«Margrit Schriber: Die Stickerin oder wie ein armes Bauernmeitli zur reichen Tante aus Amerika wurde»
Von Ingrid Schindler
Vom Grüt in Eggerstanden an die 5th Avenue in New York: Vor rund hundert Jahren nahm der abenteuerliche Aufstieg der Maria Antonia Räss seinen Lauf. Autorin Margrit Schriber widmet der aussergewöhnlichen Innerrhoderin eine fesselnde Romanbiografie. Wahrhaftig märchenhaft!
Wer hat schon von Maria Antonia Räss (1893-1980) alias «Miss Räss» aus Eggerstanden gehört? Die wenigsten St. Galler und Appenzeller können mit dem Namen etwas anfangen. Mit Eggerstanden schon: «Munzige» Bauernhäuser mit niedrigen Decken und durchgehenden Fensterbändern, ohne Gärten verstreut im sattgrünen, Wellental zwischen Fähnern und Hohem Hirschberg. Mit Kühen, einzelnen Prachtsbäumen und den Felszacken des Alpsteins im Hintergrund sehen die Eggerstander Möser nach einer idealtypischen Vorlage für Appenzeller Brauchtumsmalerei aus. Eine kleine heile Welt, vier Kilometer von Appenzell Richtung Rheintal entfernt, die in der Abendsonne fast überirdisch schön zum Spazierengang einlädt.
Am Rand des eigentlichen Dorfs sticht ein Betonklotz mit pyramidenförmigem Glockenturm ins Auge, der so gar nicht ins Bild passen will: die Kirche St. Josef. 1973 erbaut, ist sie noch heute die modernste im Kanton, obwohl Eggerstanden noch nie eine eigene Pfarrei war, sondern Appenzell untersteht. Wie wohl ein 500-Seelen-Dorf dazu kam?
Eggerstanden war seit jeher dünn besiedelt, da die unfruchtbaren Sümpfe nichts hergaben. Erst im Zuge der Anbauschlacht wurden sie nach Ende des 2. Weltkriegs trockengelegt und 73 Hektar Land mithilfe von 66 Kilometern Leitungen gewonnen. Die Bauernhäuser samt den dazugehörigen Ställen, Scheunen, Web- und Stickereilokalen sind heute wegen ihrer pittoresken, unverbaubaren Alleinlage hochbegehrt und werden aufwändig zu reizvollen Ensembles umgebaut.
«Ein hungriges Maul weniger am Tisch»
Um 1900 war die St. Galler Broderie weltberühmt und die Appenzeller Landbevölkerung bitterarm. Die wenigsten Bauern konnten von der Viehhaltung leben, weshalb sie ihre Existenz durch Heimarbeit für die St. Galler Textilindustrie sicherten. Was bedeutete, die Frauen stickten und die Kinder fädelten. Kinderreiche Familien schickten die Mädchen schon vor der Einschulung an die Handstickmaschinen in feuchtkalten Kellern. Die Schulpflicht war manchem Bauern ein Dorn im Auge, denn dann fiel eine Arbeitskraft aus.
Solch ein Kindersklaven-Los teilten sich Maria Antonia Räss und ihre Schwestern vom Grüt bei Eggerstanden. Die Eltern waren einfache Geissenbauern. Bei 14 Kindern waren sie froh um jedes «hungrige Maul weniger am Tisch». Zu arm für Puppen, warme Schuhe oder Spiele unterm Nussbaum und noch zu klein für die Schule, arbeiteten die Räss-Mädchen schon mit vier Jahren als professionelle Fädlerinnen und konnten «ganze Plattmuster von der ersten Ranke bis zur letzten Blüte durchsticken», wie Margrit Schriber in ihrer Romanbiografie «Die Stickerin» schreibt.
«Fädeln klingt nach einer einfachen Beschäftigung», heisst es dort. «Es bedeutet aber, dass ein kleines Mädchen beim ersten Hahnenschrei loszottelt, um in einem entlegenen Webkeller bis zur Dunkelheit den Faden durch dreihundertzwölf doppelöhrige Nadeln zu ziehen. Damit die Maschine störungsfrei funktioniert, muss flink gearbeitet werden. Pausenlos. Stunde um Stunde.»
