«Michel Houellebecq: Die Angst des Individuums vor der Bedeutungslosigkeit»
Von Ingrid Isermann
Die provokanten Titel Michel Houellebecqs platzen jeweils mitten in Identitätsdebatten der Gesellschaft. Es geht um Macht, Ausbeutung, Unterwerfung und Vernichtung. So lautet auch das neueste Werk des Bestsellerautors «Vernichten».
Auch Houellebecqs neuestes Buch wurde auffällig oft von Kritikern rezensiert, einerseits begeistert, andererseits wurde literarische Dürftigkeit attestiert. Kritikerinnen scheinen offenbar nicht so fasziniert vom Hasardeur des Nichts, des Nihilismus und einer dystopischen Welt.
Dies ist nun auch in den Medien bemerkt worden, im ARD-Kulturmagazin «ttt titel, thesen, temperamente» (16.1.2022) wurden beispielsweise für einmal zwei Kritikerinnen zu Houellebecq befragt. Iris Radisch, Kulturchefin der ZEIT, moniert Houellebecqs starres Frauenbild, sieht aber in seinem neuen Roman einen Aufbruch, die Zukunft in der Liebe und Familie zu finden, unter der Prämisse der (alten) Aufopferung der Frau für den Mann. Wenngleich nun sanftere Töne angeschlagen würden, bleibt die vorwiegend pessimistische Weltsicht.
Houellebecq wird eine seismografische Voraussicht der Gesellschaft unterstellt, in welche Richtung sie sich bewegt. Die Voraussage, dass der Islam die Gesellschaft erobert, der in seinem Buch «Unterwerfung» eine prägende Rolle spielt, ist nicht eingetroffen. Das Narrativ der schleichenden Islamisierung hat sich nicht bewahrheitet. An anderer Stelle bemerkt der Autor, dass der Islam die „dümmste Religion“ sei.
Man fragt sich, ob Houellebecq jeweils Medien und Publikum einige Brocken Provokation vorwirft und sich dann amüsiert, wie sich die Meute über die Beute hermacht, so widersprüchlich, skurril und absurd klingen jedenfalls einige seiner Thesen. Und es könnte auch sein, dass er über Kritiker-Lob spottet, dabei an seiner Longtime-Zigarette ziehend und sich über sein schütteres Haupthaar streichend. Obwohl mittlerweile wohlhabend geworden, kleidet sich der exzentrische Schriftsteller wie ein Clochard. Was ist Staffage? Was Literatur? Denn um die geht es.
Eine Geschichte, die das Leben schreibt
Im neuen Buch mit dem programmatischen Titel «Vernichten» geht es um nichts und alles. Eine Geschichte, wie sie das Leben vielfach schreibt. Eine müde gewordene Ehe, der Mann ist an Krebs erkrankt, denkt über das Leben nach und geht zu einer Prostituierten. Die Lichtblicke, dass sich die Eheleute doch wieder annähern angesichts der Endlichkeit ihrer Leben, bilden die Höhepunkte des Romans. Das wird von der Kritik einerseits gefeiert als unvorhergesehene Milde seiner Beschreibungen, andererseits als lahmer Roman. Unter anderen kommen auch zeitgeistige Themen vor, wie ein Wahlkampf 2027, Anschläge auf eine Samenbank und auf Bootsflüchtlinge. Das Flüchtlingsthema, beliebter Treibstoff für rechtsnationale Politik, fehlt auch hier nicht.
Kurz vor den französischen Präsidentschaftswahlen 2027 taucht im Netz ein Video auf, das die Hinrichtung des möglichen Kandidaten Bruno Juge zu zeigen scheint. Paul Raison ist Absolvent einer Elitehochschule und arbeitet als Spitzenbeamter im Wirtschaftsministerium. Als Mitarbeiter und Vertrautem Juges fällt ihm die Aufgabe zu, die Urheber des Videos ausfindig zu machen. Im Laufe seiner Nachforschungen kommt es zu einer Serie mysteriöser terroristischer Anschläge, zwischen denen kein Zusammenhang zu erkennen ist. Während Juge um seine Kandidatur kämpft, kann Paul entscheidende Hinweise für die Aufklärung der Anschläge liefern. Doch letztlich verliert Juge gegen einen volksnahen ehemaligen Fernsehmoderator, und die Erkenntnisse aus Pauls Recherche sind nicht minder niederschmetternd für die Politik des Landes. Als Paul von seiner Arbeit freigestellt wird, kommt es zu einer Annäherung zwischen ihm und seiner Frau und die beiden finden wieder zueinander. Spektakulär ist das nicht, nur wird diesmal die Menschlichkeit in den Fokus gerückt und das ist wohl das aufregendere Fazit. Die Angst vor der Bedeutungslosigkeit des Individuums, das eine Verantwortung hat, sich selbst und aus Ehrfurcht dem Leben gegenüber, ist vielleicht die Essenz daraus.
