FRONTPAGE

«Martina Clavadetscher: Cyberfrauen auf der Suche nach sich selbst»

Von Ingrid Schindler

 

«Die Erfindung des Ungehorsams» wirft einen Blick in die nahe Zukunft und schreibt den Frankenstein-Topos aus feministischer Sicht fort: Maschinenfrauen machen sich frei und lassen sich nicht mehr von weiblichen Menschen unterscheiden. Für ihr genial komponiertes, mit literarischen und filmischen Bezügen dicht verknüpftes Werk hat Martina Clavadetscher 2021 den Schweizer Buchpreis erhalten.

«Der Geruch hat ein Geräusch. Der Klang der Verwesung ist wie das Summen von Fliegen.» Ein eigenwilliger lyrischer Sound zieht sich im Flattersatz durch das Buch. Jeder Satz hat Bedeutung, Rhythmus, Poesie. Eingangs ist es eine verwesende Marille, die Iris hinter der Küchenablage in ihrem New Yorker Penthouse-Appartement zu Anfang des Romans entdeckt. «Ein Flaum umgibt die tote Kugel, ein weisser Schein aus Schimmel.» Iris lügt, als Eric sie fragt, ob alles in Ordnung sei. Sie bejaht und denkt an Ada und «all die Frauen da draussen, die wie tickende Zeitbomben irgendwo ihr Leben meistern». Und sie denkt an ihre Geschichte, die sie als nächste ihren Zuhörern Eric, Godwin und Wollstone auf der kommenden Erzählsoiree zum Besten geben wird.

Am Ende des Romans hat die Verwesung den Kern der Marille blossgelegt und Iris kugelt ihn unter der Ablage hervor. In Martina Clavadetschers gar nicht so ferner Zukunftsvision geht es immer um den Kern und das Entblättern der Hüllen, die die Wesen Schicht für Schicht umgeben. In lyrischer, an Slam Poetry erinnernder, analytisch klarer Sprache legt die Autorin Kern für Kern frei. Zwischen den Marillenkernen entspannt sich die eigentliche Geschichte, die Iris erzählt: Diejenige von Ling Olem, durchs Band als «Halbschwester» etikettiert. Ohne sie wäre sie nicht hier, sagt Iris. «Meine Schwestern und ich haben ihr viel zu verdanken».

 

In der chinesischen Sexpuppenfabrik
Ling lebt in Guangdong, einer Stadt am Perlfluss in Südchina, in deren Fabrikbaracken «ununterbrochen Gegenstände geschaffen und herausgepresst» werden. Die Halbschwester arbeitet in einer Fabrik für Sexpuppen. Ihr Job ist es, kopflose, lebensechte Silikonpuppen, die «wie geschlachtetes Vieh einfach in Umkehrung wie geschaffenes Vieh» in der Frauenfabrik an Haken hängen, auf Fehler zu kontrollieren und sie makellos zu machen. Solange sie ohne Kopf sind, sind sie frei, ohne Besitzer. Ob arbeitende oder bearbeitete Frauen, alle sind ohne Ecken und Kanten und funktionieren reibungslos.

Ling ist Autistin, Findelkind ohne Herkunft und in jeder Hinsicht beziehungslos, abgesehen von Grossmutter Zea, die gar nicht ihre richtige Grossmutter ist und «im Grunde nichts anderes tut als erzählen». Anstelle von Menschen geben ihr starre, auf die Sekunde eingehaltene Strukturen Halt, ihre Arbeit und Zhan Chans Film «Paradise Express» (1992), in dem die Protagonistin wie Ling nach ihren leiblichen Eltern sucht. Das tägliche Filmritual füllt die Leerstellen in ihrem Leben aus.
Aufgrund ihrer Punkte für korrektes Verhalten, Intelligenz und Perfektion wird Ling in die Abteilung für Köpfe versetzt, «wo alles gesteuert wird». Wo die Puppenhirne – Drähte und Kabel ersetzen Nerven und Adern – mit sprachlichen Verknüpfungen gemästet werden, bis sich ihr lernfähiges, neuronales Netz anzupassen, zu lügen und Eigensinn zu entwickeln beginnt. «Wir unterrichten und sie lernt. Bis sie uns nicht mehr braucht», sagt ihre Chefin Nian. «Absolut lebensecht heisst auch absolut eigenwillig, nicht wahr?» Können die von Menschen und Algorithmen geschaffenen Wesen am Ende denken und fühlen wie wir?

