FRONTPAGE

«Tokyo Fragmente»

Von Leopold Federmair.

 

 

Der Schriftsteller Leopold Federmair lebt seit 16 Jahren in Japan. Ein Jahr vor dem Tsunami und dem Atomunfall in Fukushima begann er, Episoden seiner ausgedehnten Spaziergänge in Tokyo und Umgebung aufzuzeichnen, eine Serie zugleich dispersiver und höchst konzentrierter Betrachtungen. Die Publikation erscheint im August  2018.

Sonntagmorgen, acht Uhr in einem Doutour-Café. An einem Tisch gegenüber vom Ausschank und den Rücken der um diese Zeit noch nicht sehr zahlreichen Gäste schläft einer, die Reste seines Frühstücks vor sich auf dem Tablett, unbeeindruckt von dem bereits ziemlich regen Hin und Her der Körper, Arme, Hände, Stimmen, Geräusche der Leute und Dinge hinter und vor der Theke.

Meine Ohren sind aufmerksamer als sonst, als müßten sie für den Schläfer mithören, aber vielleicht gehen all die Geräusche und Klänge ja viel schöner, weil vielfach verwandelt, in seinen Traum ein: dumpfes Zuklappen einer abgedichteten Kühlschranktür; Auffalten und Beklopfen einer Papiertüte zum Mitnehmen von Waren; Zusammenfalten der Tüte, Abreißen eines Klebestreifens (winziger Knall); Münzengeklimper; Schiebegeräusch einer Schublade; Kaffeereiberauschen, das schwungvoll verschwindet; elektronisches Fiepen von Tasten, die gedrückt werden (eigentlich fiept der Rechner); Gebläse eines Föhns oder Abzugs; Musikrieseln; Scheppern von Tassen, als ein Tablett abgestellt wird; Rascheln von Papier bzw. Verpackungsfolie; maschinelles – immer noch elektronisches? – Fiepen: tief-tief-hoch, dunkel-dunkel-hell: kann man das noch als Töne beschreiben?; Plätschern von Wasserschwällen; Grummeln einer Geschirrspülmaschine; aufeinanderfolgendes Scheppern, mal dort, mal da: eine kommunikative Kette; Echos von alldem. Eine Art Stille, in die langsam, fast zögernd, der Tageslärm vordringt, bis man dann später, in der Mittagszeit, die Stillereste als Inseln wahrnehmen wird.

 

Besuch beim Nobelpreisträger Kenzaburo Oe

Kenzaburo Oe wohnt in der Nähe, wenige Vorortbahnstationen von Kyodo entfernt. Für 14 Uhr hat er mich in sein Haus eingeladen. Ich liebe es, vor solchen Verabredungen in der Umgebung des Treffpunkts herumzuschlendern, nicht nur, um mich ein wenig auf das Gespräch einzustellen, sondern auch, weil ich in diesen kurzen, unverplanbaren Zeitspannen manchmal in einen anderen Zustand gerate, worin sich Aufmerksamkeit und Zerstreutheit begegnen und einander für Augenblicke die Waage halten. Diesmal gerate ich in eine Wohngegend mit den für den Westen Tokyos typischen Steigungen und Senkungen, und es herrscht eine andere Ruhe als an gewöhnlichen Sonntagen, denn heute sind Wahlen, nicht wenige Leute auf dem Weg zum Wahllokal, das sich in einer Grundschule befindet. Fast nur alte Leute, die sich unglaublich langsam in Grüppchen fortbewegen. Die Jungen, scheint es, gehen nicht zur Wahl. Oder erst am Abend? Oder wohnen hier gar keine Jungen? Doch, Familien mit Kindern, ab und zu sieht man einen Vater mit Sohn oder Tochter vor dem Haus spielen.
In Seijo wird die Gegend plötzlich flach, die Bäume und Baumgruppen, hohe Kiefern darunter – oft sind es Restbestände der Wälder, die sich vor nicht langer Zeit hier erstreckten – werden zahlreicher. Auf einem unbebauten, grasbewachsenen, aber nicht völlig verwahrlosten Grundstück steht ein Nissan Pao, eines jener niedlichen japanischen Autos aus der Nachkriegszeit, die kaum exportiert wurden. Ich jedenfalls habe früher keines zu Gesicht bekommen, und wenn ich eines entdecke, das noch läuft, was hin und wieder geschieht, weil viele Japaner nicht nur für neue Technik schwärmen, sondern auch alte Dinge sorgsam warten, nähere ich mich dem Gefährt, um es ausgiebig zu bewundern. Das Grundstück wurde früher vermutlich als Parkplatz genützt, und der Besitzer des Pao hat ihn wohl einfach für ewige Zeiten hier stehen lassen, schon vor vielen Jahren. Ein Seitenfenster des kleinen Wagens ist geöffnet, im staubigen Inneren liegt fast kein Müll – anscheinend wagt niemand, Plastikflaschen und dergleichen ins Wageninnere zu werfen. Am Armaturenbrett ein altmodisches Autoradio; zwischen Fahrersitz und Lenkrad wächst eine schlanke Pflanze aus dem Fahrzeugboden, wo sich im Lauf der Jahre ein wenig Erde angesammelt hat. Gegenüber vom Pao befindet sich eine Kirche, ein Langhaus mit niedrigem Turm, oben ein dünnes Kreuz; helle Wandschindeln, ein Gebäude wie in Massachusetts. Grace Episcopal Tokyo Church steht über dem Eingang. Im Garten neben der Kirche ein Glockenturm, eigentlich nur ein Gestänge; die Klänge der Glocke habe ich vorhin, als ich meinen Kopf durchs Pao-Fenster steckte, vernommen.

