FRONTPAGE

«Die Malerin Helen Dahm, Hugo Weber im Dialog mit Giacometti, John Updike»

Von Ingrid Isermann

 

Die in Kreuzlingen geborene Malerin Helen Dahm (1878-1968) gehört zu den expressionistischen Pionierinnen der Schweizer Moderne.  Als erste Frau erhält sie 1954 den Kunstpreis der Stadt Zürich. Die aktuelle Ausstellung «Helen Dahm – Ein Kuss der ganzen Welt» und Publikation werden die Rezeption ihres Schaffens mit zahlreichen nie gezeigten Leihgaben erweitern.

 

Helen Dahms Schaffenszeit ist sehr lang und vielseitig. Ihre ersten erhaltenen Arbeiten stammen von 1898, die letzten aus ihrem Todesjahr 1968. Stets beschritt die Künstlerin neue Wege und experimentierte künstlerisch mit Form, Material und Motiven. So spiegelt sich in ihrem Schaffen beinahe ein Jahrhundert Kunstgeschichte.

Die eigenwillige Thurgauerin nimmt in München künstlerische Impulse wie des «Blauen Reiter» auf und wird in Zürich Mitglied des Werkbundes.
Zeitlebens traf Helen Dahm radikale Entscheidungen, um ihren Weg als Frau und Künstlerin zu verfolgen. 1906 ging sie gemeinsam mit ihrer Freundin in die damalige Kunstmetropole München, dort lernte sie unter anderen Gabriele Münter, Wassily Kandinsky sowie andere Künstlerinnen und Künstler des «Blauen Reiter» kennen. Diese Begegnungen und die Mitgliedschaft in der Künstlervereingung Walze, wie überhaupt das Kunstgeschehen in den turbulenten Jahren 1906 bis 1913, prägten Dahms eigenes Schaffen entscheidend.

Zurück im akademisch und männlich geprägten Zürcher Kunstbetrieb, entstanden kolorierte Holz- und Linoldrucke, die Landschaften, Porträts und tanzende Frauenakte zeigten. Anfang der 1920er Jahre zog Helen Dahm mit ihrer Lebensgefährtin Else Strantz in ein Bauernhaus nach Oetwil am See im Zürcher Oberland. Dieser Ausbruch in die Natur entsprach nicht nur ihrem Wesen, sondern auch dem Drang der damaligen Künstlergeneration, Inspiration und Freiheit ausserhalb der Städte zu suchen, sei es in Murnau oder in Künstlerkolonien wie Rüschlikon, Worpswede oder Ascona. Helen Dahm suchte in der Natur des Schweizer Voralpenlandes nach einem naturnahen Leben und einem authentischen künstlerischen Ausdruck.
1938 führte sie ihre Sinnsuche bis nach Indien, wo sie in einem Frauen-Ashram lebte, filigrane Skizzenbücher mit Zeichnungen füllte (die in der Ausstellung zu sehen sind) und ein Grabmal mit Fresken ausgestaltete. Zurück in Oetwil beschritt sie immer neue künstlerische Wege und erhielt schliesslich späte Anerkennung: 1954 wurde ihr als erster Frau der Kunstpreis der Stadt Zürich verliehen. Doch auch danach experimentierte Helen Dahm stets weiter und begann im Alter von knapp 80 Jahren, abstrakt zu malen.
Bis heute blieb Helen Dahms Werk unterschätzt. Ihr Landleben und ihre spirituelle Suche, die sich in religiösen Motiven niederschlug, hatten eine einseitige Wahrnehmung und Schubladisierung ihrer Bilder zur Folge. Das Ausstellungs- und Buchprojekt versucht, eine neue Wahrnehmung der Werke Helen Dahms zu erreichen. Abgelöst von der äusserst spannenden Lebensgeschichte ihrer Schöpferin, halten die Werke dem kunstgeschichtlichen Vergleich mit Zeitgenossen stand und weisen bisweilen visionär in die Zukunft. Malerei war für Helen Dahm immer auch ein Spiegel der Seele.
Ausstellungen
Das Kunstmuseum Thurgau und das Helen Dahm Museum in Oetwil am See nahmen den 50. Todestag von Helen Dahm zum Anlass für eine gemeinsame Retrospektive auf die Spuren dieser beeindruckenden Künstlerin, die mit 78 Jahren noch vor Schaffenskraft sprühte: «Ich fange jeden Tag an, als wäre es der erste und zugleich der letzte…».

