«Mieko Kawakami: Frauenkörper, Intimität und Rollenerwartungen»
Von Ingrid Isermann
Wer schön sein will, muss leiden, sagt der Volksmund. Frauen unterwerfen sich seit jeher einem Schönheitsideal und sind selten zufrieden mit ihrem Körper. Die Problemkreise hat Mieko Kawakami (*1976) mit Verve und Witz, Humor und Satire unterhaltend diskursiv zur Sprache gebracht.
Sayonara, Japan… was für Erinnerungen… als unsere Reisegruppe mitten im geschäftigen Stadtteil Shibuya in Tokyo das bronzene Denkmal eines Hundes bewunderte, der nach dem Tod seines Herrchens jahrelang auf ihn gewartet hatte… als ich mich ungefragt von der Reisegruppe entfernte, in ein Taxi stieg und ins Hotel Park Hyatt fuhr, wo der Film Lost in Translation von Sofia Coppola gedreht wurde … und wie ich in der Hotelbar im obersten Stock über die Dächer von Tokyo auf den schneebedeckten Fujiyama blickte und der Pianist am Klavier Evergreens spielte…
Zwischen Kirschblütenträumen und Hygiene… Maskenträger gab es in Japan schon lange vor Corona, die Toiletten sind die hygienischsten der Welt im noch so kleinsten Ort. Japan ist speziell und so surrealistisch wie in dem begeisternden Roman von Mieko Kawakami.
Ein Sommertag in Tokyo. Die dreissigjährige Natsuko bekommt Besuch von ihrer älteren Schwester Makiko und ihrer Nichte Midoriko. Makiko hadert seit Jahren mit ihrem Körper und ist davon besessen, sich einer Brustvergrösserung zu unterziehen. Derweil ist die zwölfjährige Midoriko von der beginnenden Pubertät überfordert und unfähig, in einer Gesellschaft, die alles Intime und Körperliche tabuisiert, ihre Ängste zu kommunizieren.
Auch Natsuko muss sich fragen, welche Rolle ihr als unverheirateter, kinderloser Frau bleibt. Sie wünscht sich ein Kind, hat aber keinen passenden Partner. Ihre Suche nach einem Samenspender ist ein Fiasko. Der Wunsch, Mutter zu werden wird speziell für Karrierefrauen zum Wettlauf mit der Zeit, wenn sich keine Schwangerschaft einstellt. Oder eine Samenbank bemüht werden soll. Oder wenn Komplikationen auftreten, die die Gesundheit gefährden.
Mieko Kawakami schreibt unverhohlen und ohne Scheuklappen über gesellschaftliche Zwänge und die weibliche Unterdrückung im heutigen Japan und entwirft dabei ein Panorama weiblicher Stärke.
Mieko Kawakami, geboren 1976 in Osaka, Japan, begann als Sängerin und Songschreiberin, bevor sie 2007 ihr literarisches Debüt vorlegte, für das sie mit dem Tsubouchi-Shoyo-Preis für Nachwuchsschriftsteller*innen ausgezeichnet wurde. Im folgenden Jahr veröffentlichte Kawakami die Novelle «Brüste und Eier», die die Grundlage des vorliegenden Romans bildet. Hierfür gewann sie den Akutagawa-Preis, Japans wichtigste literarische Auszeichnung, und etablierte sich als eine der bedeutendsten japanischen Autor*innen der Gegenwart.
Leseprobe:
1 Habt ihr Fenster?
Wenn man wissen will, wie arm jemand war, fragt man ihn am besten, wie viele Fenster die Wohnung hatte, in der er aufgewachsen ist. Was er aß oder wie er sich kleidete, spielt keine Rol-le. Um herauszufinden, wie arm jemand war, muss man ihn nach der Zahl seiner Fenster fragen. Genau, der Zahl seiner Fenster. Je weniger Fenster jemand hatte – falls er überhaupt eines hatte –, desto größer die Armut.
»So ein Quatsch«, widersprach mir mal eine Bekannte. »Stell dir vor«, argumentierte sie, »dieses eine Fenster ist riesengroß und geht zum Garten. Eine Wohnung mit so einem großen, schönen Fenster hat doch nichts mit Armut zu tun.«
Das, finde ich, kann nur jemand sagen, der nie arm war. Ein großes Fenster. Ein schönes Fenster? Und was soll das heißen: Garten?
Menschen, die in Armut leben, denken nicht in Kategorien von »großen« oder »schönen« Fenstern. Für sie ist ein Fenster das schwarze Glasbrett hinter Schränken und Regalen, das sie noch nie offen gesehen haben. Oder das schmutzige Viereck neben dem fettverkrusteten Küchenventilator, den sie noch nie haben rotieren sehen.
Mit anderen Worten: über Armut sprechen wollen oder können nur Arme. Menschen, die arm sind, oder Menschen, die arm waren. Ich bin sowohl als auch. Ich war und bin arm.
