«Maya Angelou: Ich weiss, warum der gefangene Vogel singt»
Von Ingrid Isermann
Maya Angelou (*1928), Bürgerrechtlerin und Ikone der afroamerikanischen Literatur, erzählt authentisch in ihrer brillanten Autobiografie, wie sie in den 30er Jahren im Krämerladen ihrer Grossmutter am Rande einer Baumwollplantage aufwuchs. Ihre wechselvolle Lebensgeschichte im Fokus der rassistischen Südstaaten Amerikas hat die Aktualität bis heute nicht verloren.
Von der ersten Zeile an fesseln die Ereignisse, die mitten in das Geschehen in einer Kleinstadt im tiefen amerikanischen Süden führen, wo Rassengesetze Schwarze von den Weissen isolieren. Man kommt sich nicht in die Quere, auch die Schwarzen selbst vermeiden jeden Kontakt mit Weissen, von denen sie nichts Gutes erwarten. Es erinnert an die Geschichten aus «Onkel Toms Hütte» oder den Filmklassiker «Vom Winde verweht», doch hier ist es eine wahre Geschichte eines mutigen schwarzen Mädchens im Kampf gegen unglaubliche Widerstände. Und sie zeigt die weltverändernde Kraft der Worte, der Sprache, der Poesie und Fantasie angesichts von Willkür und Unrecht. Es ist die Schönheit dieser Sprache, die unmittelbar berührt, eins der seltenen Bücher, die man in einem Zug durchlesen und sich dabei von nichts stören lassen will.
Reise in den rassengetrennten Süden
Dennoch ist Maya Angelou in unseren Breitengraden kaum bekannt. Verdienstvoll wäre es, ihre Lebensgeschichte würde verfilmt, wie beispielsweise die authentische Story im 2019 oscarprämierten Film «Green Book», der den Rassimus im Süden der USA in den 60er Jahren thematisiert. Man muss die Vergangenheit kennen, um die Gegenwart zu verstehen und die Zukunft zu verändern.
Die Eltern hatten Maya mit drei Jahren und ihren vierjährigen Bruder Bailey allein ohne Begleitung in einen Zug gesetzt, mit Fahrscheinen und angehefteten Zetteln, dass Marguerite und Bailey Johnson jun. aus Long Beach, Kalifornien unterwegs sind nach Stamps, Arkansas, c/o Mrs. Annie Henderson. Sie hatten ihre katastrophale Ehe beendet und der Vater schickte die Kinder nach Hause zu seiner Mutter in Arkansas. Viel von der Reise blieb Maya nicht im Gedächtnis. Als sie den rassengetrennten Süden erreichten, wurde ihre lange Reise erträglicher; mitreisende Schwarze mit ihren vollgepackten Esspaketen zeigten Mitleid mit den «armen, kleinen mutterlosen Lieblingen» und versorgten sie mit Huhn und Kartoffelsalat. Die beiden Kinder fanden bei der Grossmutter und einem Onkel in den hinteren Räumen ihres Ladens ein neues Zuhause.
Am Rande der Baumwollplantage
Prägend für ihr Leben war die Grossmutter, couragiert emanzipiert und rigoros schaltend und waltend, die der Enkeltochter als Vorbild dient. Im Krämerladen nahmen die Kinder regen Anteil am kargen Leben der Baumwollpflücker, die sich bei Mrs. Henderson mit Lebensmitteln eindecken und Kredit beanspruchen konnten. Die aufgeweckte Maya geht ihrer Grossmutter, die sie Momma nennt, flink zur Hand und lernt früh, was das Leben ausmacht.
Der Laden ist der Angelpunkt der nachbarlichen Aktivitäten; am Sonnabend setzten Barbiere ihre Kunden in den Schatten der Ladenveranda, und Sänger auf ihren endlosen Wanderungen durch den Süden lehnten sich ans Geländer, sangen ihre traurigen Lieder und spielten auf Kanister-Harfen und Zigarrenkisten-Gitarren.
