FRONTPAGE

«Lyrik des 21. Jahrhunderts: Aus Mangel an Beweisen»

Von Ingrid Isermann

 

In seiner epochalen Gedichtsammlung Transit hatte Walter Höllerer 1956 die ideale Form einer zeitgenössischen Lyrik-Anthologie geschaffen. Er entwickelte sie als ein «Mosaik vieler Felder, in dem jeder Teil zu dem anderen in bewegliche, erfinderische Nachbarschaft treten kann».

 

Auf dieses Verfahren der korrespondierenden Motive und intertextuellen Referenzen greift auch die von Michael Braun und Hans Thill komponierte Lyrik-Anthologie «Aus Mangel an Beweisen» zurück, die mit Texten von rund 100 Autorinnen und Autoren einen Kanon der deutschsprachigen Lyrik des 21. Jahrhunderts vorlegt.

Um die Aggregatzustände der gegenwärtigen Lyrik einzufangen, folgt sie einer bewährten Maxime: «Gedichte sind nicht zum Träumen da, sondern zum Aufwachen». (G. Falkner) Eine Bestandsaufnahme des lyrischen Jahrzehnts – einzigartig in der literarischen Landschaft Europas. Seit nunmehr 40 Jahren begleitet das Tandem Michael Braun und Hans Thill die Szene der zeitgenössischen Poesie in Deutschland. Aus «Mangel an Beweisen» erweist sich erneut als ein faszinierendes Spiegelbild der formenreichen poetischen Landschaft Deutschlands. Und mit poetologischen Essays von Yevgeniy Breyger, Franz Josef Czernin, Dagmara Kraus, Brigitte Oleschinski und Uljana Wolf.

Brigitte Oleschinski, *1955 in Köln, lebt in Berlin, schreibt in ihrem wunderbaren Essay «Stangenverhau, déjà vu»:

 

«Was Gedichte sind, entdeckt das eigensinnige Dichten mit jedem einzelnen Gedicht neu. Hinter ihm, ihm voraus, rundum kann es sich berufen auf die anthropologischen Inventare, die zu allen Zeiten, in allen Sprachen, an allen Orten der Welt in der Poesie eine besondere Form des Sprechens entwickelt haben. Warum schreiben Sie?, werde ich öfter gefragt, wenn ich als gerade auftretendes Exemplar der Berufsgruppe Dichter mit Publikum spreche. Wegen dieses Horizonts, sage ich dann auf die eine oder andere Art, dem frühesten, zwingendsten Sprachvermögen der Poesie, das sich menschheitsgeschichtlich in alle anderen Kult-, Sozial-, Wissens- und Technikformen hinein entfaltet».

 

Ann Cotten

 

Rosa Meinung

 

In des Landgerichtes Fotze

geh ich als ein blasser Traum,

Frau ist alles, was ich kotze,

lauter Wahrheit dieser Raum.

 

Dass man mir mein Schwärmen nähme,

denk ich, aber glaub es kaum.

Dieser Prunk im schmalen Schosse

ist der Trödelväter Schaum.

 

Wenn ich nur die Arme breite,

ächzt er wie ein Eichenbaum,

kracht in brüchig tausend Scheite,

schäumt, dass ich, Blitz, ihn ableite.

Brenn zu Asche, mich zu wärmen!

 

 

(Denn ich will von Deutschland lernen.)

 

Ann Cotten, *1982 in Ames/Iowa, lebt in Wien und Berlin. 

 

 

Uljana Wolf

 

kleine sternmullrede

 

sist zappenduster im gedicht, welche sprache es wohl spricht?sternnase anstellen, tasten, fahnden, schmale fläche hier, seidene falz. könnten tofuwürfel sein, oder toffee, wenn die ränder schroffer wären, an den rändern liegt so manches, nur wo lieg ich? verweilung, auch am vertrautesten nicht. lange gänge, mischung der schichten, luft rundum – will sagen: terrine oder terriersnack. ach käm ich weg, nach draussen, wo die fahnen der namen wehen, ich fänd ein wort für meine lage, aber wo nehm ich, wenn in dunklen regalen, wo so ein sauberes sprechen, eigen rechts und feigen links? ich höre husten, dumpfes traben, naht er schon, der hundefreund? ein grenzermund? oder trecker, ja: verkauf die mal.