Dass mir derlei Gedanken und Erinnerungen durch den Kopf gingen, lag vielleicht an dem Mädchen, das mir gegenübersaß. Die Yamate-Linie war in den Sommerferien leerer als gedacht; die Fahrgäste saßen da, spielten an ihren Handys oder lasen Bücher. Das Mädchen, das acht oder auch zehn Jahre alt sein mochte, saß zwischen einem Pärchen – einem jungen Mann mit einer Sporttasche neben sich auf dem Boden und einer jungen Frau, die auf dem Kopf einen Haarreifen mit einer großen, schwarzen Schleife trug –, schien aber nicht dazu zugehören.
Es war braun und mager. Das Braun ließ seine Schuppenflechte umso deutlicher hervortreten. Die Beine, die unter dem kurzen Hosenrock hervorschauten, waren praktisch genauso dünn wie die Arme, die aus dem hellblauen Tanktop ragten. Als ich es mit zusammengepressten Lippen und hochgezogenen Schultern so dasitzen sah, musste ich unwillkürlich an meine eigene Kindheit denken, und da kam mir das Wort Armut in den Sinn.
Ich starrte auf das u-förmig ausgeschnittene, hellblaue Top und die Sneaker, deren ursprüngliches Weiß unter den vielen Flecken kaum noch zu erkennen war. Was, wenn das Mädchen aus irgendwelchen Gründen den Mund aufmachte und nichts als faule Zähne zum Vorschein kämen? Gepäck hatte es anscheinend auch nicht dabei. Keinen Rucksack, keine Tasche, keine Handtasche. Hatte es Fahrkarte und Geld in der Hosentasche? Nicht dass ich wüss- te, in welchem Aufzug Mädchen in dem Alter heute in die Bahn stiegen, aber dass es rein gar nichts bei sich trug, gab mir irgendwie zu denken.
Je länger ich die Kleine ansah, desto stärker wurde mein Bedürfnis, aufzustehen, einen Schritt auf sie zuzugehen und sie anzusprechen. Das Bedürfnis, ein Wort mit ihr zu wechseln, ein Wort wie ein Zeichen, das man in sein Notizbuch kritzelt, das niemand versteht, außer man selbst. Aber was sollte ich sagen? Mit strohigem Haar, und danach sah ihres aus, kannte ich mich aus. Das flattert nicht, stimmt’s, nicht mal bei Wind. Oder: Keine Sorge. Wenn du erwachsen bist, verschwindet die Schuppenflechte von selbst. Oder sollte ich doch die Fensterfrage stellen? Wir hatten keine Fenster, durch die man nach draußen sehen konnte. Habt ihr?
Ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr. Genau zwölf. Unbeeindruckt von der mittsommerlichen Hitze fuhr die Bahn dahin. »Nächste Station Kanda«, tönte es gedämpft aus dem Lautsprecher. Der Zug fuhr ein, und als sich die Türen mit einem Seufzer öffneten, torkelte ein zu dieser Stunde schon sturzbetrunkener älterer Mann herein. Reflexartig machten einige Fahrgäste Platz, woraufhin der Mann ein leises Knurren von sich gab. Das graue Haar hing ihm wie entwirrte Stahlwolle bis auf die Brust seiner zerschlissenen Arbeiterkluft. In der einen Hand hielt er eine zerknautschte Plastiktüte, mit der anderen griff er vergeblich nach einer der Halteschlaufen, verlor dabei das Gleichgewicht und geriet ins Taumeln. Die Türen schlossen sich und die Bahn setzte sich wieder in Bewegung. Als ich nach vorne sah, war das Mädchen verschwunden.
Tokyo Station. An der Sperre hielt ich angesichts der unglaublichen Menschenmengen, die werweißwoher kamen und nach werweißwohin gingen, unwillkürlich inne. Das war keine bloße Menschenmasse, das war ein Wettkampf. Das Gefühl, die Einzige zu sein, die die Regeln nicht kennt, ließ mich zögern. Ich fasste meine Schultertasche fester und holte Luft.
In diesem Bahnhof hatte ich zum ersten Mal vor zehn Jahren gestanden. Es war der Sommer, in dem ich zwanzig geworden war, und wie heute war es so heiß gewesen, dass man mit dem Schweißabwischen gar nicht hinterher kam. Den robusten, riesigen Rucksack, den ich mir nach langem Überlegen noch zu Schulzeiten in einem Secondhandladen gekauft hatte (immer noch mein bestes Stück), bepackt mit knapp zehn Büchern von Autoren, die ich keine Sekunde missen wollte, hätte ich besser mit Umzugsgepäck gefüllt und verschickt, anstatt ihn wie einen Glücks- bringer auf dem Rücken zu tragen. Seitdem waren zehn Jahre ins Land gegangen, wir schrieben das Jahr 2008. Die Frage, ob sich mein zwanzigjähriges Ich mein jetzt dreißigjähriges in etwa so ausgemalt hat, müsste ich wohl verneinen. Meine Texte wurden immer noch nicht gelesen (der praktisch unauffindbare Blog, auf dem ich manchmal etwas postete, wurde pro Tag von höchstens einer Handvoll Leute besucht) geschweige denn gedruckt. Ich hatte keine Freunde. Und an meinem Leben, das ich mit den hundertzwanzig-, hundertdreißigtausend Yen bestritt, die ich als Aushilfe verdiente, obwohl ich Vollzeit arbeitete, der Wohnung unter einem windschiefen Dach, zwischen Wänden, an denen die Farbe abblätterte, und einem Fenster, durch das am Nachmittag die Sonne knallte, sowie dem unablässigen Schreiben, ohne zu wissen, wohin es führen soll, hatte sich auch nichts geändert. Das Einzige, was sich in meinem Leben, das einem Regal in einem alten Buchladen glich, wo immer noch die Titel standen, die zu den Zeiten meiner Eltern aktuell gewesen waren, verändert hatte, war mein Körper, der zehn Jahre älter geworden war. Mehr nicht.
