«Louise Glück: Wilde Iris»
Von Ingrid Isermann
In den Kosmos der Literaturnobelpreisträgerin Louise Glück einzutreten, heisst auf unnachahmliche Weise den Gleichklang von Natur und Kultur zu erleben, wunderbar übersetzt von Ulrike Draesner. Ein Frühlingsbuch!
2020 begann die Covid-Pandemie, die das alltägliche und kulturelle Leben lahmlegte, das Jahr, in dem Louise Glück den Nobelpreis für Literatur erhielt. Da waren ihre Bücher schon vergriffen. Der Luchterhand Verlag kam kaum nach mit dem Nachdruck. Die Dichterin ist in ihren grossartigen Gedichten auf fast subversive Weise der Sicherheit der Unsicherheit verpflichtet, mit einem Respekt vor der Natur, die weder überhöht noch verteufelt aus einer universell scheinenden Perspektive aus den Gedichten selbst zu sprechen scheint.
Eine Tension, eine Zartheit, die an die Farben und Feuer der Blumen erinnert, an eine Sprache jenseits der Worte.
«Alle Lust will Ewigkeit», nach Nietzsche, nachgespürt dem Kontrast des Werdens und Vergehens der Natur, ihrem unendlichen Kreislauf und dem Dasein des Menschen, der hadert und kämpft in der elegischen Natur voll betörender Schönheit.
DER BLUTROTE MOHN
Es ist herrlich,
völlig geistlos
zu sein. Gefühle:
oh, die hab ich; die
beherrschen mich. Ich hab
einen Herrn im Himmel,
Sonne sein Name, ihm
öffne ich mich, ihm zeig ich
das Feuer meines Herzens, Feuer,
das seiner Gegenwart gleicht.
Was könnte solche Herrlichkeit andres sein
als ein Herz? Oh, Brüder und Schwestern,
wart ihr einmal wie ich, vor langer Zeit,
bevor ihr Menschen wurdet? Habt ihr
euch einmal erlaubt,
euch zu öffnen, um es danach
nie wieder zu tun? In Wahrheit
spreche ich jetzt
auf eure Art. Ich spreche,
weil ich am Boden zerstört bin.
BLAUSTERN
Nicht ich, du Idiot, nicht das Selbst, sondern wir, wir – Wellen
von Himmelsblau wie
eine Kritik des Himmels: warum
schätzt du deine Stimme so sehr,
wenn ein Ding zu sein
bedeutet, schon fast nichts zu sein?
Warum hebst du den Blick? Um ein
Echo zu hören wie die Stimme
Gottes? Für uns seid ihr alle gleich,
einzelgängerisch steht ihr über uns, plant
eure törichten Leben: ihr geht,
wie jedes Ding, wohin ihr geschickt werdet,
wohin der Wind euch verschlägt,
der eine oder andere von euch blickt
auf ewig nach unten, wo er eine Art
Wasserbild sieht, und was hört er? Wellen,
und über den Wellen das Singen der Vögel.
DER WEISSDORN
Seite an Seite, nicht
Hand in Hand: ich beobachte,
wie ihr durch den Sommergarten geht – Dinge,
die sich nicht bewegen können,
lernen zu sehen; ich muss euch
nicht durch den Garten
verfolgen; Menschen hinterlassen
überall Zeichen ihrer
Gefühle, Blüten,
verstreut auf dem Trampelpfad, überaus
weiss und golden, manche
ein wenig verwirbelt vom
Abendwind; ich muss euch
nicht dorthin folgen, wo ihr nun seid,
tief im giftigen Feld, um den Grund
eurer Flucht zu kennen, menschliche
Leidenschaft oder Wut, wofür sonst
liesset ihr alles fallen,
was ihr gesammelt habt?
FELDBLUMEN
Was hast du gesagt? Dass du ewiges
Leben willst? Sind deine Gedanken
wirklich so überaus fesselnd? Uns
übersiehst du jedenfalls, hörst uns nicht zu,
auf deiner Haut
Sonnenbeize, gelber
Dotterblumenstaub; ich spreche
zu dir, während du durch Gitterstäbe
hohen Grases starrst und deine
kleine Rassel schüttelst – O
die Seele! die Seele! Reicht es,
nur nach innen zu schauen? Verachtung
für die Menschheit ist das eine, aber warum
das weite Feld
verachten, den Blick über die klaren Köpfe der wilden
Dotterblumen erhoben, doch wohin? Deine armselige
Vorstellung von Himmel: keinerlei
Wandel. Besser als die Erde? Wie
willst ausgerechnet du das wissen, wo du weder
hier bist noch dort, während du mitten unter uns stehst.
WILDE IRIS
Am Ende meines Leidens
fand sich eine Pforte.
Hört mir zu: an das, was ihr Tod nennt,
erinnere ich mich.
Über mir Geräusche, schwankende Kiefernzweige.
Dann nichts. Die schwache Sonne
flirrte über der trockenen Fläche.
Es ist furchtbar, als Bewusstsein
zu überleben,
begraben in der dunklen Erde.
Dann war es vorbei: was ihr fürchtet,
eure Seele zu sein und nicht sprechen
zu können, nahm ein jähes Ende, die harte Erde
gab etwas nach. Und was ich für Vögel hielt,
huschte durch niedriges Gebüsch.
Euch, die ihr euch nicht erinnert
an den Übergang aus der anderen Welt,
sage ich, ich konnte wieder sprechen: was immer
zurückkehrt aus dem Vergessen, kehrt zurück,
um eine Stimme zu finden.
Louise Glück hat bisher zwölf Gedichtbände und zwei Essaysammlungen veröffentlicht. 2020 wurde sie mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet, «für ihre unverkennbare poetische Stimme, die mit strenger Schönheit die individuelle Existenz universell macht». Glück erhielt u.a. den Pulitzerpreis für «Wilde Iris», den Bollinger Prize und den National Book Award. Sie lehrt an der Yale und der Stanford University und lebt in Cambridge, Massachusetts. Louise Glück starb mit 80 Jahren 2023.
Ulrike Draesner, geb. 1962 in München, ist Lyrikerin, Romanautorin, Essayistin und Übersetzerin. Nach Jahren in England lebt sie heute in Berlin und Leipzig, wo sie Professorin für literarisches Schreiben ist.
Louise Glück
Wilde Iris
Gedichte-Sammlung
Aus dem Amerikanischen von
Ulrike Draesner
Luchterhand, München 2020,
6. Auflage, die Originalausgabe
erschien 1992 bei The Ecco Press, New York
Paperback, 133 S., CHF 19.90
ISBN 978-3-630-62144-9