 

Uljana Wolf, *1979 in Berlin, lebt in Berlin und New York. 

 

 

Herausgeber
Michael Braun, geboren 1958 in Hauenstein/Pfalz, Studium der Germanistik und Politischen Wissenschaft, lebt als Literaturkritiker in Heidelberg. Er veröffentlicht Essays zu Fragen einer zeitgenössischen Poetik. 2007 bis 2011 gibt er den Deutschlandfunk-Lyrikkalender heraus (Wunderhorn), seit 2012 den Lyrik-Taschenkalender. 2018 Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik.

 

Herausgeber
Hans Thill, geboren 1954 in Baden-Baden, lebt seit 1974 in Heidelberg als Lyriker und Übersetzer. Peter-Huchel-Preis 2004. Mitbegründer des Verlags Das Wunderhorn. Leiter der jährlichen Übersetzer-Werkstatt »Poesie der Nachbarn. Dichter übersetzen Dichter« und Herausgeber der gleichnamigen Reihe. Mitherausgeber der »Reihe P«. Im September 2010 wird Hans Thill künstlerischer Leiter des Künstlerhaus Edenkoben.

 

 

Hg. Michael Braun Hans Thill

Aus Mangel an Beweisen
Deutschsprachige Lyrik des 21. Jahrhunderts
240 Seiten, Wunderhorn Verlag, 2018
24,80 €
ISBN: 978-3-88423-601-7

 

 

 

«Lyrik aus Georgien: Bela Chekurishvili»

 

«Fortgegangen bin ich ohne Rückfahrkarte». Die Gedichte Bela Chekurishvili, geboren 1974 in Georgien, künden von der Radikalität des Aufbruchs aus der Enge des Vertrauten in eine ungewohnte Weite, der Übersiedlung nach Deutschland. Die Verse spiegeln Erfahrungen eines Lebens in zwei Welten, barfuss bewegen sie sich auf Glatteis, Wiese und Asphalt.

 

Die verblasste sowjetische Kindheit, Armut und Glanz der Traditionen, destruktive Lieben, das Altern der Eltern, in mitreissendem Rhythmus evoziert und von der Dichterin berührend zum Gesang gebracht.

 

 

 

Einfache Fahrt

Fortgegangen bin ich ohne Rückfahrkarte,
ohne Aufstand, Lärm, Theater,
hab den Brunnen nicht vergiftet, noch verbrantte ich die
Brücken hinter mir.
Ohne Kommentare bin ich gegangen,
so wie es die Helden in den Büchern tun,
in ein Jenseits oder Diesseits,
und sie wissem immer, das ist Schicksal, und sie stellen keine
Fragen.

 

 

Hab gedacht ich komme niemals wieder,
und in den Erinnerungen, die Bedeutung haben,
srich ich alle wesentlichen Namen,
und jetzt ist dort nur ein weisser Fleck.
Die weissen Strümpfe von der 1. Mai-Parade,
der Backofen der Grossmutter mit dem frischen Brotgeruch,
und Grossmutter ist selber weiss geworden, weiss vom Mehl und
… von den vielen Jahren.
Vaters Garten der Wassermelonen und Grossvaters Weinberge
nicht zu vergessen.

 

 

Fortgegangen bin ich ohne Rückfahrkarte.
Vielleicht erscheint es manchen auch als Flucht.
Womöglich wird sich mancher sagen, ich hätte das Alleinsei
Nicht mehr gut ertragen,
Zweifel hätten mich heimgesucht,
die Armut hätte ihres dazu beigetragen,
auch hätte ich mich nict geliet gefühlt,
oder die Abenteuer hätten ausgespielt.
Nachreden gehen uns hinterrücks an,
wenn es auch niemand laut aussprechen kann,
dass wir immer auf ein Zeichen warten,
wir lauern vorsichtig, ob was im Wege steht,
und dieses Etwas ist vielleicht der Weg,
der weite, unbekannte,
aus uns selbst heraus,
wenn keine Antwort mehr vonnöten ist und du auch selbst
keine Antwort gibst,
wenn nichts und niemand da ist, der dich stützt,
und du gehst fort,
ganz gleich, wie lange und an welchen Ort.

