FRONTPAGE

«Lukas Hartmann: Mauerfall und Kalter Krieg»

 

 

1989 und 1990 sind Jahre des politischen Umbruchs. Der Schweizer Journalist Mario, gerade von seiner Frau getrennt, reist kurz vor dem Mauerfall für eine Reportage nach Ostberlin. Was er noch nicht weiss: Der Kalte Krieg spielt auch in sein Leben und seine Familie hinein. Ein brisanter Roman über eine nahe Vergangenheit, die nachwirkt. Literatur & Kunst bringt einen ausführlichen Leseauszug.

Im Leben des Journalisten Mario hat Dr. Armand Gruber immer eine imposante Rolle gespielt. Gruber ist ein Mann von altem Schrot und Korn. Ein brillanter Deutschlehrer, Hauptmann der Schweizer Armee, glühender Antikommunist. Jahrzehntelang hat er ein Doppelleben geführt. Keiner hat etwas geahnt. Nicht seine Frau, nicht seine Tochter Bettina, die ihr Leben lang gegen den Vater aufbegehrt. Nicht sein einstiger Lieblingsschüler und Schwiegersohn Mario, der mit Gruber brechen musste, um zum linken Journalisten zu werden. Auch nicht Bettinas beste Freundin Karina, die als Tochter des Hausmeisters beim Schweizer Geheimdienst ganz dicht an Grubers Geheimnis aufgewachsen ist. Denn er war Mitglied der geheimen Widerstandsorganisation P-26. Jetzt, zwei Jahrzehnte nach dem Ende des Kalten Krieges, darf Gruber sein Schweigen brechen.

 

Lukas Hartmann spiegelt die verschiedenen Perspektiven aus der Sicht der Protagonisten, was reizvoll, mitunter aber auch verwirrend sein kann, trifft aber so die Atmosphäre der wechselseitigen Befindlichkeiten wie ein Aufnahme-Protokoll, das hinter die scheinheiligen Fassaden und Kulissen blicken lässt. Ein Stück Schweizer Geschichte mit den heute noch intransparenten Geheimdiensten, die aktuell wieder zu reden geben.

 

 

 

Leseauszug:

Mario in Berlin, Johanns Bilder

Vielleicht müsste ich doch mit Berlin (Ost) beginnen, im November 88, mit Johann und mir. Es regnete fast ununterbrochen, es roch nach Braunkohle und aus Eckkneipen nach Sättigungsbeilagen. Überall Pfützen in Schlaglöchern, allgemeine Tristesse. Und doch sind die Tage in Berlin eine Glühzone in meinem Leben, eine Zeit, in die, merkbar und unmerklich, die Veränderungen eindrangen, die großen und die kleinen. Ich wurde umgepflügt, die Welt ringsum auch. Von Bettina war ich seit vier Monaten getrennt, ich arbeitete noch für die Wochenendbeilage, ich hatte den Auftrag, über eine Koproduktion der Schweiz und der DDR in den DEFA-Studios zu schreiben. Der Roman eines Schweizer Autors wurde verfilmt, es ging um Henri Dunant, den Gründer des Roten Kreuzes.

Ich kannte Johann Ritter schon lange, wir waren uns zum ersten Mal ausgerechnet auf der Silvesterparty begegnet, wo ich Bettina, an der Seite Karinas, wiedertraf. Er hatte, ungewöhnlich damals, die langen fettigen Haare zum Pferdeschwanz zusammengebunden, er trug demonstrativ eine ärmellose Lederweste mit Farbflecken, offenbarte mir sogleich in einem eindrücklichen Redeschwall seine Kunstanschauung. Ich war fasziniert, aber nach einer Viertelstunde hatte ich genug und wandte mich Bettina zu, mit den bekannten Folgen.

