«Buchtipps à la carte: Neue Lebenspläne im Alter»
Von Ingrid Schindler
Wir stellen Ihnen vier neue Bücher aus Schweizer Verlagen vor. Wo ist mein Platz im Leben hier und jetzt? Eine Sammlung von Sachtexten orientiert, wie Frauen im Alter ihren Platz im Leben neu finden. Ein Bildband widmet sich Menschen in einem rauen Bergtal. Ein brandneuer Roman dokumentiert das Leben im Dorf. Novellen und Kurzgeschichten, die bereits 1953 erschienen sind, fokussieren auf Individuen, die nicht in eine Dorfgemeinschaft passen wollen.
Bunte Stühle an der Witwenstrasse
Das Alter ist weiblich. 45 Prozent der heute in der Schweiz lebenden Frauen zwischen 65 und 74 Jahren leben allein, ab 80 Jahren sogar zwei von drei Frauen.
Im fortschreitenden Alter rückt der Mensch an den Rand der Gesellschaft und erfährt eine Abwertung bis hin zu Ausgrenzung und Diskriminierung, Frauen noch stärker als Männer. Während der alternde Mensch früher in den Familienverband eingebunden war, innerhalb der Familie seine Aufgaben erfüllte, solange es ging, und schliesslich von den Angehörigen versorgt wurde, funktioniert heute das Lebensmodell Familie im Alter nicht mehr. Heute ist das Alter einsam, sofern Frau die Lebensgestaltung nicht aktiv selbst in die Hand nimmt.
«Die neuen alten Frauen», die in der Textsammlung von Kathrin Arioli, geb. 1963, Juristin und Gleichstellungsexpertin, und Marie-Louise Ries, geb. 1937, Arbeitspsychologin und Gründerin des Frauennetzwerks balance, zu Wort kommen, tun dies. Sie machen den grauen Herbst des Lebens bunt, indem sie ihre Bedürfnisse äussern, sich austauschen, zusammenschliessen. Ein Beispiel: «An unserer Strasse in einem Einfamilienhausquartier sind nun alle Frauen verwitwet. Wir nennen sie daher die Witwenstrasse. Wir befassen uns gemeinsam mit unserer Situation, wir organisieren uns, helfen einander, reisen auch ab und zu gemeinsam. Ein wichtiges Resultat aus unseren Gesprächen ist: Alle haben einen Stuhl farbig bemalt. Wenn eine Frau den Stuhl vor die Tür stellt, sehen die andern: Sie möchte nicht allein sein, jemanden zum Gespräch einladen. Und es klappt – und vermittelt uns das Gefühl, wahrgenommen, eingebettet, mitgetragen zu sein».
Die neun Beiträge sind aus Gesprächen, Arbeitsgruppen, Forschungsprojekten und Tagungen von Frauennetzwerken rund um die «Neue Frauen-Alterskultur» sowie die «GrossmütterRevolution» des Migros-Kulturprozents entstanden. Sie erzählen vom Schock, wenn der Partner stirbt, wie es sich anfühlt, wenn man dadurch nicht nur mit Gewohnheiten bricht, sondern sich auch das soziale Umfeld verändert, davon, was hilft in dieser schwierigen Zeit, wie man sich mit Trauer, Verlust und Spiritualität auseinandersetzt und seine Rolle in der Gesellschaft neu definiert. Fazit: Das Büchlein ist besonders für Frauen, die sich noch nicht konstruktiv mit dem Thema Alter auseinandergesetzt haben, eine wichtige Einstiegslektüre, einfühlsam, anregend und hilfreich, nicht zuletzt wegen des letzten Textes «Surfen, Suchen, Sharen», der Seniorinnen die Bedeutung des Internets nahelegt, samt praktischer Hinweise auf Computerkurse und Webadressen für Ältere.
Die neuen alten Frauen
Das Alter gestalten – Erfahrungen teilen – Sichtbar werden
Texte von Heidi Witzig, Marianne Haussmann, Helga Hofmann,
Andrea Kippe, Marianne Waldvogel-Schläpfer, Christine Wieland,
Usch Vollenwyder,
herausgegeben von Kathrin Arioli, Marie-Louise Ries
144 Seiten, gebunden
Limmat Verlag 2015
CHF 29.-/ eBook sFr. 26.–
«Ich war zuhause, am richtigen Ort»
Mit zwei Einwohnern pro Quadratkilometer ist das Valle Maira, 100 km von Turin entfernt in den Cottischen Alpen/ Piemont an der Grenze zu Frankreich gelegen, eine der am dünnsten besiedelten Regionen Europas.