 

 

 

Was weiss ich über meinen Vater?

 

Achtzig Jahre ist mein Vater geworden.
Sein Gedächtnis löscht sich langsam aus – bemerkt der Arzt
Und fügt hinzu: «Der Vorgang ist leider irreversibel».
Es fällt ihm schwer, uns dabei anzuschauen.

 

 

Was wissen wir noch über unseren Vater,
ausser, dass er nun schon achtzig ist
und dem, was uns der Arzt gesagt hat? –
und wir Geschwister stehen da und üben uns im
Achselzucken.

 

 

Du bist so schlampig wie dein Vater, schimpfte Grossmutter
mich aus,
wenn ich die Anziehsachen auf das Bett gepfeffert hatte,
Bücher unter der Bettdecke las
und auf Bienenwachskerzen herumkaute.

 

 

Lüge nicht wie dein Vater, ich kriege es doch sowieso
Heraus –
drohte Mama mir, wenn ich nicht ehrlich war,
und meine Stoffturnschuhe in der Tasche steckten,
und heimlich schrieb ich in mein Tagebuch.

«Ach, du bist ja wie dein Vater,
immer willste du deinen Kopf durchsetzen,
lass es doch, du schaffst es nicht, den anzuheben»,
lachte mich ne Nachbar aus,
weil ich den Handkarren ergriffen hatte, mit den vollen
Wasserkrügen.

 

 

Nun, was weiss ich sonst noch über meinen Vater?
Wenn er betrunken war, dann war er übellaunig, und hatte
allezeit nur wenig Geld,
so dass die Frauen ihn reihum verliessen,
im Alter sass er dann alleine da.

 

 

Einmal kam ein Junge,
der auf meine Zehen glotzte, die aus den Sandalen guckten,
er konnte gar nicht aufhören zu starren
und sagte schüchtern, wie sonderbar sie beieinander stünden.
«Ja, mein Vater hat genau die gleichen Zehen».
Ich lächtelte ihn an und ich umarmte ihn.

 

 

Was weiss ich sonst noch über meinen Vater,
ausser dem, was uns der Arzt gesagt hat?
Ich werde nichts mehr in Erfahrung bringen,
weil ich mich in einem anderen Land befinde.
Und wenn sein Kahn ablegt zum jenseitigen Ufer,
kann er meine Hand nicht drücken,
und anders, als man es aus Filmen kennt,
kann er mir kein Zeichen geben,
kein Versäumtes mehr erzählen,
aber das muss ihn überhaupt nicht quälen,
weil ich genau jetzt bei ihm bin.

 

 

 

Bela Chekurishvili, geboren 1974 in Gujaani (Georgien), hat georgische Sprache und Literatur an der Universität Tiflis studiert. Sie arbeitet als Kulturjournalistin und ist Doktorandin für Komparatistik an der Universität Tiflis; zur Zeit studiert sie an der Universität Bonn, Autorin von drei Gedichtbänden. 2018 ist Georgien Gastland auf der Frankfurte Buchmesse.
Der Wunderhorn Verlag, 40 Jahre alt geworden, ist mit dem baden-württembergischen Landespreis für ambitionierte Kleinverlage 2018 ausgezeichnet worden. Wir gratulieren!

 

Norbert Hummelt, geboren 1962 in Neuss, lebt als freier Schriftsteller in Berlin.
Zuletzt erschienen: T.S. Eliot, Vier Quartette/Four Quartets (èbersetzung 2015) du der Gedichtband Fegefeuer (2016).

 

 

 

Bela Chekurishvili
Barfuß
Gedichte
Übersetzung: Norbert Hummelt
Wunderhorn Verlag, 2018
90 Seiten,
19,80 EUR
ISBN: 978-3-88423-593-5

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