Das altehrwürdige Eton-College, Kaderschmiede für den gesellschaftlichen Aufstieg, Bild: © PD
Schüler des Eton-College machen ihren Weg, Bild: © PD
«Findet der Klassenkampf auf Bühnenbrettern statt?»
Von Marion Löhndorf
Das ewige Thema der Briten findet eine neue Spielwiese: Die traditionelle englische Klassensystem existiere nicht mehr, wird dieser Tage gern behauptet. Auf der anderen Seite nimmt der Diskurs – und das Gerede – darüber kein Ende. Derzeit gilt das öffentliche Interesse den Schauspielern und Pop-Stars aus besseren Kreisen.
Über die Klassengesellschaft wird in England immer noch und unter immer neuen Prämissen diskutiert. Allein dies liesse die Vermutung zu, dass es doch nicht so weit her sei mit dem Ende des Klassendenkens in England, auch wenn das Land gesellschaftlich und ethnisch durchlässiger geworden ist. Nachdem extensiv in den Medien bemängelt wurde, dass es vor allem jene Politiker den Weg an die Spitze schaffen, die aus privilegierten Verhältnissen stammten oder doch wenigstens exzellente und teure Schulen besuchten – wobei das eine das andere in den meisten Fällen bedingt – richtet sich seit einiger Zeit die Aufmerksamkeit auf die kreative Klasse, die Popstars, die bildenden Künstler, aber auch eine junge Generation sensationell erfolgreicher britischer Schauspieler. Berichte darüber gehen derzeit durch alle Medien mit überraschend übereinstimmendem Tenor: Das Kulturleben, eine bisher weitgehend klassenlose Zone, «gentrifiziere» sich zunehmend und drohe, die Kinder der Arbeiterklasse ins Abseits zu drängen.
Eton-Eminenzen
Viele englische Stars aus der Generation der über 50-jährigen sind noch an staatlichen Schulen unterrichtet worden, darunter Colin Firth, Michael Gambon, Ian McKellen und Patrick Stewart. Dass Schauspieler wie Simon Russell Beale (53) und Ralph Fiennes (51) Privatschulen besuchten oder, wie Beale, einen Cambridge-Abschluss in der Tasche haben, erscheint in diesem Zusammenhang als Ausnahme. Schon die Tatsache, dass die Schulen bekannter britischer Künstler und Schauspieler überhaupt jeweils namentlich in jeder Kurzbiographie – wie auf Wikipedia – erwähnt werden, speziell, wenn sie als privilegiert gelten, ist schon ein Indikator für die Sensibilität, die das Thema hervorruft. Wer sich für den Werdegang deutschsprachiger Schauspieler interessiert, erfährt nicht unbedingt als Erstes die Namen der Schulen, die sie besuchten.
Die «Times» unternahm eine kleine Studie darüber, deren Ergebnisse unlängst zu lesen waren. Unter hundert mit Auszeichnungen gefeierten englischen Schauspielern, die nach 1957 geboren wurden, genoss ein überproportional hoher Prozentsatz eine Ausbildung an Privatschulen, erklärt das Blatt. Die Chancen, in Grossbritannien als Schauspieler mit einem Working Class-Hintergrund erfolgreich zu sein, haben sich, so die Behauptung, in den vergangenen 30 Jahren reduziert.
Die links-liberale Zeitung «Guardian» hatte im November 2012 notiert: «Wenn man die lange, hypnotische Liste der Eton-Eminenzen liest – die bis zur Gründung des Colleges im 15. Jahrhundert zurückreicht -, gewinnt man den Eindruck, dass das öffentliche Leben in Grossbritannien vor allem aus Etonschülern im Gespräch miteinander besteht – eine Schule von 1300 Jungen im Alter von 13 bis 18 Jahren». Auch die Schauspiel-Stars Dominic West («The Wire»), Hugh Laurie («Dr. House») und Damien Lewis («Homeland») absolvierten Englands berühmteste Privatschule, die von Premierminister David Cameron, Londons Bürgermeister Boris Johnson und den Prinzen William und Harry frequentiert wurde.
