«Jörg Fauser: Rohstoff Elements. Sprachagent der Tristesse»
Von Ingrid Isermann
Es ist nicht unbedingt der Stoff, aus dem die Träume sind, hart an der Realität, rauh und ungeschliffen, doch Jörg Fausers Gedichte und Prosa lohnen eine Wiederentdeckung. Er sah sich als «Agent der Tristesse und Agonie». Seine Texte und Reportagen aus den 70er Jahren fesseln, gerade in aktuellen Zeiten der Fake News. Ein Journalist, der erfindet, verrät seinen Auftrag und ein Schriftsteller, der nur berichtet, verpasst die sprachlichen Möglichkeiten der Imagination.
Das ungestüme, wilde Leben Jörg Fausers (1944-1987) spiegelt sich bereits in seinen frühen Gedichten und experimentellen Prosatexten. Da lebt jemand das, was er schreibt und als taumelnde Existenz in die Welt hinausschreit: brutal, krass, krude und klug.
Fausers Heros, die Ikonen der Beat-Generation Jack Kerouac und William S. Burroughs, sind in seinen Texten von Beat bis Cut-up unmittelbar spürbar. Ob «Treffpunkt Alfa Centauri» oder «Drink mit Harry Belafonte» oder «Mister Go goes kaputt», diese packenden Zeilen lassen einem nicht mehr los, sie erzählen von einem wilden, authentischen Leben, in das man eintauchen kann. Denn: «The Beat Goes On».
In der neu zusammengestellten Auswahl mit einem stimmigen, reflexiven Nachwort von Jürgen Ploog findet sich vielschichtig der Hunger einer ganzen Generation: «Man findet sie überall zwischen Kalkutta und Saigon, Schriftsteller, die nie eine Zeile geschrieben haben, Schmuggler, die nie etwas zu schmuggeln hatten, Agenten ohne Spesenkonto und ohne Zukunft».
Zum Alex nach Mitternacht
Die Charles-Bronson-Imitation aus Knautschlack
brütet über einer Cola in der roten Sonne
überbelichteter Vorstadt-Träume; erledigte Rivalen,
klatschende Klöten, Kadaver am Galgen, letzter
Showdown,
triefende Mösen, absolutes Finale
in Technicolor.
Der blondgefärbte schwule Itaker mit den lila Denims
gibt es endgültig auf, Mick Jagger nachzuäffen,
Mann ohne Publikum, Publikum
ohne Mann.
Pass auf, dass du im Lokus nicht ausrutschst
und dir deinen
parfümierten Schwanz brichst.
Dieses miese Loch, Bastard
eines desolaten Hippie-Sommers, sag dem letzten
Taxifahrer gute Nacht, sweet Mary,
vor die Wahl gestellt zwischen deinen
abgekauten Titten und dem Nichts
wähle ich deine Titten.
Die Einsamkeit macht uns alle fertig, sagt Klaus
und drückt Janis Joplin, Whisky und »Me and Bobby
McGee«,
der Joker rattert, Maschinengewehr, Baader geschnappt,
chant d’amour et de la mort, so’n Mordsdusel,
der Apparat spuckt lauter Markstücke aus
und wir bestellen noch mal
ein Magengeschwür.
Alles was da hängt
ist Fleisch.
8/1972; 3/1973
Charlie und Harry
Trüber Sommernachmittag in Fat City,
sie hockten auf Harrys Bude und kippten Bier,
irgendwo im Hinterhof stieg eine Teenager-Party
und die Beatles leierten einen ihrer total
schwachsinnigen Songs runter,
»Lucy in the sky with diamonds«
oder sonst einen abgedroschenen Heuler.
Son abgedroschener Heuler, sagte Charlie,
aber die Miniröcke sind wohl immer noch scharf darauf.
Stimmt, sagte Harry, macht einen ganz fickrig.
Sex Sex Sex, sagte Charlie und warf die leere Dose
in den Abfalleimer,
bei dir was los?
Sex, sagte Harry, was ist das?
Shit, sagte Charlie, ich fang wohl an kirre zu werden,
ich bin so heiß dass ich Löcher in die Matratze brenne,
lauf drei Wochen mit ’nem Steifen von hier bis Timbuktu
rum,
aber wenn ich endlich was zwischen den Fingern hab
wird mir einfach alles fad, fad –
irgendwie rentiert sich der Aufwand nicht,
man könnte genauso ’nen Emmentaler pimpern
wenn du weißt was ich meine –
klar, sagte Harry, Emmentaler
mit rotem Pfeffer oder Nudelwalker von hinten
und ’ne Stefan-George-Erstausgabe ums ritzy zu machen,
oder einfach fürn Heiermann ’ne Gastarbeiterin
in der Anlage hinterm Interconti, und samstagabends
all die kleinen brühwarmen Homos die im ZDF
über die Mattscheibe spritzen, ist schließlich
alles ’n Loch, und alles leer, immer gewesen –
Shit, sagt Charlie, von hier aus kann man direkt rübersehn,
und sie standen am Fenster und glotzten rüber,
die Beatles heulten auf höchster Lautstärke,
die Teenager kreischten und ließen ihre Beinchen sehn,
die Schmeißfliegen legten Eier,
sie tranken ihr Bier,
dann ging Charlie zur Spätschicht
und Harry versprühte eine Ladung Flit.
