FRONTPAGE

«Max Frisch und Alfred Andersch: Wagnis einer Freundschaft»

Von Ingrid Isermann

 

Zum ersten Mal begegnen sich der Erfolgsautor Max Frisch und sein Schriftstellerkollege Alfred Andersch, einflussreicher Rundfunkredaktor, in Zürich. Später kommen sie sich in Rom näher. Nun sind sie Nachbarn im Tessin in Berzona. Ihre Freundschaft – ein Wagnis?

Max Frisch lässt sich 1965 in einem abgelegenen Tessiner Dorf nieder. Einer der Gründe: Alfred Andersch wohnt schon dort. Zum ersten Mal begegneten sich der Erfolgsautor Frisch (1911-1991) und sein Schriftstellerkollege, der einflussreiche Rundfunkredakteur Andersch (1914-1980), acht Jahre zuvor in Zürich. Später kommen sie sich in Rom näher. Nun sind sie Nachbarn in Berzona, der Schweizer und der Deutsche  - ein Wagnis?

Freundschaften sind so variantenreich wie Menschen. Woraus also besteht das Band zwischen Andersch und Frisch? Gemeinsame Vorlieben für Pfeifentabak und Whisky, Schach und Schreiben, Reisen und den Rückzug ins Tessiner Onsernone-Tal teilen sie, wie ihre politisch ähnliche Sicht auf die Welt. Sie ergreifen das Wort in der Öffentlichkeit und mischen sich ein ins Zeitgeschehen. Gescholten als Linke, landen sie dennoch zwischen den Stühlen. Trotzdem steigen sie auf an die Spitze der Bestsellerlisten. Beide hadern sie mit der Heimat. Alfred Andersch ringt mit der deutschen Vergangenheit. Max Frisch ringt mit der Schweiz. Er verlässt sie immer wieder, verlegt seinen Wohnsitz nach Berlin, New York, oder anderswo in der Welt. Doch kehrt er stets zurück. Andersch verlässt Deutschland einmal für immer und übersiedelt 1958 in Frischs Heimat. Doch wo die Schweiz als Heimat zur Debatte steht, scheiden sich ihre Geister. Es kommt zum Bruch.

 

 

Obwohl ich ein ziemlich gewissenhafter und ordentlicher Arbeiter bin, ist meine Arbeit für mich ein Abenteuer, von dem ich nicht weiss, wohin es mich bringen wird und ob es für mich gut oder schlecht ausgehen wird. Mit einem, der eine solche Ansicht von seinem Beruf hat, ist – in jedem Sinne, den diese Metapher einschliesst – kein Staat zu machen.

Alfred Andersch, Ich repräsentiere nichts

 

 

Die POESIE muss kein Kabinett bilden, zum Beispiel, und muss nicht von einer alphabetischen Mehrheit gewählt werden. / Die POESIE ist da oder manchmal auch nicht. / Regierungen sind immer da). / Die POESIE kann ignoriert werden. (Ohne dass die Polizei deswegen eingreift). / Die POESIE entsteht trotzdem da und dort. / Die POESIE ist der Durchbruch zur genuinen Erfahrung unsrer menschlichen Existenz in ihrer geschichtlichen Bedingtheit. Sie befreit uns zur Spontaneität – was beides sein kann: Glück oder Schrecken. (Regierungen wollen immer nur unser Glück).

Max Frisch, Schwarzes Quadrat

 

In seinen New Yorker Poetik-Vorlesungen «Schwarzes Quadrat» stellt Max Frisch unmissverständlich klar: Dass es noch etwas Anderes gibt. / Das ist die Irritation. / KUNST ALS GEGEN-POSITION ZUR MACHT: Die Poesie wahre, was in der Politik notwendigerweise immer verlorengeht, nämlich die Utopie.