Ritter vergaß ich nicht. Als sein Renommee zu wachsen begann, besuchte ich ihn im Atelier, schrieb etwas Lobendes über seinen Blick auf Verfall und menschengemachte Zerstörung. Wir wurden Freunde. Auf undurchschaubare Weise bekam er, der Schweizer, ein halbjähriges Stipendium in Ostberlin, eine Atelierwohnung inklusive, Mitarbeit erwünscht als Bühnenbildner im Deutschen Theater, bei der DEFA, ein Kulturaustauschprojekt mit der maroden DDR. Dass ein Jahr später der Anfang vom Ende kommen würde, wünschten sich viele, aber niemand hätte es vorausgesagt. Johann machte mich auf die Koproduktion aufmerksam. Diese seltsame Vermischung der Crews, der Mentalitäten, der Arbeitsweisen, das sei doch ein Thema, rief er ins Telefon (endlich wieder einmal eine Verbindung, die länger als fünf Minuten hielt), darüber müsse ich schreiben. Die DDR, fuhr er in seinem üblichen Staccato fort, sei doch letztlich ein unglaublich ordentliches Land, wie die Schweiz, aber ohne Geld.

Das heiße, versetzte ich, dass die Schweiz in seinen Augen die DDR mit genug Geld sei.

»Getroffen!« Er lachte so laut, dass ich den Hörer vom Ohr weghielt. »Kontrolle und Sauberkeit. Aber wenn du kommst, dann lass dich von den DEFA-Funktionären ja nicht im Intercontinental unterbringen, jedes Zimmer dort ist verwanzt.« Er veränderte seine Stimme, ging in die Basslage. »So ist es doch, meine Herren. Das werden Sie nicht bestreiten.« Gelächter, er nahm den gewohnten Ton wie- der an. »Komm zu mir, Mario, und bleib, so lange du willst, das ist interessanter. Meine Gastmatratze ist für dich reserviert.«

Ich sagte zu, ich ergatterte den Auftrag vom Chef der Sonntagsbeilage, der meinte, ich solle die Risse im System beobachten, nicht die in der Mauer, die werde leider Gottes noch lange stehen bleiben.

Ich war im Sommer 1982 zum ersten Mal als Westtourist drüben gewesen, man hatte mich bei der Grenzkontrolle in eine Kabine gebeten, mich gefilzt, den Tagesspiegel konfisziert, den ich noch im Rucksack hatte. Danach (oder davor?) das Anstehen in ordentlicher Kolonne, der Zwangsumtausch von West- in Ostmark, das Erstaunen in der Friedrichstraße, dass es das gab: Häuserreihen ohne Werbung, Grau in Grau die heruntergekommenen Fassaden, das dauernde Rasseln und Quietschen der S-Bahn hinter mir. Dafür unter dem Brückenbogen eine Buchhandlung mit dem Gesamtwerk von Marx und Lenin auf den obersten Regalen und auf Augenhöhe billige, aber schön gemachte Klassikerausgaben, Märchen aus den sozialistischen Schwesterrepubliken, einiges von Loest, Strittmatter, nichts von Christa Wolf. Immerhin ein Kontrast zur Konsumfeindlichkeit da draußen. Mit dem, was ich für 25 Ostmark bekam, konnte ich den Rucksack füllen; der Intershop mit Spirituosen interessierte mich nicht. Und nun der neuerliche Besuch, ein Jahrzehnt später. Mir schien, kaum etwas habe sich verändert, nur die Menschenmenge sei größer geworden. Der Weg vom U-Bahn-Schacht durch ein grell beleuchtetes Labyrinth von Treppen und Gängen, Gemurmel bloß, keine lauten Stimmen. Mein Pass mit dem Arbeitsvisum, das die Botschaft in Bern bewilligt hatte, wurde minutiös geprüft, widerwillig zurückgegeben, mein Aufenthalt mit dem richtigen Stempel autorisiert. Diese tief in die Stirn gezogenen Vopo-Mützen. Der kaltschnäuzige Ton und doch die Verunsicherung in den ausweichenden Blicken. Nach dem endlos scheinenden Kontrollparcours die Einreisehalle mit all den Wartenden. Freudenrufe, Kinder, die an Verwandten hochsprangen, Papiertüten mit Geschenken durchwühlten. Und mittendrin Johann mit breitem Lachen, kariertes Hemd, Lederjacke, halbhohe Stiefel, er kam auf mich zu, wir umarmten uns, und wie jedes Mal fühlte ich mich beinahe erdrückt von seinen kräftigen Armen. Er bestand darauf, mir die Reisetasche abzunehmen, er roch wie gewohnt nach Terpentin, Zigaretten, Rotwein, aber auch nach etwas Muffigem, das mir neu war. Wir tranken schlechten Kaffee an einem Imbissstand, Johann aß eine Bockwurst mit Senf dazu, ich wollte keine.