Die offizielle Bezeichnung des Ladens lautete Wm. Johnson General Merchandise Store. Den Kunden wurden ganze Stapel von Nahrungsmitteln angeboten, eine ordentliche Auswahl farbigen Garns, Mischfutter für die Mastschweine, Mais für die Hühner, Petroleum für die Lampen, Glühbirnen für die Wohlhabenden, Schnürbändel, Haarwaschmittel, Luftballons und Blumensamen.
Doch die Baumwollpflücker kamen nicht von ihren Schulden runter, so viel sie auch gepflückt hatten, es war nie genug. In der Zeit der Baumwollernte enthüllten die frühen Abendstunden die Bitterkeit des schwarzen Lebens im Süden, die am Morgen von den Gaben der Natur, der Müdigkeit, dem Vergessen und dem sanften Lampenlicht gemildert schien.
In Stamps war die Rassentrennung so total, dass die meisten schwarzen Kinder nicht wirklich wussten, wie Weisse aussahen. Sie wussten nur, dass man sie fürchten musste, und diese Furcht schloss die Feindschaft der Machtlosen gegen die Mächtigen, der Armen gegen die Reichen, der Arbeiter gegen die Besitzenden und der Zerlumpten gegen die Wohlgekleideten mit ein. Stamps gehörte zu dem Kirchendistrikt in Arkansas, der Reverend besuchte regelmässig die Grossmutter und liess sich ausgiebig bewirten. Sie schätzte den Kontakt, um Neuigkeiten zu erfahren.
Maya Angelou (1928-2014) war erste schwarze Strassenbahn-schaffnerin in San Francisco, alleinerziehende Mutter, Schauspielerin, Theaterregisseurin, Filmregisseurin, Journalistin, Schriftstellerin, Lyrikerin, Professorin, engste Vertraute von Martin Luther King und Malcolm X. Als sie 2014 verstarb, trauerte ganz Amerika. Die englische Ausgabe erschien 1969 «I know Why the Caged Bird Sings», Random House, New York.
Leseprobe:
Was siehst du mich an?
Ich kam nicht, um zu bleiben …«
Ich hatte nichts vergessen, ich konnte mich nur nicht erinnern. Andere Dinge waren wichtiger.
»Was siehst du mich an?
Ich kam nicht, um zu bleiben …«
Ob ich mich an den Rest des Gedichts erinnern konnte oder nicht, war bedeutungslos. Der Sinn seiner Aussage wurde von dem triefend nassen, zerknüllten Taschentuch in meinen Fäusten kommentiert, und je eher man akzeptierte, dass ich nicht weiterkam, desto schneller konnte ich sie wieder öffnen und die Luft meine Handflächen kühlen.
»Was siehst du mich an …«
Die Kindergruppe der Colored-Methodist-Episcopal-Kirche gickelte und gackelte über meine allseits bekannte Vergesslichkeit. Ich trug ein Kleid aus lavendelfarbenem Taft, das bei jedem Atemzug raschelte, und jetzt, als ich Luft holte, weil ich mich schämte, hörte es sich an wie Krepppapier hinten auf den Leichenwagen.
Als ich sah, wie Momma den Saum kräuselte und kleine niedliche Falten um die Taille legte, wusste ich, wenn ich es erst einmal angezogen hatte, würde ich aussehen wie ein Filmstar. (Es war aus Seide, und dies entschädigte für die schreckliche Farbe.) Ich würde aussehen wie eines der kleinen süßen weißen Mädchen, die jedermanns Traum von dem waren, was an dieser Welt in Ordnung ist. Hing es über der schwarzen Singer-Nähmaschine, sah es aus wie ein Zauber, und wenn die Leute mich darin sähen, eilten sie bestimmt auf mich zu und sagten: »Marguerite (manchmal sogar ›liebe Marguerite‹), bitte verzeih uns, wir wussten nicht, wer du bist.« Und ich entgegnete großzügig: »Nein, ihr konntet es nicht wissen. Ich verzeihe euch.«
Allein der Gedanke daran verzauberte mich für Tage. Aber an Ostern, im Licht der frühen Morgensonne war das Kleid nichts weiter als ein gewöhnlicher, hässlicher Verschnitt aus dem weggeworfenen Purpur einer weißen Frau. Zudem hatte es eine Altdamenlänge, versteckte aber nicht meine mageren Beine, die mit blauer Seehund- Vaseline eingeschmiert und mit rotem Arkansas-Lehm gepudert waren. Die alterslose Farbe meiner Haut erinnerte an Schmutz und Schlamm, und jeder in der Kirche blickte auf meine dürren Beine.