 

Die Retrospektive im Kunstmuseum Thurgau zeigt das Werk von Helen Dahm unter neuen Gesichtspunkten und hat zum Ziel, ihm den gebührenden Stellenwert in der Kunstgeschichtsschreibung einzuräumen. Insgesamt sind rund 170 Werke zu sehen. Bei der bisherigen Rezeption der Künstlerin stand ihr dramatischer und ereignisreicher, sehr aussergewöhnlicher Lebensweg oft im Vordergrund. Vielfach wurden ihre Bilder dadurch zu sehr psychologisiert und beinahe pathologisiert.
Darüber hinaus standen insbesondere ihre christlichen Motive einer breiten Anerkennung im Wege. Der Fokus wird nun von der bewegten Lebensgeschichte hin zum Werk gelenkt.
Die Ausstellung präsentiert Dahms Schaffen von 1898 bis 1968 mit teilweise bisher noch nie gezeigten Werken: insbesondere Arbeiten aus der Zeit zwischen 1906 und 1920 sowie das Spätwerk sind mit bisher unbekannten Arbeiten vertreten.
In der Begleitpublikation werden Helen Dahms Gemälde von Blumen, Gärten, Stillleben und der Voralpenlandschaft des Zürcher Oberlandes werden in Bezug zu vergleichbaren Werken von Ferdinand Hodler, Paul Cézanne, Gabriele Münter, Paula Modersohn-Becker und Emil Nolde gesetzt.

 

Das Projekt und die Publikation entstanden in Zusammenarbeit mit dem Helen Dahm Museum in Oetwil am See. Dort wurde ebenfalls am 2. September 2018 die Ausstellung «Ich – Selbst – Helen Dahm» eröffnet: Diese Ausstellung wird sich auf die Person Helen Dahm konzentrieren und hauptsächlich Selbstdarstellungen und Werke in Bezug zum Lebensmittelpunkt Oetwil am See zeigen.

 

Die Leihgaben für die Ausstellung im Kunstmuseum Thurgau stammen unter anderem aus der Kunstsammlung der Stadt Zürich, aus dem Kunsthaus Zürich, von der Graphischen Sammlung der ETH Zürich, vom Museum für Gestaltung Zürich, Kunstgewerbesammlung, ZHdK, vom Kanton Zürich und vom Museum Allerheiligen Schaffhausen.

 

«Helen Dahm – Ein Kuss der ganzen Welt»
Ausstellung und Publikation des Kunstmuseums Thurgau in Kooperation mit dem Helen Dahm Museum in Oetwil am See
2. September 2018 – 25. August 2019.

www.kunstmuseum.ch

Veranstaltungen im Rahmen der Ausstellung:

März 2019, jeweils 14 –16 Uhr, Frauen-Kunst-Club an vier Nachmittagen zum Werk von Helen Dahm. Detailprogramm unter www.kunstmuseum.ch, Anmeldung erforderlich: sekretariat.kunstmuseum@tg.ch oder unter 058 34510 60.

März 2019, «Jacques Ritz kommentiert Helen Dahm – eine theatralische Führung» mit der Schauspielerin Mirjam Hoffmann.
Sa 16. März, 19.30 Uhr/So 17. März, 11.30 Uhr/Di 19. März, 19.30 Uhr
Do 9. Mai 2019, 19 Uhr, «Die SAFFA 1928 und ihre Bedeutung für die Frauen in der Schweiz», Referat von Sonja Scherer, Präsidentin Bürgschaftsgenossenschaft SAFFA

jeden Sonntag, 15 Uhr: Öffentliche Sonntagsführungen zu wechselnden Themen (Geschichte, Kunst und Gärten).

jeweils am Mittwoch: Museum für Kinder: Detailprogramm und Daten unter www.museum-fuer-kinder.tg.ch

 

 

«Ein Regentropfen wird zum Diamant, wenn die Sonne ihn trifft. Ich fange jeden Tag an, als wäre es der erste und zugleich der letzte».

Helen Dahm

 

Publikation:

Helen Dahm
Ein Kuss der ganzen Welt

Herausgegeben von Stefanie Hoch,

Markus Landert und Regula Tischhauser.

Mit Beiträgen von Sarah Elser, Hanna Gagel, Stefanie Hoch,

Markus Landert, Sandi Paucic und Regula Tischhauser

Scheidegger & Spiess, Zürich 2018

Gebunden, 216 Seiten, 258 farbige, 79 sw Abbildungen

22.5 x 28 cm

CHF 65. € 58.
ISBN 978-3-85881-612-2
In Zusammenarbeit mit dem Kunstmuseum Thurgau und dem Helen Dahm Museum, Oetwil am See

 

 

«Die Leichtigkeit des Zufalls»  
Hugo Weber im Dialog mit Alberto Giacometti
 

Der Plastiker und Maler Hugo Weber (1918–1971) war der einzige Schweizer Künstler, der am amerikanischen Abstrakten Expressionismus der späten 1940er- bis frühen 1960er-Jahre teilhatte. Nach seiner Ausbildung in Basel und Paris, wo er u.a. Alberto Giacometti kennenlernte, studierte er Kunstgeschichte, Philologie und Philosophie an der Universität Basel.

 

1946 wurde er von László Moholy-Nagy an das Institute of Design am Illinois Institute of Technology in Chicago berufen: eine Zäsur, die ihm in den frühen 1950er-Jahren den Durchbruch als Künstler in den USA ermöglichte. Es folgte eine rege Lehrtätigkeit, und seine Werke wurden regelmässig in grossen Galerien ausgestellt, so beispielsweise bei Betty Parsons in New York.

