroshige zu bleiben: Aufgrund der enormen Popularität seiner Werke wurden viele seiner Druckstöcke post mortem kopiert, ohne sie zuverlässig als Kopie zu kennzeichnen, und die beliebtesten Schnitte immer wieder nachgedruckt. Sein Schwiegersohn und Meisterschüler nahm nach seinem Tod den Namen Hiroshige II an, was ebenfalls für Verwirrung sorgt, jener erreichte aber nie die Meisterschaft seines Lehrers. Auch andere Schüler nannten sich nach ihrem Meister, z.B. Kunisada II bzw. III, und spezialisierten sich auf dieselben Themen. Bei Meister Kuniyoshi war das nicht der Fall.
Mit dem Aufkommen der Fotografie geriet der Holzschnitt allmählich in den Hintergrund; zudem war es in Japan verboten, aktuelle Ereignisse abzubilden. Die Zahl der Künstler und ihrer Verleger, die die Drucke in Auftrag gaben und vertrieben, ging stark zurück, bis der Ausbruch des Japanisch-Chinesischen Kriegs 1894 fantasiegestützten Schlachtenpanoramen, Kriegsszenen, satirischen und komischen Holzschnitten vorübergehend neuen Auftrieb verlieh. Doch das mit dem Einzug moderner Reproduktionsverfahren verbundene Sterben der alten Drucktechnik war nicht aufzuhalten.
Shin Hanga
In Europa war die Nachfrage nach alten japanischen Holzschnitten immer noch ungebremst gross. Die Kompositionen, Farben und Bildsprache der Ukiyo-e-Drucke wurden von europäischen Künstlern aufgesogen. Nachschnitte, Nachdrucke und Reproduktionen kamen auf den Markt. Das machten sich japanische Verleger wie Watanabe Shozaburo zunutze.
1907 beauftragte Watanabe den Maler Takahashi Shotei mit der Anfertigung von Entwürfen für Landschaftsszenen im alten Stil und verkaufte die neuen Drucke, japanisch shin hanga, neben alten Originalen und Reproduktionen in einem Antiquitätengeschäft im beliebten Ferienort Karuizawa an westliche Touristen. Damit begründete er Shin Hanga als letztes Aufblühen der japanischen Holzschnittproduktion, bis diese mit Ausbruch des 2. Weltkriegs zum Erliegen kam. Der Verleger knüpfte «bei der Druckherstellung an die höchsten Werte der Vergangenheit» an, schreibt Marks, liess aber die Holzschnitte nicht wie bis anhin als Massenware drucken, sondern, um ihren Wert zu erhöhen, in limitierter Auflage.
Als weiteren Holzschnittzeichner engagierte Watanabe den österreichischen Maler Fritz Capelari, der jahrelang China, Japan, Java bereiste und während des Ausbruchs des 2. Weltkriegs Aquarelle in Japan ausstellte. Capelari kreierte 1915 für Watanabe 12 Entwürfe nach alten Motiven, als erstes wählte er wie Shotei «Regenschirme». Später beauftragte Watanabe japanische Künstler, um die klassischen Sujets des japanischen Holzschnitts – Kabuki-Schauspieler, schöne Frauen und Kurtisanen, Geister und Dämonen, Landschaften, Tiere und Blumen, Krieger und Helden – zu Papier zu bringen.
Andere Verleger machten es ihm nach, der Erfolg gab ihnen recht und der Westen erwies sich weiter als dankbarer Markt. Zu den bemerkenswertesten Künstlern zählen neben Shotei, auch bekannt unter dem Namen Hiroaki, und Hasui Hashiguchi Goyo, Ito Shinsui, Yoshida Hiroshi und Ohara Koson, der seine Werke auch mit Shoson signierte. Ein gutes Geschäft lässt sich mit Shin Hanga immer noch machen. Für einen Druck von Hasui und Konsorten zahlt man heute um 2000 Franken – ob es sich dabei tatsächlich um ein Original handelt, ist die Frage.
Legenden:
1 Kunisada, Rettung Tamemotos durch die Verbündeten des zurückgetretenen Kaisers Sutoku, 1851
2 Kunisada, Der Schauspieler Segawa Kikunojo V als Nonne Myochin, 1852
3 Hokusai, Taucherin, von einem grossen und einem kleinen Kraken lustvoll umspielt, 1814
4 Hokusei, Der Kirifuri-Wasserfall am Berg Kurokami in der provinz Shimotsuke, 1832
5 Hiroshige, Gebirgsschlucht im Winter, 1842
6 Kuniyoshi, Mitsukuni trotz dem von Prinzessin Takiyasha heraufbeschworenen Skelettgespenst, 1845/46
7 Capelari, Regenschirme, 1915
8 Kotondo, Morgenfrisur, 1931, Kiyoshi, Pupillen, 1931
9 Hasui, Die Brücke Shin-Ohashi, 1926
10 Hirsohi, Kumoi-Kirschbaum, 1926
11 Cover, Japanische Holzschnitte, TASCHEN 2019
Die Abbildungen aus «Japanische Holzschnitte» hat der Verlag TASCHEN zur Verfügung gestellt.
TASCHEN
Japanische Holzschnitte (1680–1938)
Andreas Marks
Hardcover, 29 x 39,5 cm, 622 Seiten
Mehrsprachige Ausgabe in Deutsch, Englisch, Französisch
€ 150 / CHF 200
taschen.com