»Du bist in die Breite gegangen«, sagte ich mit einem Blick auf den beachtlichen Wanst, der sich unter seinem Hemd wölbte.

Er lachte. »Genetisches Schicksal. Und ungesunde Kost. Zu viel Schweinefleisch mit Kartoffeln macht fett.« Er fragte, ob wir seine Wohnung irgendwo am Prenzlauerberg zu Fuß erreichen wollten. »In einer knappen Stunde sind wir dort. Bewegung ist ja auch gut für meinen Luxuskörper.« Er lachte dröhnender. »Und du siehst gleich etwas vom himmeltraurigen Zustand der Stadt. Ich bin fast immer zu Fuß unterwegs. Da staunst du, was?«

Ich zögerte, aber er schwang meine Reisetasche am Tragriemen über die Schulter und setzte sich in Bewegung, nordwärts, zur Spree hin. Er achtete kaum auf den Verkehr, der dichter war, als ich gedacht hatte, Trabis, Wartburgs, Dieselgestank, dazwischen der eine oder andere Wagen aus dem Westen.

Johann deutete zum anderen Ufer hinüber. »Dort hat er Hof gehalten, der Guru. Und seine Frauen besprungen.«

»Wer?«
»Brecht. Schiffbauerdamm.«
Schon jenseits der Spree wirkte alles ärmlicher, baufällig, es waren noch Kriegsschäden zu sehen. Oder ließ man eingestürzte Bauten einfach so stehen? Im fleckigen Grau der Fassaden war hier und dort eine Spur von Rot oder Gelb zu ahnen. Wir wichen den Löchern im Asphalt aus. Bei der kleinsten Unachtsamkeit geriet ich ins Stolpern, ließ Pfützen aufspritzen.

»Bettler gibt es nicht im Sozialismus«, sagte Johann, mir immer einen halben Schritt voraus. »Aber schau dir die Fenster an.«

Sie waren schmutzig, verkrustet, blind; hier und dort reflektierten sie eine Spur des ebenso grauen Himmels.

»Augen«, sagte Johann. »Bettelnde Augen. Siehst du das auch?«

»Und worum betteln sie?«
»Um Westwaren. Um Westmark. Um Westautos.«
Ich bin nicht mehr sicher, ob es wirklich so war, manchmal legen sich die Vorurteile wie halbtransparente Folien über die verblassende Erinnerung. Kamen uns tatsächlich gebeugte Frauen mit Kopftuch und schweren Taschen entgegen, Radfahrer mit hochbeladenem Gepäckträger? Stimmt es, dass uns alle paar Minuten eine Straßenbahn überholte? Oder war das an einem anderen Tag, auf einer anderen Strecke? Ich habe vergessen, wo Johann wohnte, ich denke, in der Nähe der Schönhauser Allee. Wir bogen irgendwann von der Friedrichstraße ab. Lauter Häuser nun, die dem Einsturz nahe schienen, eine alte Pflasterung mit fehlenden Steinen, Autos holperten im Schritttempo an uns vorüber.

»Die meisten Dächer hier sind undicht«, sagte Johann, »ich war mal bei jemandem in diesem Haus, ganz oben, Leute vom Deutschen Theater. Bei mir tröpfelt es übrigens auch herein. Halb so schlimm.« Er atmete nun schwer, ließ sich die Tasche abnehmen. Der Regen wurde stärker. Diese Stadtwanderungen, sagte er, seien inspirierend, er bilde seine Eindrücke im Atelier nach, pastoser Farbauftrag, Malerei in Schichten, das werde er mir zeigen. »Du siehst, dass du in ein fremdes Land geraten bist, nicht wahr?«

»Es gleicht aber der Schweiz, hast du gesagt.«
»Ist das nicht auch ein fremdes Land für dich?«
Das kommt vor, dachte ich und schwieg.
Aus vielen Kaminen quoll dunkler Rauch, senkte sich, strich bodennah dahin, der Braunkohlegeruch war durchdringend.