Maria Antonia Räss, 1893 als siebtes Kind geboren, steht im Mittelpunkt von Schribers Roman. Sie besitzt nicht nur Geschick im Übermass, sondern auch Mut und einen klugen Kopf. Seit sie den Fuss in den Webkeller der Mansers setzen muss, weiss sie, was sie will, und träumt vom Aufstieg zur Schaustickerin. So nennt man junge, hübsche Stickerinnen, die in schmucker Tracht ihr Handwerk als eine Art Tourismusbotschafterinnen in der Fremde vorführen. Mit 16 Jahren erfüllt sich Maria Antonias Wunsch, die erste Reise führt sie ins St. Galler Rheintal hinunter.
Disneys «Fairygirl»
Das Rheintal wird für die mutige, kleine Tochter des Geissenbauern das Tor zur grossen, weiten Welt. Die nächsten Reisen führen sie nach Bad Ragaz, Budapest, Düsseldorf, Wien und ins wilde Berlin, wo die Appenzellerinnen «die Wünsche der verwöhnten städtischen Kundschaft in feines Gewebe sticheln» und zum Publikumsmagneten werden. Nach Ausbruch des 1. Weltkriegs heisst es: «Schluss mit Auslandsreisen. Showtime für Panzerbrigaden und Fluggeschwader … Wer will an monogrammierte Wäsche denken, wenn Löcher in den Häusern klaffen»?
Im Tessin trifft Maria Antonia 1917 auf einen blutjungen, unbekannten US-Soldaten: Zufällig sitzt sie neben Walter Elias Disney aus Missouri auf einer Parkbank. «Die Stickerin» macht mächtig Eindruck auf den Amerikaner, er nennt sie «Fairygirl» und «Tante Daisy mit Rüschenschürze». Ihre gestickten Appenzeller Szenen sowie eine Brauchtumsmalerei ihres Vaters auf Holz, die sie ihm verkauft, hinterlassen Spuren in seinem Werk. Ob sie den später weltberühmten Trickfilmer tatsächlich zur Erfindung von Mickey Mouse inspirierten, sei dahingestellt. Als gesichert gilt die lebenslange Freundschaft der beiden. Sie stickt Märchen in Stoff, er bringt sie zu Papier und auf die Leinwand. Er schätzt an ihr, was sie an ihm bewundert: Fantasie, Besessenheit und planvolles Vorgehen, «keine Linie überlässt er dem Zufall» – und sie keinen Stich.
Märchenhafter Aufstieg in New York
Walt Disney ist es, der die Appenzellerin nach New York lockt. Von ganz unten und ohne jede Hilfe errichtet sie in bester Tellerwäscher-Manier ein Broderie-Imperium unter dem Label «MRA» an der 5th Avenue. Die Verwandtschaft in Eggerstanden stickt nun für «diese kleine Verrückte mit dem hellen Verstand, den strategischen Fähigkeiten und eisernen Nerven.» Das Broderie-Geschäft ist ihre Bühne, auf der sie weiterhin in Tracht auftritt.
Ausserhalb ihres Spitzenreichs bewegt sich die Selfmade Woman zunehmend selbst wie ein Star in der Welt der Schönen und Reichen. Perlenketten, Seidenstrümpfe, Beautycases und ein weisser Cadillac mit schwarzem Chauffeur werden zu Insignien ihres gesellschaftlichen Aufstiegs. Sie entwickelt sich zur Mode-Ikone, verkehrt mit Coco Chanel, jettet für das Broderie-Haus durch die Welt, kauft Textilfabriken in Hongkong auf, da die Eggenstander den Bedarf längst nicht mehr decken, kehrt auf Stippvisiten in die Heimat zurück und entspricht dort par excellence dem Klischeebild der «reichen Tante aus Amerika».