 

 

Wege zur Wahrheit

Frisch sagte einmal, Literatur, Poesie, Kunst überhaupt mache uns betroffen, sie trifft uns dort, wo wir in Selbstverständlichkeiten versteinert sind. Sie reisst uns auf. Auch der Anblick von Ernst Barlachs „Lesendem Klosterschüler“ in Sansibar (von Alfred Andersch) bewegt das Romanpersonal in ganz anderem Ausmass, als Parteistatuten das vermögen. Einer Partei tritt man aus Überzeugung bei. Wohin das führen kann, formulierte wiederum Max Frisch wunderbar präzis im ersten Tagebuch: Wer eine Überzeugung hat, wird mit allem fertig. Überzeugungen sind der beste Schutz vor dem Lebendig-Wahren. Das Lebendig-Wahre – zu ihm als künstlerischer Urmotivation war auch Andersch 1956 essayistisch vorgedrungen: Kunst beziehe sich auf den alles Erkennen voraussetzenden Begriff der Wahrheit… von der Wahrheit selbst abzusehen, ist ihr, ihrem Wesen nach, unmöglich. 

Zum Buch-Motto erhoben die Wahrheit denn auch beide, Frisch in Form der Aufrichtigkeit in Montauk, Montaigne zitierend, und Andersch in Die Rote mit einem Monteverdi-Zitat. Die Wahrheit als Kompass genutzt, stimmte der Kurs – paradoxerweise: wohin auch immer er führte.

Eine Szene aus Percy Adlons Film aus dem Jahre 1975 über Alfred und Gisela Andersch im Onsernonetal. Alfred Andersch trägt Kunst, die zuweilen sperrig sein kann, auf Händen. Er hat sich für sie interessiert und eingesetzt, für die Künste, gleich welcher Sparte. Schliesslich liebt er eine Malerin, lebte mit ihr zusammen, unterstützte sie in ihrem Tun. Prosa, Gedichtemeine Sprach-Welt. Gleich nebenan entsteht eine Bild-Welt. Ich sehe zu, wie sie entsteht, seit fünfunddreissig Jahren. So hebt Andersch an in Einige Zeichnungen, einem kleinen feinen Band, der auch eine Hommage an Gisela ist.

 

 

 

Angela Weber-Hohlfeldt

Max Frisch Alfred Andersch

Eine widersprüchliche Freundschaft

Edition A.B. Fischer, Berlin 2016
ISBN 9783937434773
144 Seiten, € 16,80

 

Angela Weber-Hohlfeldt, geboren 1971 in Dresden, studierte Anglistik, Amerikanistik und Russistik in Berlin. Sie lebt heute als Literaturwissenschaftlerin und Autorin in der Schweiz. Von ihr stammen drei Bände zur Kindheit und Jugend in der DDR im Wartburg-Verlag. 

 

 

 

 

«Elena Ferrante: Fortsetzung der Neapolitanischen Saga»

 

Lila und Elena sind sechzehn Jahre alt, und sie sind verzweifelt. Lila hat noch am Tage ihrer Hochzeit erfahren, dass ihr Mann sie hintergeht – er macht Geschäfte mit den allseits verhassten Solara-Brüdern, den lokalen Camorristi.

 

Für Lila, arm geboren und durch die Ehe schlagartig zu Geld und Ansehen gekommen, brechen leidvolle Zeiten an. Elena hingegen verliebt sich Hals über Kopf in einen jungen Studenten, doch der scheint nur mit ihren Gefühlen zu spielen. Sie ist eine regelrechte Vorzeigeschülerin geworden, muss aber feststellen, dass das, was sie sich mühsam erarbeitet hat, in ihrer neapolitanischen Welt kaum etwas gilt.
Trotz all dieser Widrigkeiten beharren Lila und Elena immer weiter darauf, ihr Leben selbst zu bestimmen, auch wenn der Preis, den sie dafür zahlen müssen, bisweilen brutal ist. Halt finden die beiden Frauen einzig in ihrer Freundschaft, ihre Liebe füreinander wirkt grenzenlos. Wären sie beide nicht immer wieder von dem brennenden Verlangen getrieben, die andere auszustechen… Können sie einander wirklich vertrauen?