 

 

Auf den Spuren meiner selbst: als ich Kenzaburo Oe (*1935) besuchte, hatte ich keinen Fotoapparat dabei, und den Pao – in Wahrheit ein Retro-Modell aus den achtziger Jahren, wie ich inzwischen weiß – mit seiner in den vergangenen Monaten noch höher, wahrscheinlich bis zum Dach aufgeschossenen Pflanze hätte ich gern abgelichtet und als Bild in die Textmasse eingefügt. Leider bin ich nicht fündig geworden, obwohl ich dieselben kleinen Brücken am selben verbauten Flüßchen mehrmals überschritten und einige Orte wiedererkannt habe, darunter die betuliche, auf alt getrimmte Bäckerei französischen Stils mit dem kleinen, von gepflegten Damen frequentierten Café. Vom Pao jedoch keine Spur, und auch die Gnadenkirche war nirgendwo zu sehen. Statt dessen, auf der anderen Seite der Durchzugsstraße, eine viel größere katholische Kirche. Und ein kleines Museum, das beim Vorbeigehen eher wie ein Privathaus mit großem Garten aussieht. Taiji Kiyokawa hat es selbst entworfen, ein Künstler, von dem einige Bilder in den Räumen hier hängen. Mehr als die abstrakten Gemälde in amerikanisch-nachkriegszeitlicher Manier sprechen mich Kiyokawas Fotos aus Chicago an, die hier ebenfalls zu sehen sind. Sprechen mich an und ziehen mich hinein in die Bildräume, von dieser Stadt zur anderen, fernen. Eines Tages wirst auch du durch Chicago spazieren, wie du hier und jetzt durch Tokyo spazierst. Ob es diese Stadt aber noch gibt?

 

Eine Bemerkung von Anna Kazumi Stahl fällt mir ein, vor sechs Jahren in einem Café in Buenos Aires getätigt: New Orleans, die Stadt, in der sie aufwuchs, sei heute verschwunden. Nicht oder nicht nur durch den Wirbelsturm Katrina, sondern durch den kulturellen, politisch motivierten Ausverkauf. Ich würde mich ja mit Resten, Lücken, Ruinen begnügen. Auch verschwunden? Also kann ich Chicago doch nur hier, in Setagaya, dank dieses japanischen Künstlers erfahren, der sein kleines, kaum beachtetes Vermächtnis so wohlgeordnet hinterlassen hat. Wie der Pao nur noch in diesen Fragmenten hier existiert. Und bald auch das Show-ten. Und die ganze Epoche mitsamt ihren menschlichen Leuchttürmen.

 

 