Michel Houellebecq, 1958 geboren, gehört zu den wichtigsten Autoren der Gegenwart. Seine Bücher wurden in über vierzig Ländern veröffentlicht. Mit dem Roman «Elementarteilchen» erzielte er weltweit grosse Aufmerksamkeit. Für den Roman «Karte und Gebiet» (2011) erhielt er den Prix Goncourt. Sein Roman «Unterwerfung» (2015) stand wochenlang auf den Bestsellerlisten und wurde erfolgreich für die Theaterbühne adaptiert und verfilmt. Zuletzt erschien der Essayband «Ein bisschen schlechter» (2020).
Michel Houellebecq
Vernichten
Übersetzer Stephan Kleiner,
Bernd Wilczek
DuMont-Buchverlag, 2022
Geb., 621 S., CHF 39.90
ISBN 978-3-8321-8193-2
«Joan Didion: Was ich meine»
Zwölf zentrale und zeitlose Essays aus dem frühen Werk der Schriftstellerin zeigen Joan Didion als brillante Zeitzeugin. Von ihrer Bewunderung für Hemingways Sprache bis hin zur Ergründung ihrer eigenen Selbstzweifel, als junge Frau nicht in Stanford angenommen worden zu sein, ist jeder Text ein intellektuelles Vergnügen.
Von der Autorin selbst ausgewählt lernen wir in ihnen ihr Amerika kennen und die junge Frau, die auf dem Weg ist, eine Ikone der amerikanischen Literatur zu werden. Ihre Essays sind prägnant, elegant und verblüffend vorausschauend.
Ihre genauen Betrachtungen beispielsweise über den Fotografen Robert Mapplethorpe sind ein exquisites Lesevergnügen mit einem wahrhaftigen Röntgenblick, der zugleich Zeitimpuls und Zeitkritik miteinander verbindet. «Selbst junge Mädchen wirkten, wenn Mapplethorpe sie fotografierte, viktorianisch, nicht Kinder im modernen Sinne, sondern empfindsame Wesen, Geschöpfe mit Haarspangen und Häschen, aber dennoch erdrückt von der Verantwortung, kleine Erwachsene, die uns mit der äussersten Klarheit dessen anblickten, was sie wussten und noch nicht wussten.
Demgegenüber präsentierte sich von allen Frauen, die Mapplethorpe fotografierte, vermutlich nur Yoko Ono als „modern“, in völliger Selbstbeherrschung, eine Frau, die die Anforderungen von Sex und Ruhm überwunden hatte, um uns als Überlebende mittleren Alters gegenüberzutreten, mit zweckmässigen Jackenaufschägen, klaren Augen, verwehtem Haar. All das war interessant und hatte etwas Absichtsvolles an sich, allerdings hatte es nichts mit der Absicht der fotografierten Modelle zu tun».
Die im vorliegenden Band versammelten Essays werfen ein Schaglicht auf Didions OEuvre, das von den 1960er-Jahren, als sie mit Slouching towards Bethlehem fulminant die intellektuelle Bühne betrat, bis in die Gegenwart hineinreicht, schreibt Antje Rávik Strubel in ihrem Vorwort. Allerdings stünden diese Essays weniger im Rampenlicht des rein Politischen und verweisen damit stärker auf den Kern des Didion’schen Schreibens an sich. Denn neben zentralen Themen bildeten sich in diesen Essays vor allem der schriftstellerische Werdegang und die poetologische Herangehensweise Didions ab: «… meine Aufmerksamkeit galt immer der Peripherie, dem, was ich sehe, schmecken und berühren konnte, der Butter und dem Greyhound-Bus», heisst es im Essay Why I write – Warum ich schreibe.
Bei der Zeitschrift Vogue lernte Joan Didion das Handwerk, die Präzision, das Kürzen, aber auch das Selbstvertrauen, überhaupt eigene Worte gegen die übermächtigen Zweifel aufs Papier zu bringen. Bei Hemingway ging sie hinsichtlich stilistischer Fragen in die Lehre. Und eine aufmerksame Selbstbeobachtung während des Schreibens schärfte ihren poetologischen Blick auf gedankliche Bilder, aus denen Romane hervorgehen können.