 

Auch der zweite Band der neapolitanischen Saga fasziniert, einmal angefangen zu lesen, möchte man das Buch gar nicht mehr aus der Hand legen, die fein verästelten psychologischen Nuancen dieser Frauen-Freundschaft, die kein bisschen veraltet daher kommt, nicht zuletzt weil hier die 60er Jahre und ihre Zeitgeschichte lebendig auferstehen, ist so spannend wie aufschlussreich.

 

 

 

Elena Ferrante
Die Geschichte eines neuen Namens
Suhrkamp Berlin 2017
Aus dem Italienischen von Karin Krieger

Geb., 624 S.

CHF 35,50.€ 25 (D). € 25,70 (A)
ISBN: 978-3-518-42574-9
Auch als E-Book erhältlich

 

Leseprobe
1
Im Frühling 1966 vertraute Lila mir in höchster Aufregung eine Blechschachtel mit acht Schreibheften an. Sie sagte, sie könne sie nicht länger zu Hause behalten, sie fürchte, ihr Mann könnte sie lesen. Ich nahm die Schachtel kommentarlos an mich, abgesehen von einer ironischen Bemerkung über die Unmengen von Schnur, mit der sie sie umwickelt hatte. Zu jener Zeit stand es denkbar schlecht um unsere Freundschaft, doch offenbar sah nur ich das so. Die seltenen Male, die wir uns trafen, zeigte sie keinerlei Verlegenheit, war herzlich zu mir und verlor nicht ein feindseliges Wort.
Als sie mich bat, zu schwören, dass ich die Schachtel unter keinen Umständen öffnen würde, schwor ich es. Aber kaum saß ich im Zug, löste ich die Schnur, nahm die Hefte heraus und begann zu lesen. Das waren keine Tagebücher, obwohl detaillierte Schilderungen von Ereignissen aus Lilas Leben seit dem Abschluss der Grundschule darin enthalten waren. Sie waren eher das Zeugnis einer hartnäckigen Selbstdisziplin im Schreiben. Es gab Beschreibungen im Überfluss: vom Ast eines Baumes, von den Teichen, von einem Stein, von einem Laubblatt mit weißer Äderung, von Kochtöpfen, von den verschiedenen Teilen eines Espressokännchens, von einem Kohlenbecken, von Kohle und Holzkohle, es gab eine punktgenaue Zeichnung unseres Hofes und die Beschreibung unserer Straße – des Stradone – sowie des rostigen Eisenskeletts hinter den Teichen, unseres kleinen Parks und der Kirche, des Abholzens der Bäume hinter der Eisenbahn, der Neubauten, der Wohnung ihrer Eltern, des Werkzeugs, mit dem ihr Vater und ihr Bruder Schuhe reparierten, ihrer Handgriffe bei der Arbeit und vor allem von Farben, der Farben sämtlicher Dinge zu verschiedenen Tageszeiten. Doch es gab nicht nur beschreibende Passagen. Auch einzelne Wörter im Dialekt und in der Hochsprache tauchten auf, manchmal eingekreist, ohne Kommentar. Und Übersetzungsübungen auf Latein und Griechisch. Und ganze Abschnitte auf Englisch über die Läden unseres Viertels – des Rione –, über die Waren, über den Karren voller Obst und Gemüse, mit dem Enzo Scanno täglich von Straße zu Straße zog, wobei er den Esel am Halfter führte. Und unzählige Gedanken zu den Büchern, die sie gelesen hatte, zu den Filmen, die sie im Gemeindekino gesehen hatte. Und viele Ansichten, die sie in den Diskussionen mit Pasquale und in den Gesprächen mit mir vertreten hatte. Zwar gab es keine kontinuierliche Abfolge, doch egal, was Lila schriftlich einfing, alles bekam Format, so dass sich selbst auf den Seiten, die sie mit elf oder zwölf Jahren geschrieben hatte, nicht eine kindisch klingende Zeile fand.