 

Die Publikation erkundet neben Webers Biografie vor allem seine Auseinandersetzung mit Alberto Giacometti. Mit Webers Fotografien aus Giacomettis Pariser Atelier und mit Briefen an seine Freundin Carola Giedion-Welcker dokumentiert dieses Buch die Beziehung der beiden Künstler. Die Gegenüberstellung von einzelnen Arbeiten macht Giacomettis zeitweilig starken Einfluss auf Webers Schaffen deutlich. Webers Text «Thinking back to Alberto Giacometti» (1966) wird hier erstmals in einer englischen und einer deutschen Fassung integral faksimiliert.

«Man sollte wissen, weshalb man arbeitet und für wen. Giacometti behilft sich, indem er behauptet, er arbeite nur für sich, seine jetzige Arbeit sei ein ganz subjektives Anliegen. Als Vorwand oder Arbeitshypothese gibt es ihm eine gepanzerte Entschiedenheit, die ich grossartig finde».

Hugo Weber an Carola Giedion-Welcker, 10. August 1944.

 

 

Die Leichtigkeitt des Zufalls

Hugo Weber im Dialog mit Alberto Giacometti

Herausgegeben von Gabriele Lutz und Stephan Kunz.

Mit einer Einführung von Gabriele Lutz, Texten von Hugo Weber
und einem Vorwort von Stephan Kunz
Scheidegger & Spiess, Zürich 2018
Broschiert, 144 Seiten, 103 farbige

und Duoton-Abbildungen
17 x 23 cm
CHF 39. € 38.
ISBN 978-3-85881-608-5

In Zusammenarbeit mit dem Bündner Kunstmuseum, Chur
Stephan Kunz (*1962), seit Herbst 2011 Direktor am Bündner Kunstmuseum Chur. Davor langjähriger Kurator und stellvertretender Direktor des Aargauer Kunsthauses Aarau.

Gabriele Lutz, Kunsthistorikerin, freischaffende Kuratorin und Kunstpublizistin. 1994–2008 Galeristin in Zürich.

 

 

 

«John Updike – Schriften»

 

Keine staubtrockene Lektüre: John Updike hat nicht nur fast 30 Romane geschrieben, sondern auch zahlreiche Essays, die von Kierkegaard, Hemingway, dem Golfspiel oder «Zehn einschneidenden Momenten in der Geschichte der amerikanischen Libido» handeln. Er hat für renommierte amerikanische Magazine wie für den «The New Yorker» Texte über Kunst verfasst, von denen nun eine ausgezeichnete Auswahl anlässlich des 10. Todestags erstmals in deutscher Sprache vorliegt.

 

John Updike gilt als Vermittler zwischen europäischer und amerikanischer Kunst. Ob Vermeer oder Singer Sargent, Monet oder Hopper, Updikes präziser Blick auf wichtige Details, würdigt anschaulich Künstler und ihre Werke, wie anhand der Skulpturen Riemenschneiders spätgotische Gefühlswelten und durch die Grafiken van Goghs die Tragik dieses unglücklichen Genies oder mit Richard Estes flirrende Momente der Grossstadtenergie vermittelt werden.

Ob Updike sich über schlechte Kunst mokiert, Material, Technik und gesellschaftlichen Kontext bei Cranach und Pieter de Hooch analysiert, seine anregende Begeisterung und Empathie sind mitreissend. Die Kritiken, die Updike für verschiedene Zeitschriften und Kunst-Magazine von 1979 bis 2008 verfasst hat, beeindrucken durch ihre aktuelle Zeitgenossenschaft. Auch wichtige Ausstellungen im «Metropolitan Museum of Art» in New York City und im «Museum of fine Arts» in Boston kommen zur Sprache, Mega-Ereignisse in den grössten Kunstmuseen der USA. Ergänzend zu Updikes Texten sind jeweils auch einige der beschriebenen Werke abgebildet. Ein besonderes Lesevergnügen, in diese erhellenden Texte einzutauchen.

 

 

John Updike wurde 1932 als Sohn eines Lehrers und Diakons in Reading/Pennsylvania geboren. 1950 erhielt er ein Stipendium zum Studium am Harvard College, Hauptfach Anglistik. 1953 heiratete er die Kunststudentin Mary Entwstle Pennington. Von 1955 bis 57 war Updike festangestellter Redakteur bei dem Magazin «The New Yorker», danach veröffentlichte er als freier Mitarbeiter Erzählungen sowie literarische Kritiken. 1957 zogen die Updikes nach Ipswich im neuenglischen Massachusetts, wo sich John Updike fortan ausschließlich dem Schriftstellerberuf widmete. Berühmt wurde Updike mit dem Roman „Rabbit, Run“ (dt. Hasenherz), dem 1960 erschienenen ersten Band der Rabbit-Reihe. 1976 wurden Updike und Mary Pennington geschieden. John Updike starb 2009.

 

 

John Updike
Über Kunst / Schriften 1979-2008
Piet Meyer Verlag, Bern/Wien
Herausgegeben, aus dem
Amerikanischen übertragen und mit einem
Nachwort versehen von Antje Korsmeier
354 S., Paperback, div. Abb.
CHF 32.
ISBN 978-3-005799-46-0

NACH OBEN

Kunst