Joan Didion, geboren 1934 in Sacramento, Kalifornien, arbeitete als Journalistin für verschiedene amerikanische Zeitungen und war u. a. Mitherausgeberin der Vogue. Sie gilt als eine der wichtigsten Stimmen der amerikanischen Literatur, die mit ihren fünf Romanen und zahlreichen Essaybänden das intellektuelle Leben der USA im 20. Jahrhundert entscheidend prägte. Joan Didion verstarb im Dezember 2021.
Antje Rávik Strubel ist eine Potsdamer Schriftstellerin und Übersetzerin. Für ihre Romane erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen, zuletzt den Deutschen Buchpreis 2021 für «Blaue Frau» (siehe Archiv Literatur & Kunst, 90/2022). Sie übersetzt aus dem Englischen und Schwedischen, u.a. Joan Didion, Lucia Berlin und Virginia Woolf.
Joan Didion
Was ich meine
Ullstein-Verlag, 2022
Aus dem Englischen übersetzt
mit einem Vorwort von Antje Rávik Strubel
176 S., CHF 21.90. € 18.99 (D). € 19.60 (A)
ISBN: 978-3-550-20181-3
«Klaus Theweleit: Männerphantasien – Das Standardwerk zur Vorgeschichte des Nationalsozialismus»
Vor 40 Jahren erschien mit „Männerphantasien“ Klaus Theweleits grosse Untersuchung über die sexuelle, psychologische und soziopolitische Vorgeschichte des Nationalsozialismus in der Weimarer Republik. Das Werk, das für viele als Auftakt der Männerforschung in Deutschland gilt, ist längst zu einem Klassiker auch der Gewaltforschung geworden. Zu Theweleits 80. Geburtstag stellen wir Ihnen hier das Standardwerk mit einer erweiterten Neuauflage vor, das so aktuell in die Zeit passt, nicht zuletzt durch Putins aggressive kriegerische Machtdemonstration in der Ukraine das Männerbild hinterfragend.
Angesichts der Rückkehr rechten Strassenterrors und faschistoider Positionen, die viele schon an Weimarer Verhältnisse denken lassen, sowie von Propagandafeldzügen gegen freiere Sexualitäten – Stichwort: «Genderwahn» – sind die Analysen des Buches viel zu brennend, um es im Regal der grossen Werke ins Archiv zu stellen. In dieser um ein langes Nachwort des Autors ergänzten Neuausgabe wird Theweleits epochales Werk nun endlich wieder verfügbar und diskutierbar, politisch neu nutzbar.
Auszug aus der Laudatio von Sigrid Löffler für den Adorno-Preisträger Klaus Theweleit
am Samstag, den 11. September 2021, in der Frankfurter Paulskirche
«Kann man heute noch jemandem begreiflich machen, welch überwältigenden Eindruck damals, vor fast 45 Jahren, Klaus Theweleits «Männerphantasien» auf Leute meiner Generation machten?
Dieses Buch hat elektrisiert, denn es hat herausgefordert, den Blick auf sich selbst, auf die Geschichte und auf die Welt zu ändern. Zu lesen war unächst eine neuartige Faschismus-Deutung, in der Geschlechter-Psychologie, Patriarchats-Kritik und Gewalt-Diskurs zusammengedacht wurden.
«Männerphantasien» lieferte eine grosse ideologiekritische Untersuchung über Selbstbild und Frauenbild faschistischer Männer der 1920er Jahre, so, wie sich diese aus der zeitgenössischen Freikorps-Literatur, den Selbstzeugnissen von Angehörigen paramilitärischer Kampfbünde in der Weimarer Zeit, herausfiltern liessen.
Bei intensiverer Lektüre wurde dann deutlich, womit man es hier eigentlich zu tun bekam: nämlich mit einem alle akademischen Grenzen überschreitenden Diskurs-Epos über die Vieldeutigkeiten und Ambivalenzen männlicher Affektivität bei Angst, Begehren, Macht, Gewalt und Terror. Dieser Gross-Essay kreiste um den Zusammenhang zwischen Mann-Sein und Deutsch-Sein, betraf aber auch jemanden wie mich, eine nicht-deutsche Frau, ganz existenziell.
