FRONTPAGE

«Die zweite Schöpfung – Poesie und bildende Kunst»

Von Ingrid Isermann

 

Der Herausgeber Michael Braun hat mit Klaus Merz, Nico Bleutge, Gerhard Falkner, Marcus Roloff und Silke Scheuermann Gespräche über die Dichtung geführt, die von ihrer Auseinandersetzung mit Werken der Bildenden Kunst erzählen, von der intimen Begegnung der Poesie mit der Malerei.

«Ut pictura poiesis» – Eine Dichtung ist wie ein Gemälde, Dichtung ist wie Malerei»: Horaz’ fast magische Formel für das poetische Nachdenken über Kunst beschäftigt die in diesem Band versammelten Autoren, die sich in Gemäldegedichten, Essays oder Bildmeditationen den Werken der Bildenden Kunst nähern. Entscheidend ist für sie die Suche der Poesie nach einer angemessenen Blickachse, einem Orientierungspunkt, um die Tiefe der «pictura» auszuloten. So sind Texte entstanden, die in ihren Bild-Erkundungen einmal näher an die Kunstwerke herantreten, oder dann wieder aus der Ferne einen Zugang suchen.

 

Klaus Merz, Nico Bleutge, Gerhard Falkner, Marcus Roloff und Silke Scheuermann erzählen von ihrer Auseinandersetzung mit Werken der Bildenden Kunst, von der intimen Poesie mit der Malerei. Die fünf Dichter porträtieren sich somit hier gleichsam selbst, indem sie über Bilder schreiben, die für sie und ihr Werk von grosser Bedeutung sind. Neben den Korrespondenzverhältnissen zwischen Poesie und Bildender Kunst werden auch die biografisch-ästhetischen Urszenen der Autoren ausgeleuchtet. Ein Blick direkt in das Zentrum der dichterischen Werke.

 

 

Klaus Merz
Nordportal
Zu Matias Speschas «Meditation»

 

 

Die Geschichten liegen
hinter uns. Sparta, die Liebe
Kernkraft und Federboas
Kimme und Zorn.

 

Zurück bleiben Simse, Fugen
das Nordportal. Die Farbe der
Kormorane verwahrt sich
gegen das Morgengrauen.

 

Keine Tiere in Sicht, weder
Jäger noch Hirt. Kein Haus-
stock im Abendlicht, jedoch
linkerhand immer Gibraltar.

 

Kaum hörbar Gesang jetzt, eben-
erdig. Teile vom Grauen setzen
sich hinter der Jute fort. Kaddisch
quadriert, ein Klafter Nacht. Auch

 

das schwere Wort Rampe taucht hoch.
Oder stehn wir an einem Stonehenge-
Gehege im Krippenrechteck – was wird
uns souffliert von der Hünenbühne?

 

 

 

Nico Bleutge
charakterkopf, abteilung Messerschmidt (F.X.):I

 

metall ist das, die kaum polierte platte, ist so voller
lust. da spricht der mund sich aus, die zunge
in der höhlung ist ein keil. da spannen sehnen sich, ein keil
aus einem kopf, den an der halsschlagader falten
auf dem sockel halten. kopf, der aus metall und also kalt
in deine fingernägel geht, wenn du die wulstig aus
geformten runzeln an der nasenwurzel fleckig schnippst.
dem hübschen plattenträger will der schädel
knochen fremdling sein, die lippen scheusslich hart, ich
möchte ein solcher werden, wie einmal ein anderer
gewesen ist. so sagt es ihm, in einer richtung soll die stirn
ein rippenlager sein, darunter wölben sich die augen
lider, still, als sei die zeit in diesem kahlen schädel an
gehalten, festgestellt. wo doch die zunge weiter
flüstern und die knochen knacken will. das ist metall
und hält den ton, auf einer kaum polierten platte.

 

 

Gerhard Falkner

Ignatia 5

 

Derrida! die Blumen sind da!

il y a les fleurs et il y a les fleurs

Tandaradei

die Welt ist so online und die Ottern lachen.

Verbrechen gegen die Humanität

bleiben ungesühnt.

Na fabelhaft! alles so saussure!

Den Träumen sind wir entschlafen

den Bild-, Bankett- und Blütenträumen

die vom Honig glühen.

Unsere Herzen schlagen für die Hologramme

Herodes

der Spötter, Tetrarch und Ehebrecher

erobert die Charts, die anwesenden Christen sind

bezaubernd jung und überraschend preiswert.

Alles besitzt uneingeschränkte Relevanz

selbst Antiödipus, Hamletmaschine

und Hölderlin Reparatur machen

keine Ausnahme.

Der Unterschied

zwischen Curt Goetz und Rainald Goetz

zwischen Ann Cotten und Jerry Cotton

ist, genetisch gesehen, irrelevant.