Ihre Sätze waren äußerst präzise, die Zeichensetzung akkurat und alles in der Schönschrift gehalten, die Maestra Oliviero uns gelehrt hatte. Nur manchmal schien Lila die Ordnung, die sie sich auferlegt hatte, nicht einhalten zu können, als hätte eine Droge ihre Adern überschwemmt. Dann wurde alles atemlos, ihre Sätze überschlugen sich, die Zeichensetzung verschwand. Meistens brauchte sie nicht lange, um zu einem entspannten, klaren Ton zurückzufinden. Aber manchmal brach sie jäh ab und füllte den Rest der Seite mit kleinen Zeichnungen krummer Bäume, buckliger, rauchender Berge und verzerrter Gesichter. Sowohl ihre Ordnung als auch ihre Unordnung beeindruckten mich, und je mehr ich las, umso mehr fühlte ich mich getäuscht. Wie viel Übung steckte hinter dem Brief, den sie mir Jahre zuvor nach Ischia ge- schickt hatte: Deshalb war er so gut geschrieben! Ich stopfte alles in die Blechschachtel zurück und nahm mir vor, nicht weiter herumzuschnüffeln.
Doch schon bald wurde ich wieder schwach, von diesen Heften ging eine verführerische Kraft aus, die Lila schon als kleines Mädchen ausgestrahlt hatte. Mit unerbittlicher Präzision hatte sie den Rione, ihre Familie, die Solaras, Stefano, jeden und alles beschrieben. Ganz zu schweigen davon, wie freizügig sie mit mir umgegangen war, mit dem, was ich sagte, mit dem, was ich dachte, mit den Menschen, die ich liebte, und selbst mit meinem Äußeren. Lila hatte die für sie entscheidenden Momente festgehalten, ohne sich um irgendwen oder irgendwas zu scheren. Da war in aller Deutlichkeit das Vergnügen, das sie empfunden hatte, als sie zehn Jahre zuvor die kurze Erzählung „Die blaue Fee“ geschrieben hatte. Da war ebenso deutlich ihr Kummer darüber, dass unsere Lehrerin, Maestra Oliviero, sich nicht dazu herabgelassen hatte, auch nur ein Wort über diese Erzählung zu verlieren, und sie sogar ignoriert hatte. Da waren der Schmerz und die Wut darüber, dass ich zur Mittelschule gegangen war, ohne mich um sie zu kümmern, und ich sie alleingelassen hatte. Da war die Begeisterung, mit der sie das Schuhmacherhandwerk erlernt hatte, und der Wunsch nach einer Entschädigung, der sie veranlasst hatte, neue Schuhe zu entwerfen. Da war das Vergnügen, gemeinsam mit ihrem Bruder Rino ein erstes Paar anzufertigen. Und da war ihr Leid, als ihr Vater Fernando erklärt hatte, diese Schuhe seien schlecht gearbeitet. Alles stand dort, auf diesen Seiten, besonders aber ihr Hass auf die Solara-Brüder, die grimmige Entschiedenheit, mit der sie die Liebe Marcellos, des Älteren der beiden, zurückgewiesen hatte, und der Moment, in dem sie beschlossen hatte, sich stattdessen mit dem sanftmütigen Stefano Carracci zu verloben, dem Lebensmittelhändler aus der Salumeria, der aus Liebe zu ihr das erste von ihr gefertigte Paar Schuhe gekauft und geschworen hatte, es für immer in Ehren zu halten. Ach, und diese herrliche Zeit, als sie sich mit fünfzehn Jahren wie eine junge Dame gefühlt hatte, reich und elegant, am Arm ihres Verlobten, der nur aus Liebe zu ihr Unsummen in die Werkstatt ihres Vaters und ihres Bruders gesteckt hatte, in die Schuhmacherei Cerullo. Und wie zufrieden sie gewesen war: die von ihr ersonnenen Schuhe zum größten Teil fertig, eine Wohnung im neuen Viertel, ihre Hochzeit mit sechzehn Jahren. Und was für ein prunkvolles Fest es gegeben hatte, wie glücklich sie gewesen war. Dann war Marcello Solara zusammen mit seinem Bruder Michele in diese Feier geplatzt und hatte ebenjene Schuhe an den Füßen, von denen Lilas Ehemann behauptet hatte, sie würden ihm viel bedeuten. Ihr Ehemann. Was für einen Menschen hatte sie geheiratet? Würde er sich nach der Schaffung vollendeter Tatsachen die Maske herunterreißen und sein entsetzlich wahres Gesicht zeigen? Fragen und die ungeschönte Realität unseres Elends. Ich beschäftigte mich viel mit diesen Seiten, tagelang, wochenlang. Ich studierte sie und lernte am Ende die Stellen auswendig, die mir gefielen, die mich begeisterten, die mich faszinierten, die mich beschämten. Hinter ihrer Natürlichkeit steckte garantiert ein Trick, aber ich fand nicht heraus, welcher.