Es ist ein Auswanderungstal, das in den letzten 120 Jahren über 80 Prozent seiner Einwanderer verloren hat. Allerdings stellt es eine Ausnahme unter den verlassenen Gebirgstälern dar: Seit den 70er Jahren kehrt ein kleiner Teil der ehemaligen Auswanderer zurück und zieht es urbane Aussteiger in das Tal, das längst ein Geheimtipp für Wanderer ist, die Ursprünglichkeit und Einsamkeit in einer kraftvollen, rauen Kulturlandschaft suchen. Auch wenn heute gleich mehrere reizvolle Weitwanderwege – ein Rundwanderweg in 13 Etappen, ein fünftägiger Wanderweg, die Grande Traversata delle Alpi und die Via Alpina – durch das Valle Maira führen, ein Wanderbuch ist der neue Titel aus dem Rotpunktverlag nicht. Vielmehr dokumentiert der Bildband in eindrücklichen Schwarzweiss-Fotografien den Alltag der Menschen, die hier leben. Eine Kräuterproduzentin, eine Psychologin, ein Bauhandwerker, ein Künstler, ein Senner, ein Bergführer, der nebenbei einen Campingplatz betreibt, oder einen Hüttenwirt, der Ethnologie studierte, eine Forschungsidee hatte, den Spuren seiner Gross- und Urgrosseltern folgte und hier sein Zuhause fand, «den richtigen Ort».
Die Porträts der Bewohner, die Aufnahmen von Tieren, Landschaften oder verlassenen Räumen verklären oder romantisieren das Leben in der Abgeschiedenheit der Südwestalpen nicht. Vielmehr machen sie neugierig auf diese ruhige, archaisch anmutende, abgewandte Welt mitten unter uns. Die Bilder des in Südbayern lebenden Fotografen Jörg Waste werden durch Statements und Notizen der Porträtierten ergänzt. Der Verfasser ist ein Insider – Giorgio Alifredi lebt seit 23 Jahren mit Frau und Kindern als Biobauer im Tal. Manchmal würde sich der Betrachter mehr Informationstiefe wünschen. Es wäre reizvoll, die Geschichten hinter den Bildern zu erfahren, warum zum Beispiel die beiden attraktiven Bergbäuerinnen aus Marmora, die einen Agriturismo betreiben, hier leben, ob sie Auswärtige oder Einheimische sind, wie sie heissen, was sie zuvor in ihrem Leben gemacht haben, welche von beiden die Frau auf dem Cover ist oder was Lou Bià bedeutet. Letzteres ist der Name ihres B & B und heisst auf Okzitanisch, der Sprache des Maira-Tals, Roggen. Dieser war das Grundnahrungsmittel des Tals. Praktisches über Land und Leute, wo sich gut wandern, betten und speisen lässt, liest man jedoch besser in «Antipasti und alte Wege» nach, einem Wanderführer von Ursula Bauer und Jürg Frischknecht durchs «Valle Maira, das andere Piemont», der ebenfalls im Rotpunktverlag (in 7. Auflage) erschienen ist.
Jörg Waste, Giorgio Alifredi
Ich bleibe im Valle Maira/ Rimango in Valle Maira
Lebensperspektiven in einem rauen Land/ Prospettive di vita in una terra rude
156 Seiten, gebunden
Rotpunktverlag 2015
CHF 33.-
«Ein Stoff, mit dem man ein langweiliges Loch stopfen kann»
Bislang veröffentlichte Leta Semadeni vorwiegend Gedichte, die sie zweisprachig in Deutsch und Romanisch verfasste. Ihren ersten Roman hat sie nun nur auf Deutsch geschrieben, in einer starken, poetisch-absurden Sprache, knochentrocken verdichtet und vielschichtig, bildreich zugleich.
Er ist im Unterengadin verortet und spielt ohne eigentliche Handlung in 73 kurzen, szenischen Kapiteln in der Welt, in der sie daheim ist. Das sind „das Dorf“, „der Fluss“, „die Kirche“, „das Schulhaus“, „der Dorfplatz mit der Lügenbank“. Der innere Ort ist die Küche der Grossmutter. Dazu ein nicht greifbarer, über der Zimmerdecke, in den „verschiedenen Himmeln“ gelegener Ort der Abwesenden, der Toten. Tamangur, ein Wald, in dem es „keine Dohlen, kein Sonntage, kein Weihnachachten, keinen Braten …“ gibt.