Er wohne neuerdings halbwegs mit einer Freundin zusammen, erzählte Johann. Birgit, Dramaturgin, er habe sie vor vier Wochen am Theater kennengelernt und sie nun als Regieassistentin in die Filmproduktion eingeschleust. Er habe für Dunant ein Lazarett entworfen, eine gute hand- werkliche Übung sei das, so verdiene er sich das Stipendium ab. Übergangslos fügte er hinzu: »Birgit will weg aus der DDR. Wir müssen heiraten, dann schaffen wir es.«

»Das wird schwierig sein.«

»Klar. Aber du kennst mich ja: Ich lasse nie locker.«

Vor der Häuserzeile, wo Johann wohnte, wurzelten Birken in ummauerten Erdvierecken; einige Blätter hingen noch an den Zweigen, dass sie hier nicht eingegangen waren, wunderte mich. Das Leichte, das Luftige an Birken liebe ich, die silbrig gescheckten Stämme. Sie passten nicht in diese Straße, nicht in diesen maroden Stadtteil, und darum tat mir der Anblick gut.

Vier Treppen hoch ging es, stellenweise fehlte das Geländer, bei einer Stufe mahnte Johann zur Vorsicht, dort gähnte ein Loch. Er bewohnte eine große Doppelmansarde unter dem Dach, die man, nach einem Wanddurchbruch, lieblos zu einer Atelierwohnung umgebaut hatte. Zur Linken der vollgestellte Arbeitsplatz mit Leinwänden, über denen Tücher hingen, rechts der Wohnteil mit Matratzen auf dem Riemenboden, einem offenen Wandschrank, einer Küchenecke, einem Ölofen mit schwarzem Abzugsrohr, es gab sogar einen alten Kühlschrank, der ab und zu rumpelte wie eine Waschmaschine. Dazu ein Holztisch, ein paar Wiener Stühle. Zwischen die Dachsparren waren Isoliermatten genagelt, und man hatte drei quadratische Fenster eingepasst. Zeitungen, Bücher überall, mehrere volle Aschenbecher. Toilette und Bad – man könne es bei gutem Willen so nennen – seien eine Treppe tiefer, erklärte Johann, wir hätten sie für uns allein, das untere Stockwerk werde nicht mehr bewohnt. Das alles machte den Eindruck eines chaotischen Provisoriums, aber es sah nicht viel anders aus als Johanns Bleibe in Bern. Die Geruchsmischung war atemberaubend, das Terpentin dominierte, knapp vor dem abgestandenen Rauch.

 

Er zeigte auf eine Matratze, auf der ein paar Frauenkleider lagen. »Du schläfst hier. Du bekommst ein frisches Leintuch.«

»Und deine Birgit?«

»Sie hat eine eigene Wohnung, nicht weit von hier. Sogar einen Trabi, stell dir vor, andere müssen zwei Jahre darauf warten.«

»Dann ist sie aber privilegiert.«

»Tja, die richtigen Verbindungen, darauf kommt es an. Wo denn nicht?«

Kaum hatte ich die Reisetasche abgestellt, wollte Johann mir unbedingt seine neusten Bilder zeigen. Er lotste mich in die andere Raumhälfte, wo neben dem Tisch mit den Malutensilien und einem altmodischen Telefon gut ein Dutzend verhüllte Leinwände standen. Er zog das Tuch – es war ein altes vergilbtes Bettlaken – vom vordersten Bild, nicht schwungvoll, wie ich erwartet hatte, sondern mit Vorsicht, denn an einigen Stellen klebte der Stoff an der Farbe.

»Ich muss sie zudecken, sobald ich nicht arbeite«, sagte er beinahe kleinlaut. »Sonst lassen sie mich nicht in Ruhe. Und schreien danach, übermalt zu werden.«

Die Leinwand maß etwa zwei auf anderthalb Meter. Was ich sah, war eine Fläche voller Farbtupfen, Farbflecken, Farbstriemen, Farbhöcker, ineinanderfließend, nebeneinandergesetzt. Es überwogen die Grautöne zwischen Anthrazit und Perlgrau, mit Beimischungen von schmutzigem Gelb, Braun, Rosa, dazwischen Einsprengsel von grellem Rot und kleine aufgekratzte Leerstellen, wo die weiße Lein- wand durchschimmerte oder sogar aufgeschnitten und durchlöchert war. Teilweise hatte Johann die Farbe wohl direkt aus der Tube gedrückt, und die pastosen Stellen ergaben eine irritierende Dreidimensionalität. Die Malweise erinnerte mich an Pollock und war doch ganz anders. Bei näherem Hinschauen glaubte ich Muster zu erkennen, so etwas wie einander kreuzende Straßen oder Wege, und trotz der eingearbeiteten bunten Farbpunkte ging von dem Bild eine tiefe Melancholie aus, mehr noch: eine Verlorenheit, die mich bestürzte.