In der Lektüre dieser summa cum laude ausgezeichneten literaturwissenschaftlichen Doktorarbeit von 1977 eröffnete sich etwas, das es bislang nicht gegeben hatte. Hier wurde aus der Freikorps-Literatur, die von der Wissenschaft bislang kaum beachtet worden war, eine postfreudianische Faschismus-Theorie entwickelt, basierend auf der Analyse der Modellierung männlicher Emotionalität im Patriarchat. Faschismus wurde als Grenz- und Extremfall männlicher Herrschaft gedeutet, als eine Art Mangelerkrankung der männlichen Psyche, die mit Aggressivität auf die Furcht vor dem Weiblichen und damit die Angst vor der Ich-Auflösung reagierte – mit Gefühlspanzerung und Gewalt gegen sich selbst und andere, nicht zuletzt gegen Frauen, um derart männliche Selbststabilisierung zu gewährleisten.
Zugleich zog dieses Buch Entwicklungslinien bis ins Heute, liess sich auch lesen als Kommentar zum Geschlechterverhältnis von Männern und Frauen in der Gegenwart. Wie gegenwartsrelevant diese Angstlust- und Gewaltphantasien soldatisch zugerichteter Männer der Weimarer Zeit erschienen, wurde erkennbar schon daran, dass diese Analyse faschistischer Texte durchwegs im Präsens geschrieben war.
Männliche Leser mögen sich durch die Lektüre veranlasst gesehen haben, den faschistischen Mann in sich selbst zu suchen. Ich meinerseits fühlte mich durch «Männerphantasien» auf doppelte Weise angesprochen.
Zum einen wegen der klaren Herleitung und Benennung der Machtverhältnisse zwischen Männern und Frauen – schliesslich war ich als Frau im Männerberuf Journalismus täglich mit männlichen Projektionen konfrontiert.
Und zum andern wegen der Bedeutung, die hier der Psychoanalyse beigemessen wurde – eine Genugtuung, nachdem die Psychoanalyse zeit meines Studiums an der Wiener Universität wegen des dort fortdauernden Freud-Boykotts als Irrlehre verpönt und geächtet war. Hier jedoch fungierte die Psychoanalyse als zentrales Erkenntnis-Instrument, auch wenn sich der Autor unter Berufung auf den «Anti-Ödipus» von Deleuze und Guattari von Freud absetzte, indem er seinen Fokus auf das prä-ödipale Unbewusste, die «Wunsch-Maschine», richtete und vor allem die prä-ödipalen Impulse seiner faschistischen Test-Männer analysierte.
Hinzu kam als Novum für eine akademische Dissertation die völlige Absenz jeder zwanghaft akademischen Sprachlichkeit. Für seine mentalitäts-, medien- und ideengeschichtliche Kulturkritik hatte sich der Autor einen ganz eigenen singulären Schreibstil zurechtgelegt – provokant anti-akademisch, anarchisch, aber zugleich angereichert mit vielerlei gelehrten Theorien.
Dieser Text verzweigte sich mäandernd in viele Richtungen und uferte scheinbar unmethodisch und wie improvisierend aus in einem unbändigen, assoziativen Erzählstil, der sich über alle Sprachregelungen etwelcher Denkschulen hinwegsetzte, befreit von allen Eindämmungen und Regulierungen genormter Wissenschaftsprosa. In einem unverschämt lockeren Parlando bahnte er sich seine ganz eigenen Argumentationspfade und Theoriewege.
Diese Sprache hatte das germanistische Seminar, dem sie entlaufen war, weit hinter sich gelassen. Der Text war gespickt mit Anmerkungen, Abschweifungen und Exkursen, wobei die digressiven Bewegungen die progressiven nie aus den Augen verloren, sie vielmehr munter in Schwung hielten. Ihrem Fussnoten- und Annotierungsapparat zum Trotz glich diese Prosa eher einer multimedialen Jam-Session als einem akademischen Zunft-Opus. Das war überraschend, erfrischend, befreiend, unendlich anregend und lustvoll zu lesen».
Klaus Theweleit, 1942 in Ostpreussen geboren, studierte Germanistik und Anglistik. Heute lebt er als freier Schriftsteller mit Lehraufträgen in Deutschland, den USA, der Schweiz und Österreich. Zwischen 1998 und 2008 war Theweleit Professor für Kunst und Theorie an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Karlsruhe. Er wurde bekannt durch sein Monumentalwerk Männerphantasien (1977/78), das bei Matthes & Seitz Berlin 2019 in Neuauflage erschienen ist.
Klaus Theweleit
Männerphantasien
Matthes & Seitz, Berlin 2019
Erweiterte Auflage mit Nachwor
Geb., 1278 S., CHF 68.90
ISBN 978-3-95757-759-7