Alles die gleiche Homöobox

das gleiche, trügerische Schillern von Aminosäuren

genetische Strickleitern, codierte Erblast.

Dahin die Nächste, die Räusche

der Innigkeit probates Inventar

die Spechte fort, die mit ihrem Lachen

ins Trinklied der leichten Landschaften

einstimmten oder die ersehnten Ergebnisse

aus den Rechenzentren der Rehkitze

die den Ruf nach der Anabasis laut werden lassen

dem Aufstieg.

Doch sei die Sache wie sie sei, ob Aue

oder Heide, notfalls

erklingen wir auch unverrichteter Dinge

 

 

 

Marcus Roloff

dämmerung (schaubude)

 

beweis dass ich sehe (ich-taste)
ich totes werkzeug stehe

 

im leeren raum
versagt mir das licht
wie zu boden gefallene milch

 

die ahnung

klopfenden flimmerns des films
der ununterbrochen beginnt

 

die leinwand das
gefrorene handtuch in dem ich
verschwand

 

mein nicht geschnittener
blick (immanenz). wirf mich durch etwas
gegen null gehendes

 

aus dem raum zurück

 

(zu James Turrell «Twilight Arch», 1991)

 

 

 

Silke Scheuermann

Helenas Traum
Marlene Dumas: «Helena’s Dream» (2008)

 

Irgendwann muss Schluss sein,
aber vorerst träume ich noch.

 

Ich werde eine schöne Frau sein,
die niemanden ansieht und
niemals gefällig sein will.

 

Trotz meines Herzens aus Stein
besänftige ich die Mutter,
befreie den Vater von
falschen Verbänden
und zeige ihm, was eine echte Wunde ist.

 

Im weichen Mund der Zeit

sitze ich,

kalt und hart ist mein Herz,
und nichts wirst du in mir
von der bekannten Welt finden.

 

Erst wenn ich kein Kind mehr bin,
werde ich ausgeträumt haben.

 

 

Meine Arbeit ist allzu einfach:
Ich klettere auf Masten, um den
Wanderern und Pendlern,
den Vögeln und Liebenden
meine Weisheiten einzuflüstern.

 

 

Alle täusche ich, die Allmächtige.
Ich flüstere Wahrheiten, die nur die
Empfänger verstehn.
Wie du mich verstehst,
wenn wir uns lieben.

(Ausschnitt)

 

 

Nico Bleutge, *1972 in München, studierte Neuere Deutsche Literatur, Rhetorik und Philosophie in Tübingen. Er lebt als freier Schriftsteller und Literaturkritiker in Berlin. Gedichtband «verdecktes gelände» (C.H. Beck, München 2013).

 

Gerhard Falkner, *1951 in Schwabach, Ausbildung zum Buchhändler, publiziert sei 1981 Gedichtbände, Prosa und Essays. Er lebt als freier Schriftsteller, Herausgeber und literarischer Übersetzer in Berlin und veröffentlichte zuletzt die Bände Pergamon Poems (Kookbooks, Berlin 2012) und Ignatien, Elegien am Rande des Nervenzusammenbruchs, mit Filmstills von Yves Netzhammer, übersetzt von Ann Cotten (Starfruit Publications, Nürnberg 2014).

 

Klaus Merz, *1945 in Aarau, absolvierte eine Ausbildung zum Sekundarlehrer in Wettenden und Lausanne, Mitglied der Akademie für Erwachsenenbildung Luzern. Er lebt als freier Schriftsteller in Unterkulm/Schweiz. Zuletzt veröffentlichte er Band 6 und 7 der Klaus-Merz-Werkausgabe die Bände «Brandmale des Glücks». Prosa 1996-2014 und «Ausser Rufweite». Lyrik 1992-2013 (Haymon Verlag, Innsbruck 2014 und 2015).

 

Marcus Roloff, *1973 in Strelitz/Neubrandenburg, studierte Neuere deutsche Literatur, Philosophie und Kulturwissenschaft in Berlin. Er lebt als freier Schriftsteller und literarischer Übersetzer in Frankfurt am Main. Er veröffentlichte zuletzt den Band «reinzeichnung» (Verlag Wunderhorn, Heidelberg 2014).

 

Silke Scheuermann, *1973 in Karlsruhe, studierte bis 1998 Theater- und Literaturwissenschaften in Frankfurt, Leipzig und Paris, lebt als freie Schriftstellerin in Offenbach. Sie veröffentlichte zuletzt den Roman «Die Häuser der anderen» und  den Gedichtband «Skizze vom Gras» (Schönling & Co, Frankfurt am Main 2012 und 2014).

 

 

Michael Braun
Die zweite Schöpfung
Poesie und Bildende Kunst
Wunderhorn Verlag,Heidelberg 2016
Klappenbroschur, 80 S. mit Abb.
€ 17.90
ISBN 978-3-88423-522-5

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