»Das ist …«, setzte ich an.

»Das ist für mich Ostberlin«, sagte Johann. »Du kannst dir nicht vorstellen, durch wie viele Straßen ich inzwischen gegangen bin. Ich male und lasse geschehen, was passiert. Die Bilder in meinem Kopf amalgamieren zu diesem hier. Verstehst du?«

Ich sah nun auch anderes auf der Leinwand, Schattenzonen, einen etwas dunkleren Streifen, der sich durch den Farbenwirrwarr zog, die Mauer vielleicht.

»Eindrücklich«, sagte ich, mir fiel nichts anderes ein. »Kannst du etwas damit anfangen?«
Ich schaute ihn an. Aus seinem Blick las ich die kindliche Bitte um Zustimmung. Man musste sich begeistern für ihn, sonst reagierte er mit Zorn oder Niedergeschlagenheit.

»Es kommt mir vor«, sagte ich, »wie die Ablagerungen unendlich vieler enttäuschter Hoffnungen. Wie farbgewordene Alpträume.«

Seine Miene hellte sich auf. »Das ist nicht schlecht. Das ist sogar gut.« Er tänzelte von einem Bein aufs andere wie oft, wenn er etwas auf den Punkt bringen wollte. »Man watet hier buchstäblich durch begrabene Hoffnungen. Und man fragt sich, wer oder was sie wecken kann.«

 

»Gorbatschow?«

»Nicht ein Einzelner. Da müssen kollektive Energien freigesetzt werden, von denen noch niemand etwas ahnt.«

»Wie denn?«

»Keine Ahnung. Sie pochen unterirdisch, sie zucken wie ein riesiges Herz, ein sterbendes vielleicht.« Er stutzte. »Das könnte ich malen. Dieses Herz als unförmiger Muskel. Oder ein gehäuteter Körper, in dem es träumt, darüber die Last des löchrigen Asphalts.«

»Ziemlich grausig. Moderner Bosch.«

»Ach, das sind bloß Ideen. Ich darf meine jetzige Bahn nicht verlassen. Sonst wird man im Westen nie ein Markenprodukt.« Er lachte, griff sich an den Kopf, zupfte am Pfer- deschwanz. »Willst du noch ein paar Bilder sehen?«

Ich bejahte. Er machte eine selbstironische Vorstellung daraus, zog die Tücher weg wie ein Zauberer und verbeugte sich vor mir, schob die Leinwände, eine nach der anderen, in mein Blickfeld. Die Bilder glichen sich, überall die Straßenzüge von weit oben, ein Flug über die Stadt wie bei Wim Wenders, überall dieses ausschweifende Grau, bleiern meist, aufgerauht, denn irgendwie, sagte er, sollten, als überbauter Untergrund, noch die Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs spürbar sein. Malerei in Schichten, so wie sich in seiner Vorstellung die Phasen der Geschichte übereinandertürmten, Geschichte, eine Schichttorte, das wäre eine andere Idee. Er achtete kaum auf meine kurzen Einwürfe, sein unbändiges Assoziieren trieb ihn weiter. Er zwinkerte ständig, er hatte sich eine Zigarette angezündet, blies achtlos den Rauch zu mir hin. Auf einem Bild hatte er in die linke Hälfte Münzen gedrückt, Westmark, in die rechte Körperteile und Kleidungsstücke, aus Zeitungsfotos gerissen und aufgeklebt, Augen, Hände, Fäuste, Krawatten.

»Der zerschnipselte Honecker.« Er drehte die Collage gleich um. »Das taugt nichts. Zu offensichtlich.«

Das Erste gefalle mir am besten, sagte ich.

Er stimmte mir zu, verhängte die anderen wieder, die Zigarette im Mundwinkel. »Ich muss noch weiterkommen. Harte Arbeit, verstehst du?«

Ich verstand, bisweilen blieb einem nichts anderes übrig, als Johann einfach zuzuhören; die Diskussionen fanden dann später statt, nach dem zweiten oder dritten Glas Rotwein.

»Kannst du etwas davon verkaufen?«, fragte ich.