Über Kenzaburo Oe habe ich ein Portrait geschrieben und einen Essay, in dem ich ausführlich aus unseren Gesprächen zitiere; das möchte ich hier nicht wiederholen. Andererseits sind mir Kleinigkeiten im Gedächtnis geblieben, Beobachtungen und Stimmungen, also Dinge, die nicht immer aussagekräftig sind in Hinblick auf Oes Werk; ja, die vielleicht sogar auf Abwege führen. Schlangenwege gewissermaßen, die uns trotz allem locken.
Nachdem ich am Gartentor geklingelt habe, erscheint nicht, wie ich nach der Lektüre eines Interviews erwartet habe, Oes Frau, sondern er selbst. Mit kleinen, ziemlich raschen Schritten durchmißt er den Weg bis zum Tor. Überraschend, daß sich der Ort, wo Oe gewöhnlich Besucher empfängt, in nächster Nähe zum Eingang befindet. Man geht um eine Art Brüstung herum und setzt sich an einen niedrigen Tisch, vor dem mit der Rücklehne zum Garten ein riesiger Ohrensessel steht – der Platz des Meisters, wo er zahllose Stunden mit Gesprächen, vor allem aber mit Lektüre und Nachdenken verbracht hat. Wohl auch Stunden in sorgender Nähe zu Hikari, seinem behinderten Sohn, der unterdessen Musik gehört haben wird. Im Regal über dem Sofa stehen die wichtigen Bücher, jene nämlich, die Oe ein ums andere Mal liest, Konstanten seiner geistigen Welt über Jahrzehnte hinweg: William Blake, T. S. Eliot, Northrop Frye, Simone Weil; ich nenne nur die, die ich auf Anhieb an den Buchrücken erkenne. Wenn ich jemanden sehe, der sich so lückenlos mit für ihn wichtigen, fast wie Personen dastehenden, immer noch und immer wieder auf ihn wartenden Büchern umgeben hat, kann ich nicht anders, als an meine eigenen Bücher zu denken, bzw. an den Moment, in dem ich sie alle weggegeben, verkauft, verschleudert habe. Es war ein tiefer und schmerzhafter Einschnitt in meinem Leben. Und ein Akt der Befreiung. Denn man kann sich mit Büchern auch ummauern. Man kommt dann von seinem Sitz- und Stehplatz, von dem kleinen Auslauf, in dem man seine Kreise zieht, nicht mehr weg, auch wenn man bedenkt und zugibt, daß Bücher ihrerseits Welten enthalten und Welten sind, also Öffnungen darstellen für den, der mit ihnen umgeht.

 

 

Als ich ein zweites Mal um Oes Haus und die schönen, aber verborgenen Anwesen in seiner Nähe herumstreunte, stieß ich in einem abschüssigen Waldstück, wo das Plateau von Seijo plötzlich endet, auf eine Schlange. Sie hatte sich auf einer Stufe einer ins Erdreich gebrochenen, mit Hölzern befestigten Treppe zu einem unförmigen Bündel zusammengeringelt und unterschied sich wenig von ihrer braunen, schattigen Umgebung. Ich bemerkte sie erst, als ich diese Stufe nehmen wollte, und dehnte den Schritt, denn sonst wäre ich auf das Bündel getreten. Schlangen wecken, seit ich in Japan in einer Schlangengegend wohne, die sogar nach einer Schlangenart benannt ist (Gagara), sowohl meine Neugier als auch meine Angst, das heißt ein Gefühl der Unheimlichkeit, in dem diese Ambivalenz aufgehoben ist. Ich blieb auf der übernächsten Stufe stehen, wandte mich um und machte ein paar Aufnahmen, freilich mit so zitternder Hand, daß die sich entringelnde Schlange darauf nur als undeutlicher, zitteriger Streifen sehen läßt. Das gut zwei Meter lange, aber ziemlich dünne Reptil kroch langsam, fast bedächtig vom Pfad ins Gras. Ich war erleichtert, als sie verschwunden war, und zugleich war mir, während ich weiterging ins zivilisierte, d. h. betonierte Gebiet, als hätte ich dieses dem Menschen so fremde Wesen in mich aufgenommen. Irgend etwas habe ich mit ihm gemein. Nicht List und Falschheit, die ihm die Bibel andichtet, sondern… Vielleicht die Bedachtsamkeit?
(Exklusiver Auszug für Literatur & Kunst)

 

Kenzaburō Ōe, *1935, ist ein japanischer Schriftsteller. In seinem Heimatland zählt er zu den wichtigsten Schriftstellern seiner Generation. Er erhielt 1994 den Nobelpreis für Literatur. 

 

Leopold Federmair, *1957 in Oberösterreich, studierte Germanistik, Publizistik und Geschichte an der Universität Salzburg. Er ist als Schriftsteller, Essayist, Kritiker und Übersetzer tätig (Übersetzungen aus dem Französischen, Spanischen und Italienischen, u.a. Werke von Michel Houellebecq, José Emilio Pachleco, Francis Ponge). 2012 erhielt er den Österreichischen Staatspreis für literarische Übersetzung. Federmair lebt in Hiroshima, wo er an der Universität Deutsch unterrichtet.

 

 

Leopold Federmair

Tokyo Fragmente

Otto Müller Verlag, Salzburg 2018

320 S., geb. € 23. E-Book € 18.

ISBN 978-3-7013-1264-1

 

NACH OBEN

Literatur