Die Hauptfiguren: Grossmutter und Enkelin. Das Kind sitzt mit der Nana, einer lebensklugen wie bejahenden Frau, am Küchentisch, auch sie ein Wald, findet die Enkelin: «Das Herz der Grossmutter ist ein grosser Wald mit dichtem Gestrüpp, mit himmelhohen und niedrigen Bäumen, mit vielen Sträuchern. Man kann darin spazieren gehen oder sich darin verirren». Man weiss nie genau, woran man ist. Die Grossmutter kann Hexe sein mit „Klumpen von bösen Wörtern im Mund“ oder „Engel, der jeden Wunsch erfüllt“. Der dritte Stuhl am Küchentisch ist leer. Dort ist Nenes Platz, des Grossvaters, eines Jägers, der in Tamangur begraben und doch präsent ist. Der Wald der toten Seelen ist der Seelenort der romanischen Identität, Heimat des Rätoromanischen. Nüchtern betrachtet ist der God da Tamangur ein hochgelegener Bergwald im Unterengadin mit skurill geformten, bis zu Jahrtausende alten Arven.
Skurill geformt ist auch das weitere Personal: Dorforiginale wie der Schornsteinfeger, die Frau Doktor, Elsa, die mit dem Lehrer eine Röhrmaschine für Elvis und die Gehörnten im Dorf bastelt, „damit kann jeder Gehörnte nach Lust und Laune röhren wie ein Hirsch“, oder die Schneiderin mit den Krokodilsaugen, die Erinnerungen klaut. Daneben gibt es noch mehr Abwesende: die Mutter, der Vater, der Bruder, ertrunken im Fluss. «Es sind die abwesenden Dinge, die soviel Platz einnehmen», sagt Elsa, die zu den „Seltsamen“ gehört. Den Seltsamen verdanke man viel, sagt die Grossmutter: «… einen Stoff, mit dem man ein langweiliges Loch stopfen kann, die Entdeckung von neuen Wörtern in neuen Zusammenhängen, weite Gedankengänge, in die man sonst nicht geraten wäre ….».
Fazit: Die Gedanken der seltsamen Frau Semadeni aus Scuol sind lesenswert!
Leta Semadeni
Tamangur
Roman
144 Seiten, gebunden
Rotpunktverlag 2015
CHF 22.-, auch als E-Book erhältlich
Konzentrierte Dramen vor Walliser Natur
1953 wurden die 15 Novellen und Kurzgeschichten aus S. Corinna Bille (1912-1979) erster Schaffensperiode unter dem Titel „Douleurs paysannes“ erstmalig veröffentlicht.
Und wieder Geschichten aus Gegenden, in denen die Kirche noch im Dorf steht. Die Lehren und Moralvorstellungen der katholischen Kirche, wohlgemerkt, denn die meisten der Novellen der jungen Corinne Bille spielen im Wallis der Vorkriegszeit. Zu einer Zeit, als sie noch nicht mit dem Walliser Schriftsteller Maurice Chappaz verheiratet war, einer Zeit, als das Leben im Bergkanton hart und der Blick eng war, das Individuelle in der Gemeinschaft aufging und nicht das Individuum vor der Gemeinschaft kam.
Die heile Welt der Dorfgemeinschaft, für die Helden der Erzählungen ist sie alles andere als heil. Wenn ein Mensch nicht in der Gemeinschaft aufgeht und sich in ihr verliert, sondern als andersartiges Individuum aus der Rolle fällt, ob Mann oder Frau, mündet sein Weg in die Katastrophe, zumeist. Nachrichten von persönlichen Katastrophen, von Scheitern, Wahnsinn, Ruin und Tod, sind es, die S. Corinne Bille zum Schreiben veranlassen. In dichterischer Freiheit zeichnet sie Schicksalskurven nach, von denen sie aus der Zeitung, von Bekannten oder ihrem eigenen Umfeld erfährt. In Lausanne geboren, in Sierre aufgewachsen, in Paris und Zürich wie im Wallis daheim, stellt Bille einfache, unverstandene, verzweifelte, ausgegrenzte Menschen aus dem Wallis in das Zentrum ihrer Geschichten, weil sie «die Bauern liebte». Platte Heimatdichtung entstand dabei nicht, sondern fein geschliffene, perfekt komponierte, literarische Preziosen von mystischer Schönheit. Der Held am Schluss bleibt die Natur.
Der Limmat Verlag feiert sein 40jähriges Bestehen mit einer limitierten Jubiläums-Edition herausragender Schweizer Literatur. Neben Charles-Ferdinand Ramuz «Farinet oder das falsche Geld», Plinio Martinis «Nicht Anfang und nicht Ende», Oscar Peers «Das Raunen des Flusses» und Leo Tuors «Settembrini» bildet S. Corinne Billes Novellenband «Ländlicher Schmerz» den Auftakt der hochwertig gestalteten Jubiläumsreihe.
S. Corinna Bille
Ländlicher Schmerz
Erzählungen
Übersetzt von Elisabeth Dütsch
22o Seiten, Broschur
Limitierte Jubiläums-Edition
Limmat Verlag 2015-06-16
CHF 19.80