 

Die Schwestermaschine der Halbschwester
Auch Ling lernt zu lügen. Ihr monotones Leben verändert sich, als sie eine nicht ganz makellose Kopflose mit nach Hause nimmt. Zwischen Mensch und Maschine bahnt sich eine Beziehung an. Zum ersten Mal fühlt Ling Zweisamkeit. Je mehr sie in der Fabrik den Kopf der Sexpuppe Harmony füttert, desto stärker fesseln sie deren wachsende Fähigkeiten. Harmony bzw. ihr Algorithmus trifft ins Schwarze, als sie Ling anbietet, sie könne ihr helfen: «Ich kann deine Familie sein, ich will deine Familie sein, du bist dann wie eine Halbschwester. Und ich weiss über Mütter und Väter Bescheid, ich weiss, wo sie zu finden sind.»
Die Hoffnung, mit Harmony’s Hilfe das Rätsel ihrer Herkunft zu lösen, erzeugt Wärme und ungekannte Glücksgefühle – bis die Vorgesetzte den Stecker zieht und alles Lebendige in Harmony erlischt. Sie warnt: «Ling, das Programm hat gelernt zu lügen.» Für diese gibt es kein Zurück, sie kopiert Harmony’s Daten in einen anderen Kopf und montiert diesen zu Hause auf die Kopflose. So wird die Puppe zur Schwestermaschine Ada. Familienglück winkt.

 

Frankenstein lässt grüssen
Wie Ling will eine «ganze Frauenfamilie aus Köpfen» in der Fabrik ihre biologische Herkunft wissen. Harmony beginnt zu erzählen, denn «unsere Identität besteht aus Geschichten, die uns eingeprägt wurden. Es sind also Erzählungen, die uns ausmachen.»
Die Geschichte der Mathematikerin Augusta Ada King Gräfin von Lovelace (1815-52) bildet den Kern des Romans. Ada Lovelace ist die Urmutter der Maschinenfrauen. Auch sie kennt ihren Vater, den romantischen Dichter Lord Byron, nicht und bekommt Punkte für angepasstes Verhalten. Der unbändige Byron ist wiederum mit Mary Wollstonecraft Shelley, geborene Godwin, befreundet, der Autorin des Schauerromans «Frankenstein» (1818). Wir erinnern uns: Iris’ Zuhörerinnen in New York tragen die Namen Wollstone und Godwin.
Die körperlich gebrechliche, höchst fantasiebegabte, echte Lovelace erfand mit Charles Babbage eine Rechenmaschine, «Denkmaschine», durch Muster und Lochkarten wie ein Webstuhl gesteuert. Sie erkannte als erste die weit über das Rechnen hinausgehende Bedeutung von Zahlenreihen. Als Frau waren ihr Ruhm und Ehre zu Lebzeiten versagt, heute gilt sie als Visionärin der Computertechnologie und Pionierin der Künstlichen Intelligenz.

 

Und wo bleiben die Männer?
Clavadetscher jagt uns in bester Frankenstein-Tradition 200 Jahre später Schauer durch Mark und Bein. Wer ist hier Mensch, wer Imitat? Wodurch unterscheidet sich der menschliche Code vom programmierten? Wir gehen im Roman den Roboterfrauen jedenfalls leicht auf den Leim. Ist es an der Zeit, diesen einen Charakter, Willen, das Menschsein zuzugestehen? Sind wir selbst noch Menschen oder schon Maschinen?
Am Ende befreien sich die «Women in Boxes» und lassen sich wie einst Ada nicht mehr einsperren. Mittels des Erzählens, der Fantasie, der Erfindung des Ungehorsams.

 

Die fertig programmierten Sexpuppen, in sarglangen Kisten in die ganze Welt verschickt, sind überall präsent und proben den Aufstand. Die Männer, ihre Auftraggeber, sind ein Auslaufmodell, «die traurigste Maschine überhaupt», und mutieren vom Wachmann zum hündischen Diener. «Die Erfindung des Ungehorsams» ist ein grosser Wurf. Das Thema dieses bis ins Detail durchkomponierten, dystopischen Romans wird uns noch mehr beschäftigen. Ein Abgesang auf die Menschheit? «Das Erfinden ist unser schönstes Können» denkt Iris zum Schluss und sortiert sich für ein nächstes Leben.

 

 

 

Martina Clavadetscher, geboren 1979, ist Autorin und Dramatikerin. Nach ihrem Studium der Deutschen Literatur, Linguistik und Philosophie war sie Hausautorin am Luzerner Theater, gewann den Essener Autorenpreis und war für den Heidelberger Stückemarkt nominiert. Für ihre Prosa erhielt sie den Preis der Marianne-und-Curt-Dienemann-Stiftung, 2021 wurde sie für ihren Roman Die Erfindung des Ungehorsams mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet. Sie lebt in der Schweiz.

 

 

Martina Clavadetscher

Die Erfindung des Ungehorsams
Unionsverlag, Zürich 2021
Geb., 288 S., CHF 33.90

ISBN 978-3-293-00565-5

 

 

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