Er drückte die Zigarette im nächstgelegenen Aschenbecher aus, rieb sich mit Daumen und Zeigefinger das unrasierte Kinn. »Habe schon einen Galeristen im Westen, Nähe Ku’damm. Ziemlich renommiert, der nimmt zwar vierzig Prozent, aber was soll’s.«

An diesem ersten Abend fehlte es ihm nicht an Geld. Er hatte schwarz gewechselt, das heißt in einem verschwiegenen Hauseingang DM gegen Ostmark umgetauscht, zu einem Kurs von eins zu acht statt der vorgeschriebenen Parität. Das stand unter strengster Strafe, es war ihm egal (oder zumindest tat er so). »Glaubst du, man würde mich deswegen in Bautzen einlochen?«

»Für zwei Wochen oder drei auf jeden Fall«, sagte ich.

»Ein Erfahrungsgewinn. Das müsstest du als Journalist zu schätzen wissen. Und danach würde ich, nach hochgeheimen Verhandlungen, von der Schweiz freigekauft. Einen bedeutenden Kulturschaffenden lässt man nicht einfach im Gefängnis vermodern.« Er knisterte provozierend mit dem Bündel von Scheinen, das er aus der Gesäßtasche gezogen hatte. »Ich lade dich ein. Ins Nobelhotel. Und Birgit kommt auch, da lernst du sie kennen. Sie holt uns ab. Du machst dich natürlich mitschuldig, wenn du die Einladung annimmst. Willst du?«

Ich zuckte mit den Achseln. »Mein Name ist Hase, ich weiß von nichts.« Meine alberne Nonchalance war gespielt, ich spürte ein Unbehagen, hätte es aber Johann gegenüber nie zugegeben.

Er lachte schallend. »Okay. Der Schweizer blickt der drohenden Repression furchtlos ins Auge. Aber wir müssen uns verkleiden.« Er schob im Schrank vollgehängte Bügel hin und her, warf zwei Anzüge und zwei Krawatten auf die Matratzen.

»Woher hast du die?«, fragte ich verblüfft.

»Aus dem Kostümfundus der DEFA. Leihweise natürlich.«

Wir zogen uns um. Der Anzug, den Johann mir gab, war mir zu eng, seiner passte besser. Die Kleider waren abgetragen, zweifellos für Statisten bestimmt. »Ich hatte dich schlanker in Erinnerung«, entschuldigte er sich und schlug mir auf die Schulter. Ich weigerte mich erst, mir auch noch die rotgepunktete Krawatte umzubinden, doch Johann bestand darauf. Im abbruchreifen Bad im unteren Stock gab es einen Spiegel, dort konnte ich den Knoten verbessern und über den eigenen Anblick staunen, wie vorher schon über den von Johann, der einem Film aus den Dreißigerjahren entstiegen schien.

 

Es dauerte eine Weile, bis Birgit kam. Johann schenkte mir am Tisch ein Glas Rotwein ein, bulgarischen, der mich an meine Studienzeiten erinnerte, als wir uns mit dem billigsten Fusel begnügt hatten. Das Läuten der Türglocke riss uns aus einer Diskussion über Warhol, der für Johann ein Scharlatan war, ebenso wie der Selbstdarsteller Beuys mit seinem ewigen Hut. Dass er den Hut einer Kriegsverletzung wegen trage, sei Legende, behauptete er, ein Marketingtrick.

»Wenigstens etwas, das hier funktioniert«, sagte er ins wiederholte Schrillen hinein. »Gehen wir.«