Die Kraft des Nussbaums
Mit zunehmendem Erfolg wird der Kontrast zwischen der «Dame Räss» und den Appenzellern immer grösser. Je weiter Räss’ Welt wird, desto enger erscheint die Heimat und desto abgehobener wirkt die «Crazy Woman» auf die Hiesigen: «Wir erwarten unsere Besucher unter dem Nussbaum. Tischen Most auf, plaudern, streichen das Hackbrett und singen. Sie aber rückt mit unzähligen Koffern an, lässt das Taxi vor dem Hoteleingang warten, pfeift uns zu sich ins Nobelhotel und hält Hof.» Überhaupt der Nussbaum: Sein «Wispern» steht für die Kraft der Heimat. Und die ist sehr vital. Er ist das Symbol für Leben und Tod schlechthin.
Räss’ Heimatbesuche gehören zu den starken Szenen des Buchs. Die Luzerner Autorin fängt Appenzeller Stimmen und Stimmungen authentisch ein. Sinnlicher kann man Gegensätze kaum herausarbeiten, wenn etwa die Parfumwolke der «Dame Räss» auf den Geruch des Geissbocks und Frischluft trifft. Die eigenen Wurzeln lassen sich nicht mit Geld und Glanz übertünchen. So weltgewandt Maria Antonia auch auftritt, redet sie im «Altfrentsch eines ungehobelten Geissenbauern» und «rollt das R im Gaumen wie der knurrende Bläss».
Nach fünfzig Jahren übergibt die Unternehmerin 1973 schliesslich ihr Broderiegeschäft im Rockefeller Center an der 5th Avenue in jüngere Hände. Im selben Jahr wird die Kirche in Eggerstanden gebaut. Sieben Jahre später kehrt Räss zum Sterben dorthin zurück. Der Herzton schlägt eben im Heemet. 1980 wird sie wird auf dem Eggerstander Friedhof begraben.
Taschentuch versus Tempo
Margrit Schriber lässt den Roman mit der Erbteilung im Appenzeller Rathaus nach dem Tod der Heldin beginnen und auch damit enden. Die Erbteilung bildet den Rahmen um den eigentlichen Handlungsstrang, die Lebensgeschichte der Maria Antonia Räss, in Ich-Form von der Gehilfin des Notars erzählt. Der chronologische Ablauf der Ereignisse wird immer wieder durch Erbteilungsszenen in Appenzell unterbrochen. Eine raffinierte Methode, um die ausschliesslich in der Distanz der Aussenperspektive geschilderte Heldin in verschiedensten Facetten zu zeigen. Ein Wechsel in die Innenperspektive findet nicht statt, was zu einem «Stockfisch» wie Räss passt, der keine Gefühle zeigt und sich nicht in die Karten schauen lässt.
Auf der Erb-Stobete versammeln sich 34 Erben der Familie sowie Niko Manser, der «Erbschleicher», der eine zentrale Rolle im Leben der Stickerin spielt. Wie Maria Antonia ist der Adoptivsohn der Fabrikbesitzer, die sie als Kind ausbeuteten, ein Aussenseiter, der ihr in mancher Hinsicht ähnlich ist. Seinerzeit der begehrteste Junggeselle in Appenzell und Jugendfreund der Protagonistin, entwickelt er sich zu ihrem Gegenspieler und verkörpert ihre Schattenseite. Während Räss für das handbestickte Mouchoir, das zeitüberdauernde «Liebespfand», steht, vertritt Manser als «Nummero Uno im Niederreissen der Heimstickkultur» das Wegwerftuch.
Trotz einer nicht immer stilsicheren Sprache gelingt Margrit Schriber ein lesenswertes, fesselndes Porträt einer aussergewöhnlichen Frau und ein interessanter Einblick in ein Stück Appenzeller Zeitgeschichte. Ihrer Romanbiografie fällt das Verdienst zu, MRA im Gedächtnis zu bewahren. Und am Ende weiss man, warum in Eggerstanden jene Kirche steht.
Margrit Schriber, 1939 in Luzern geboren, lebt in Zofingen und in der Dordogne. Sie arbeitete als Bankangestellte, Werbegrafikerin und Fotomodell, bevor sie Schriftstellerin wurde. Ihr umfangreiches literarisches Werk wurde mehrfach ausgezeichnet.
Margrit Schriber
Die Stickerin
Bilgerverlag, Zürich 2024
Hardcover, 231 S., CHF 30.
ISBN 978-3-03762-111-0