Im Jahr 2012 standen zwei weitere «OEs» – «Old Etonians» auf der Shortlist der Bafta-Auszeichnug für Nachwuchsstars: Tom Hiddleston und Eddie Redmayne, beide 32 Jahre alt und ebenfalls Cambridge-Absolventen. Und immer mehr Schauspielernamen fallen im Fahrwasser dieser Argumentation, die eben auch Modethema ist. Neuerdings wird Chiwetel Ejiofor, Star des Oscar-nominierten Films «12 Years a Slave», ebenfalls in diesem Zusammenhang genannt: der 36-jährige in London geborene Sohn wohlhabender nigerianischer Eltern, wurde in diesem Jahr für den Oscar als bester männlicher Hauptdarsteller nominiert. Er verbrachte fünf Jahre am Dulwich College, einer Privatschule für Jungen mit jahrhundertelanger Tradition. Unter den Nachwuchs-Schauspielerinnen, die eine Privatschule besuchten waren darunter die 1989 geborene Juno Temple, Carey Mulligan (28), und Rebecca Hall (31), die Tochter des Regisseurs und ehemaligen Leiters des National Theatre, Peter Hall. Die mit vielen Auszeichnungen geehrte Helena Bonham Carter, Jahrgang 1966, machte ihren Schulabschluss an der Eliteschule Westminster.
Schlechtere Startbedingungen
Das «Outing» der Schauspieler und Schauspielerinnen, die an Privatschulen unterrichtet wurden, ist in der Regel mit kritischen Untertönen versehen. Zum einen richtet sich die Kritik gegen die schlechteren Startbedingungen für Kinder aus ärmeren Verhältnissen. So vertraute der weniger bekannte Schauspieler Stephen McGann, offenbar kein Privatschüler, der «Times» an: Wer ein «Schmuddelkind aus einer Sozialbausiedlung» sei, habe heute weitaus schlechtere Chancen, als Schauspieler erfolgreich zu sein als noch in den fünfziger Jahren – eine Ansicht, die Jack Malvern und Tom Knowles in ihrem Times-Artikel teilen. Die Top-Schulen bieten die besten Möglichkeiten für Bühneninszenierungen und geben Schülern früh die Möglichkeit, ihre Fähigkeiten zu erproben.
Ausserdem seien, so Alistair Smith, stellvertretender Chefredaktor der Bühnenzeitschrift «The Stage», die Kosten einer Schauspielerausbildung sehr hoch, wenn man kein Stipendium habe. Angehende Bühnenkünstler aus wohlhabenden Familien seien da klar im Vorteil. Der Schauspieler Brian Cox, Jahrgang 1946 und ohne illustren Bildungs-Stammbaum, sagte in einem Interview: «Ich finde es furchtbar, dass junge Leute heute nicht mehr die Möglichkeiten haben, die ich hatte. Es ist, als ob wir ein wesentliches Element unseres kulturellen Lebens ausgeschlossen hätten, und ich habe das Gefühl, dass das sehr gefährlich ist».
«Posh-Bashing» ist Mode
Dass der Pool für talentierten Nachwuchs gesellschaftlich anscheinend immer begrenzter wird, bereitet manch einem, der hinter den Theaterkulissen das Sagen hat, Sorgen. «Ein Ausdünnen des sozialen Spektrums ist wirklich bedenklich und besorgniserregend“» sagte der künstlerische Leiter des Shakespeare’s Globe Theatre, Dominic Dromgoole, dem «Daily Telegraph» in diesem Zusammenhang. Darum gründete Dromgoole die Theatergruppe Globe Young Players für Kinder jeglicher Herkunft. Bei der Auswahl der Kinder wird bewusst auf eine stärkere soziale Durchmischung gelegt.
Auf der anderen Seite sind Berichte über die mit dem goldenen Löffel im Mund geborene Schauspielergeneration nicht selten mit Kritik an den Privilegierten selbst verbunden, als habe diese ihren Erfolg vor allem ihrer Herkunft zu verdanken. Viele der auf diese Weise mehr oder weniger subtil Gemobbten reagieren auf immer wiederkehrende Interviewfragen darüber inzwischen allergisch. «Sherlock»-Star Benedict Cumberbatch drohte gar, England zu verlassen. Der «Guardian» argumentierte daraufhin, «Posh-Bashing» sei vollkommen in Ordnung, und liess seine Leser abstimmen, die sich in grosser Mehrheit auch damit einverstanden erklärten, den Fall aber mit Hunderten von Wortmeldungen heftig erörterten. Es gab schon immer poshe Popstars, Künstler und Schauspieler, die an Westminster (John Gielgud, Peter Ustinov) und Harrow (Edward und James Fox) ausgebildet wurden. Für das Ende des Klassensystems spricht das hingegen nicht.