Wären sie nicht überrascht, wenn ich eines Tages aus meinem hässlichen schwarzen Traum erwachte und meine wirklichen Haare, die lang und blond waren, die Stelle der gekräuselten Masse einnehmen würden, die zu glätten Momma mir nicht erlaubte? Meine hellblauen Augen würden sie hypnotisieren, nach all dem, was sie gesagt hatten, etwa: »Dein Vater muss wohl aus China gewesen sein« (ich dachte, sie meinten aus Chinaporzellan, wie eine Tasse), weil meine Augen so schmal und schief waren. Dann würden sie verstehen, weshalb ich nie den Akzent des Südens angenommen hatte und nicht den üblichen Slang sprach und weshalb ich gezwungen werden musste, Schweineschwänze und -schnauzen zu essen. Weil ich in Wirklichkeit weiß war und eine böse Märchenstiefmutter, die verständlicherweise eifersüchtig auf meine Schönheit war, mich in ein zu großes schwarzes Mädchen verwandelt hatte, mit schwarzem Wuschelkopf, breiten Füßen und solchen Abständen zwischen den Zähnen, dass ein Bleistift bequem dazwischengepasst hätte.
»Was siehst du …« Die Frau des Geistlichen beugte sich zu mir herab, ihr langes gelbes Gesicht voller Mitleid. Sie flüsterte: »Ich kam nur, um dir zu sagen, dass Ostern ist.« Ich wiederholte so langsam wie möglich und klebte die Wörter aneinander: »Ichkamnurumdirzusagendaßosternist.« Das Kichern hing in der Luft wie eine Wolke, die darauf wartete, sich über mir auszuregnen. Ich hob zwei Finger nah an meine Brust und signalisierte, dass ich zur Toilette musste, und trippelte auf Zehenspitzen zum
Ausgang der Kirche. Schwach, irgendwo über meinem Kopf, hörte ich Damenstimmen: »Herr, segne das Kind« und »Lobet den Herrn.« Ich hielt meinen Kopf hoch und meine Augen offen, konnte aber überhaupt nichts sehen. Auf dem halben Weg durch das Kirchenschiff brach die Gemeinde in den Gesang aus: »Wart ihr da, als sie meinen Herrn kreuzigten?«, und ich stieß gegen einen aus der Kinderbank hervorgestreckten Fuß. Ich stolperte und wollte etwas sagen, vielleicht auch schreien, aber eine grüne Dattelpflaume, vielleicht war es auch eine Zitrone, verfing sich zwischen meinen Beinen und wurde zerquetscht. Ich fühlte den sauren Geschmack in Mund und Rachen, und kurz bevor ich die Tür erreichte, brannte die Pein meine Beine hinunter bis in die Sonntagssocken. Ich versuchte es zurückzupressen, es nicht rausschießen zu lassen, aber als ich das Portal erreichte, wusste ich, dass ich es laufen lassen musste, da es mir sonst vermutlich in den Kopf steigen würde, der dann wie eine heruntergefallene Wassermelone platzen würde, und Hirn und Zunge und Augen würden über den Boden kullern. Also rannte ich in den Hof und ließ es laufen. Pissend und weinend rannte ich, nicht nach hinten zur Toilette, sondern nach Hause. Ich würde dafür verdroschen werden, so viel war sicher, und die blöden Kinder hatten wieder einmal etwas Neues, um mich zu hänseln. Wie auch immer, ich lachte, einmal wegen der süßen Erlösung, aber auch weil es eine noch größere Freude war, von der verrückten Kirche befreit zu sein und nicht mit einem zerplatzten Kopf sterben zu müssen.
Ist das Heranwachsen für das schwarze Mädchen im Süden schmerzhaft, das Wissen um ihre Deplatziertheit ist der Rost an der Klinge, die die Gurgel bedroht.
Es ist eine unnötige Beleidigung.