Schließlich ging ich eines Abends im November wütend aus dem Haus und nahm die Blechschachtel mit. Ich hielt es nicht mehr aus, Lila an und in mir zu spüren, auch jetzt noch, da ich großes Ansehen genoss, auch jetzt noch, da ich ein Leben außerhalb von Neapel hatte. Auf dem Ponte Solferino blieb ich stehen und betrachtete die vom eiskalten Dunst gefilterten Lichter. Ich stellte die Schachtel auf die Brüstung und schob sie langsam, Stück für Stück, von mir weg, bis sie in den Fluss fiel, als wäre sie Lila persönlich, die mit ihren Gedanken und mit ihren Worten hinunterstürzte; mit ihrer Bosheit, mit der sie jedem jeden Schlag heimzahlte; mit ihrer Art, sich meiner zu bemächtigen, wie sie es mit allen Menschen, Dingen, Ereignissen und Erkenntnissen tat; mit allem, was ihr begegnete: Bücher und Schuhe, Zärtlichkeit und Gewalt, Heirat und Hochzeitsnacht und ihre Rückkehr in unseren Rione in der neuen Rolle der Signora Raffaella Carracci.
Ich konnte nicht glauben, dass der so freundliche, so verliebte Stefano wirklich Marcello Solara diese Erinnerung an die kindliche Lila geschenkt hatte, dieses Zeugnis ihrer Mühe, die sie sich gemacht hatte, als sie die Schuhe entwarf.
Ich vergaß Alfonso und Marisa, die sich mit glänzenden Augen an unserem Tisch unterhielten. Ich achtete nicht mehr auf das betrunkene Gelächter meiner Mutter. Die Musik und die Stimme des Sängers verblassten, die tanzenden Paare und auch Antonio hinter der Glastür, draußen auf der Terrasse, der von Eifersucht zerfressen auf die violette Stadt und das Meer starrte. Sogar das Bild Ninos verblasste, der den Festsaal soeben verlassen hatte wie ein Erzengel ohne Verkündigung. Ich sah nur noch Lila, die aufgeregt auf Stefano einredete. Sie kreidebleich im Hochzeitskleid, er ohne ein Lächeln, auf seinem erhitzten Gesicht ein weißer Fleck des Unbehagens, der sich wie eine Karnevalsmaske von der Stirn bis zu den Augen zog. Was ging da vor sich, was würde geschehen? Meine Freundin zerrte mit beiden Händen am Arm ihres Mannes. Sie wandte viel Kraft auf, und ich, die ich sie genau kannte, spürte, dass sie ihm den Arm abgerissen hätte, wenn sie es gekonnt hätte, dass sie ihn hoch über ihrem Kopf geschwungen hätte, während sie mit Blutstropfen auf der Schleppe den Saal durchquert hätte und ihn wie eine Keule oder wie einen Eselskinnbacken gebraucht hätte, um Marcello mit einem wohlgezielten Schlag das Gesicht zu zertrümmern. Oh ja, das hätte sie getan, und bei diesem Gedanken hämmerte mein Herz wie wild, und meine Kehle trocknete aus. Dann hätte sie den zwei Männern die Augen ausgekratzt, hätte ihnen das Fleisch von den Knochen ihres Gesichts