Er nahm einen englischen Herrenschirm mit, ein Riesending für zwei, das in einer Schrankecke stand. Ebenfalls DEFA, dachte ich. Unten wartete Birgit im Schutz des Vordachs, sie hatte ihren himmelblauen Trabi schräg zwischen zwei Birken geparkt. Eine schöne junge Frau mit breitem, stark geschminktem Mund und Lockenkopf. Sie trug ein enges schwarzes Kostüm, darüber einen teuer aussehenden, dezent gemusterten Schal. Sie begrüßte mich ohne Umstände mit zwei Wangenküssen, erklärte lachend, dass sie einiges über mich wisse, aber längst nicht alles, und schon saßen wir zu dritt – ich hinten, den Schirm über den Knien – im Auto, und Birgit fuhr in rasantem Tempo quer durch die Stadt, erzählte dabei fröhlich, es sei auf dem Set ein schrecklicher Tag gewesen, der berühmte französische Schauspieler, der den Dunant spiele, sei launisch, streite dauernd mit dem Regisseur, sie wisse nie, woran sie sich halten solle. Sie hatte eine warme Altstimme und eine hektische Redeweise; beinahe war ich neidisch auf Johann, dass er sich diese Frau geangelt hatte. Stau gab es keinen unterwegs, aber doch Fahrzeugkolonnen, mit denen ich nicht gerechnet hätte. Es war schon fast dunkel, die Lichter milderten den Eindruck von Verfall und Verwahrlosung, der am Tag vorherrschte. Wir hielten irgendwo an, wo alles plötzlich schöner war, weiträumiger. Ich erinnere mich nicht, wo wir aßen, jedenfalls in einem Interhotel (war es das Grand Hotel Berlin?), in dem man mit Ostmark statt mit Devisen bezahlen konnte. Ein wenig verlegen und widerwillig nahm ich teil an Johanns Inszenierung. Obwohl es kaum noch regnete, spannte er den Schirm auf, unter dem auch Birgit Schutz fand, zu dritt betraten wir die Hotelhalle, deren verschossener Prunk kulissenhaft wirkte. Wir wurden im halb- vollen Speisesaal (einem von mehreren) zu einem Tisch geleitet. An der stoffbespannten Wand, nahe bei uns, rahmten Ölporträts von Ulbricht und Honecker eines von Lenin ein. Die Miene des mürrischen Obers hellte sich auf, als Johann das Teuerste von der Speisekarte bestellte und sich so jovial gab, dass der Ober auf ein großzügiges Trinkgeld hoffen durfte. Er zündete eine Kerze an, empfahl uns einen halbtrockenen Wein von der Saale, der gar nicht so schlecht war, wie ich erwartet hatte. Ich glaube, wir bekamen Fleischspieße auf riesigen Tellern mit Bratkartoffeln und Krautsalat, zum Dessert einen Schwedeneisbecher, Birgit liebte dieses Gemisch aus Apfelmus, Vanilleeis und Eierlikör. Wir stießen immer wieder an, ließen die Gläser klingen. »Auf ein gutes Leben hier und anderswo!«, rief Johann so vernehmlich, dass die Gäste an den Nebentischen – sie waren gediegen gekleidet wie wir – zu uns starrten. Ich fragte Birgit, woher sie komme, was sie bisher gemacht habe. Es stellte sich heraus, dass sie die Tochter eines hohen Funktionärs im Innenministerium war. Die Privilegien, die damit verbunden seien, lehne sie im Grunde ab, sagte sie mit Emphase. Trotzdem sei es natürlich sehr bequem, dass sie nach dem Studium der Theaterwissenschaft gewisse Wartelisten umgehen könne; auf die übliche Weise wäre sie nicht zu einer Zweizimmerwohnung gekommen und schon gar nicht zu einem Auto.

»Auch nicht zu deinen Jobs«, ergänzte Johann. »Da warten Dutzende drauf.«

Sie versuchte, eine zerknirschte Miene zu machen. Er schlug ihr so kräftig auf die Schulter, dass sie einen abwehrenden Laut von sich gab, sein Handgelenk packte und leicht hineinbiss. Er übertrieb seine Schmerzensäußerung und zog erneut missbilligende Blicke auf sich. »Du bist ein Glückskind, liebste Birgit, aber sonst hätte ich dich gar nicht kennengelernt, und das wäre schrecklich.« Sie streichelte die Stelle, die sie malträtiert hatte, dann küssten sie sich stürmisch und ließen erst voneinander ab, als ein Herr am Nebentisch aufstand, zu uns trat und in korrektem, aber eisigem Ton um Anstand ersuchte, wir befänden uns hier seines Wissens nicht in einem privaten Raum.

»Schon gut, schon gut«, fertigte ihn Johann ab. »Wir sind wieder ganz brav, so lustfeindlich und prüde, wie es sich gehört.« Er war schon halb betrunken, doch der Gast mit dem Offiziersgehabe ließ sich nicht auf einen Streit ein und kehrte mit steifem Rücken an seinen Platz zurück.

»Diese Verlogenheit«, murmelte Johann, und Birgit wischte ihm mit einem Serviettenzipfel die Lippenstiftspuren von den Mundwinkeln.