Jörg Fauser wurde 1944 bei Frankfurt am Main geboren. Nach Abitur und abgebrochenem Studium lebte er längere Zeit in Istanbul und London. Er arbeitete u.a. als Aushilfsangestellter, Flughafenarbeiter, Nachtwächter. Ab 1974 widmete er sich hauptberuflich dem Schreiben. Seine Romane, Gedichte, Reportagen und Erzählungen sind eine Ausnahmeerscheinung in der deutschen Literatur. Jörg Fauser verunglückte 1987 in der Nacht nach seinem Geburtstag tödlich bei München auf der Autobahn.
Jörg Fauser
Rohstoff Elements
Mit einem Nachwort von Jürgen Ploog
Coverfoto von Philipp Keel «Swans», 2003
Diogenes, Zürich 2019
Hardcover Leinen
320 Seiten
CHF 32. € 24. (D). € 24.70 (A).
978-3-257-07035-4
«Luisa Famos: Unterwegs / In Viadi»
Ihre Texte sind geprägt von einer fliessenden spirituellen Energie. Wenn Philosophie Theorie ist, dann sind diese Auslotungen von Wahrheiten ihre Praxis. Keine neunzig Gedichte hat die rätoromanische Dichterin (1930-1974) verfasst, aber genug, um ihre poetische Handschrift zu verankern. 1960 erscheint ihr erster Gedichtband «Mumaints» (Augenblicke), kurz nach ihrem Tod 1974 der zweite Band «Inscunters» (Begegnungen). Und vielleicht ist der helle Nachruhm nicht zu trennen vom tragischen frühen Tod der Dichterin mit 44 Jahren. Diese Gedichte in sorgfältiger Ausstattung sind ein Geschenk, absolut zauberhaft!
Luisa Famos entwirft stille, klare Bilder: das wogende Ährenfeld, die schwirrenden Schwalben, der ferne Sternenhimmel. Für einen kurzen Moment bleibt die Zeit stehen, offenbart sich ein Augenblick der liebenden Vereinigung mit einem Du, sei es Geliebter oder Gott. Umgehend aber löst sich diese Begegnung auf, mit dem Schnitt der Ernte bei den Ähren, dem Vergehen. Von den Schwalben zeugen nur Schatten über der weissen Mauer. Es sind diese minimalen bildhaften Verschiebungen, die Luisa Famos’ Gedichte Schritt um Schritt auszeichnen. Die Sterne leuchten vom Himmel, die Dichterin fängt sie ein und erkennt sie von unten als Fluors da la terra – Blumen der Erde.
Ihre Texte zu lesen, ist wie einen Baum zu umarmen.
«Unterwegs / In viadi» versammelt die Gedichte der beiden Bände «Mumaints» und «Inscunters» in den neuen Übersetzungen und mit einem Nachwort von Luzius Keller.
DER TAG BRICHT AN
Mit blossen Armen
Leicht und leise
Umfängt
Der Tag
Die Nacht
Sternketten
Erlöschen
Versinken
In den weissen
Gewölben
Des Himmels
Über den Horizont
Kommt die Sonne zur Welt.
ICH ging
Durch tiefdunkle Nacht
Auf der Suche nach mi selbst
Laut
Rief ich
Meinen Namen
Ich lief
Mit allen Winden
Ich suchte mich
Im stummen
Schwarzblau der Tannen
Im Sang
Des Bachs
Im Aufgehen
Des neuen Tags
Im Untergehen
Der Sonne
Auf all euren Gesichtern
Forschte ich nach mir
In eurem Lachen
In euren Tränen
In eurer Falschheit
In eurer Ehrlichkeit
Die Nüchternen
Die Trunkenen
Fragte ich
Wer ich sei
Zu Gott brachte ich
Die Garben meiner Angst
Und das Blut meiner Wut
Auf dem Altar entfache ich Feuer
Doch er schweigt
Da umfasste ich
Mein Herz
Mit beiden Händen
Auf dass es nicht zerbreche
Und im tiefsten Grund
Meiner Wünsche
War ich
Allein.
Luisa Famos (1930–1974), geboren in Ramosch im Unterengadin. Ausbildung zur Primarlehrerin. Sie unterrichtete in Graubünden und im Kanton Zürich und war Moderatorin der ersten rätoromanischen Fernsehsendung im Schweizer Fernsehen. Zusammen mit ihrem Mann und den beiden Kindern längerer Aufenthalt in Venezuela und Honduras. Nach der Rückkehr in die Schweiz wohnhaft in Bauen und Ramosch. Ihre zwei Gedichtbände wurden ins Deutsche, Französische und Italienische übersetzt. Gedichte aus dem Nachlass mit Übersetzungen ins Deutsche sind 2004 erschienen.
Luisa Famos
Unterwegs / In viadi
Gedichte Rätoromanisch und Deutsch
Übersetzt und mit einem Nachwort von Luzius Keller
Limmatverlag, Zürich 2019
144 Seiten, Leinen bedruckt, gebunden
CHF 29. € 25.
ISBN 978-3-85791-874-2