«Schauspielhaus Zürich:
Ein musiktheatralischer Spaziergang mit Robert Walser»
Von Ingrid Isermann
1920 unternahm Robert Walser (1878-1956) eine dreitägige Wanderung von Biel nach Zürich, 120 km, um an eine Lesung des Lesezirkels Hottingen zu gelangen, an die er eingeladen war. Der Komponist und Regisseur Ruedi Häusermann nahm diese Wanderung zum Anlass, in die Textlandschaften Robert Walsers einzutauchen.
«Mir fehlt etwas, wenn ich keine Musik höre, und wenn ich Musik höre, fehlt mir erst recht etwas. Dies ist das Beste, was ich über Musik zu sagen weiss», so Robert Walser. Häusermann begibt sich nun auf eine musiktheatralische Reise ausgewählter Prosatexte aus dem umfangreichen Werk des in Biel geborenen Dichters. Gemeinsam mit einem Streichquartett und drei Schauspielern wird den genauen Beobachtungen Walsers auf den Grund gegangen, die Naturschönheiten bewundert und Reflexionen und Erkenntnissen des Dichters Raum gegeben.
Das Bühnenbild spielt dabei eine nicht unwesentliche Rolle, man sieht zuerst die geschlossene Bühnentür, davor ein kleiner Tisch mit Stuhl und Leselampe, dann erweitert sich der Bühnenraum mit Baumstämmen und verschiedenen Leseplätzen, untermalt von eigens für das Stück von Häusermann komponierten Liedern für das Streichquartett. Der Komponist liess sich von den Aussagen Walsers wie «Gleichzeitig scherzen und ernsthaft sein» inspirieren und anleiten.
Der Lesezirkel Hottingen liess Walser dann aber trotz Einladung nicht selbst lesen, sondern fand in aller Eile einen Schauspieler, der die Texte Walsers vorlas, der in der ersten Reihe unerkannt im Publikum sass. Man entschuldigte Walser als krank und niemand nahm weiter Notiz von ihm.
Walser schien auf seine Zeitgenossen einen etwas skurrilen und eigenwilligen Eindruck gemacht zu haben, die durch seine eigenen Aussagen bekundet wurden: «Ich wohne in einem alten Haus, die Eleganz ist mir Feind. Wenn ich bin, was ich bin, bin ich mit mir zufrieden». Oder: «Wenn alles neu und ordentlich ist in der Welt, will ich nicht mehr leben, dann morde ich mich selbst».
Die Textauswahl von Häusermann verleitet zum Assoziieren und Träumen, wozu Walser bemerkte: «Der Träumer ist geradezu ein raffinierter Könner». Die einfühlsame Begleitmusik hob die Texte Walsers ins Dreidimensionale und folgerichtig wurden die Textpassagen zitiert: «Ich liebe die Sterne,… über mir ist der Himmel, solange ich lebe, werde ich zu ihm aufschauen».
«Die Zeit muss mir gleichgültig sein… – wir sind vielleicht alle etwas nervös», heisst es mit Megaphon mehrstimmig geflüstert.
Zum Schluss kommt eine Elogie über den Schnee, über den Walser zärtlich sinniert und philosophiert, und der ihn zum Schluss seines Lebens zudeckte. Das Publikum applaudierte mit Enthusiasmus für den nachdenklichen, besinnlichen und schönen Abend!
Robert Walser
Eine musiktheatralische Durchwanderung
Von Ruedi Häusermann
Uraufführung
Schauspielhaus Zürich, Premiere 15. März 2014
Mit Klaus Brömmelmeier, Michael Neuenschwander, Herwig Ursin
Sara Hubrich (Violine), Benedikt Bindewald (Viola), Josa Gerhard (Viola),
Christoph Hampe (Cello).
Aufführungsdaten: www.schauspielhaus.ch