Sie wolle weg aus der DDR, sagte Birgit auf einmal, mit gedämpfter Stimme, und warf den Kopf zurück, sie wolle unbedingt weg, aber dabei werde sie der Vater nicht unterstützen, das sei ihr klar.

Johann grinste. »Da werde ich eben Prinz Eisenherz spielen. Deshalb bin ich doch Birgits Auserkorener.«

»Quatsch!« Sie stieß ihn, halb aufgebracht, halb liebevoll, mit dem Ellbogen in die Seite.

Johann hatte eine schwere Zunge, die zweite Flasche war schon fast geleert. »Stell dir vor, sie will den Schweizer Bürger heiraten. Aus purlauterer Liebe!«

»Und das stimmt!« Birgit tat gekränkt, spitzte dann aber die Lippen zu einem Fernkuss und gurrte: »Ja ljublju tebja.«

Johann nickte feierlich. »Russisch kann sie auch. Ist das nicht toll?«

»Dir geht’s doch gut hier«, sagte ich. »Vergleichsweise, meine ich. Warum willst du weg?«

»Alle in meinem Alter, die ich kenne, wollen weg. Und die meisten anderen auch. Man kann sich Nischen schaffen hier, und meine sind groß, so paradox das klingt. Aber diese Enge, versteht du, die Enge in den Köpfen, die geographische. Ich will mal Frankreich sehen, Italien. Und natürlich die USA. Genau, das Land des Erzfeindes.« Sie nahm einen kräftigen Schluck Wein. »Dieses dauernde Freundschaftsgerede, sobald es um die sozialistischen Bruderländer geht. Soll ich deswegen Vietnamesen mögen? Kasachstaner? All die moralischen und politischen Vorschriften, die Überwachung auf Schritt und Tritt. Man kriegt ja richtig Atemnot.« Sie hatte nun doch lauter zu reden begonnen, sie merkte es und erschrak, ich sah die Tränen in ihren Augen. »Ich will«, jetzt flüsterte sie beinahe, »nicht als Zierfisch in diesem Riesenaquarium leben, vom Staat gefüttert, falls ich mich richtig verhalte.«

Ich wagte einen Einwand. »Drüben gerätst du dafür ins Haifischbecken, Darwinismus hoch zwei. Fressen und gefressen werden. Das nennt sich Kapitalismus.«

»Ist mir egal.« Sie schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, bremste im letzten Augenblick aber den Schlag ab, so dass man kaum etwas hörte. »Ich wehre mich schon. Und bei uns gibt es die Haie auch, sie tarnen sich bloß als Menschenfreunde und Volkserzieher. Das spielt mein lieber Vater perfekt.« Sie unterdrückte ein Schluchzen. Johann, der bei ihren Worten ernst genickt hatte, legte den Arm um sie, und sie lehnte sich kleinmädchenhaft an seine Schulter.

Wir schwiegen. Johann zahlte bald und wollte kein Wechselgeld auf die zwei Hunderterscheine, die er dem Ober zuschob. Wir wurden, zu meiner Verlegenheit, mit einem Bückling verabschiedet, Großzügigkeit schien die alte Klassengesellschaft wiederzubeleben. Am nächstgelegenen Tisch streckte ein Gast – absichtlich oder nicht – seinen Fuß so weit unter dem Tisch hervor, dass Johann darüber stolperte und beinahe hinfiel. Irgendwo wurde gelacht. Jemand sagte vernehmlich: »Du solltest dir die Haare waschen, du Ekeltüte.«

»Spießer!«, knurrte Johann. »Rennt euch doch die Köpfe an eurer Mauer ein!«

 

 

 

Lukas Hartmann, geboren 1944 in Bern, studierte Germanistik und Psychologie. Er war Lehrer, Journalist und Medienberater. Heute lebt er in Spiegel bei Bern und schreibt Bücher für Erwachsene und Kinder. Mit seinen Romanen, zuletzt Abschied von Sansibar, steht er regelmässig auf der Schweizer Bestsellerliste.

 

 

Lukas Hartmann

Auf beiden Seiten

Diogenes Zürich, 2015

Roman, Hardcover Leinen,

336 S., CHF 32.90

€ 23.90 (D). 24.60 (A)

ISBN 978-3-257-06921-1

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