gefetzt, hätte sie in Stücke zerrissen. Ja, ich spürte, dass ich mir das wünschte, ich wollte, dass das geschah. Schluss mit der Liebe und diesem unerträglichen Fest, nichts da mit Umarmungen in einem Bett in Amalfi! Unverzüglich alles im Rione zerschlagen, Menschen und Dinge, alles niedermetzeln, weglaufen, Lila und ich, weit fort, und mit fröhlicher Verschwendung gemeinsam alle Stufen der Verworfenheit nach unten steigen, wir beide allein, in fremden Städten. Das schien mir das richtige Ende für diesen Tag zu sein. Wenn nichts uns retten konnte, kein Geld, kein männlicher Körper und nicht einmal die Schule, dann konnte man auch gleich alles zunichtemachen. In mir wuchs ihre Wut, eine Kraft, die meine und auch nicht meine war und die mich mit dem Vergnügen erfüllte, mich zu verlieren. Ich wünschte mir, dass diese Kraft ausuferte. Doch ich merkte auch, dass sie mich erschreckte. Erst im Nachhinein habe ich begriffen, dass ich nur deshalb still leiden kann, weil ich zu heftigen Reaktionen nicht fähig bin, ich fürchte sie, ziehe es vor, mich nicht zu rühren und meinen Groll in mich hineinzufressen. Nicht so Lila. Als sie ihren Platz verließ, stand sie so entschieden auf, dass der Tisch mitsamt dem Besteck auf den schmutzigen Tellern wackelte und ein Glas umkippte. Während Stefano sich instinktiv beeilte, die Weinzunge aufzuhalten, die sich auf Signora Solaras Kleid zubewegte, fegte Lila durch eine Nebentür hinaus, wobei sie jedes Mal ihr Kleid wegriss, wenn es sich irgendwo verfing.
Ich erwog, ihr nachzulaufen, sie fest bei der Hand zu nehmen und ihr zuzuflüstern: ›Bloß weg, weg hier!‹ Doch ich rührte mich nicht. Dafür aber Stefano, der sich nach einem Augenblick der Unschlüssigkeit an den tanzenden Paaren vorbeischlängelte und Lila einholte.
Ich schaute in die Runde. Alle hatten mitbekommen, dass die Braut sich geärgert hatte. Doch Marcello unterhielt sich weiter komplizenhaft mit Rino, als wäre es das Normalste der Welt, dass er diese Schuhe trug. Auch die immer schlüpfriger werdenden Trinksprüche des Metallhändlers ertönten weiter. Und wer sich am unteren Ende in der Hierarchie der Tische und der Gäste wähnte, machte weiterhin krampfhaft gute Miene zu bösem Spiel. Kurz, kein Mensch außer mir schien bemerkt zu haben, dass die soeben geschlossene Ehe – die mit vielen Kindern und unzähligen Enkeln, mit Freuden und Schmerzen, mit Silberhochzeit und goldener Hochzeit wahrscheinlich bis ans Lebensende des Brautpaars dauern würde – für Lila bereits aus und vorbei war, egal welche Versuche ihr Mann auch unternehmen würde, um sich zu entschuldigen.

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