Ich sah auf die Uhr. Zwölf Uhr fünfzehn. Da ich nun doch eine Viertelstunde zu früh war, lehnte ich mich an einen der kühlen Betonpfeiler und beobachtete das Gewusel. Von links nach rechts rauschte eine schwer bepackte Großfamilie durch die Stimmen und Geräusche. Eine andere Familie tauchte auf. Einem kleinen Jungen, den seine Mutter fest an der Hand hielt, baumelte eine zu große Trinkflasche um den Hintern. Irgendwo schrie ein Baby. Breit lachend eilte ein Pärchen vorbei, sowohl er als auch sie geschminkt.
Ich zog mein Handy aus der Tasche und vergewisserte mich, dass keine neue Mail oder SMS von Makiko eingegangen war. Dann wären die zwei pünktlich in Osaka in den Zug gestiegen und kämen in fünf Minuten an. Wir hatten abgemacht, uns am Nordausgang der Marunouchi-Linie zu treffen. Obwohl ich Makiko einen Plan geschickt und alles genau erklärt hatte, wurde ich nervös. Ich sah noch einmal nach dem Datum. Zwanzigster August. Richtig. Für diesen Tag hatten wir uns um zwölf Uhr dreißig am Nordausgang der Marunouchi-Linie verabredet.
Warum man das Wort ranshi – Eizelle – hinten mit dem Zeichen für »Kind« schreibt? Ganz einfach. Weil man seishi – Samenzelle – hinten auch so schreibt. Das ist meine Entdeckung des Tages. Ich war ein paarmal in der Schulbücherei, aber wenn man ein Buch ausleihen will – so furchtbar viele haben die gar nicht –, muss man jede Menge Formulare ausfüllen, es ist eng und dunkel, und manche Leute sind so neugierig, dass man das Buch immer schnell verstecken muss, wenn einer kommt. Deshalb gehe ich in letzter Zeit in eine richtige Bibliothek. Da gibt es auch Computer, die man benutzen kann. Die Schule nervt sowieso. Schule ist doof. Alles Mögliche ist doof. So etwas zu schreiben ist natürlich auch doof, Schule geht vorbei, deshalb ist es egal, aber Familie geht nicht vorbei, deshalb kann ich an nichts anderes denken. Schreiben kann man überall; man braucht nur Stift und Papier; es kostet nichts und man kann schreiben, was man will. Sehr praktisch. Das Wort leidig kann man mit dem Zeichen für »unliebsam« oder dem Zeichen für »eklig« schreiben, und weil das Zeichen für »eklig« wirklich eklig aussieht, werde ich das gleich üben. Eklig, eklig.
Midoriko
Makiko war meine Schwester. Sie war neununddreißig, neun Jahre älter als ich, und hatte eine fast zwölfjährige Tochter namens Midoriko, die sie, nachdem sie sie mit siebenundzwanzig zur Welt gebracht hatte, allein erzog.
Mit achtzehn war ich für ein paar Jahre zu Makiko und ihrer neugeborenen Tochter gezogen. Da Makiko sich schon vor Midorikos Geburt von ihrem Mann getrennt hatte und ich in ihrer Wohnung ein- und ausging, um ihr zur Hand zu gehen, hatte sich das angeboten, auch aus finanziellen Gründen. Soweit ich weiß, hat Midoriko ihren Vater nie kennengelernt. Sie ist großgeworden, ohne auch nur das Geringste von ihm zu wissen.
Warum Makiko sich von ihrem Mann getrennt hat, weiß ich immer noch nicht. Ich erinnere mich, dass wir damals häufiger über die Scheidung und ihren Ex-Mann sprachen, ich erinnere mich sogar, dass ich dachte, ogottogott, aber worauf sich dieses Ogottogott konkret bezog, daran erinnere ich mich nicht. Hatte Makiko ihren Ex-Mann, der aus Tokyo stammte, nicht bei seinem arbeitsbedingten Umzug nach Osaka kennengelernt und war kurz darauf schwanger geworden? Jedenfalls erinnere ich mich, wenn auch nur leise, dass er Hochjapanisch sprach, was man in Osaka damals so gut wie nie hörte.
Ursprünglich hatten Makiko und ich mit Mutter und Vater in der dritten Etage eines kleinen Geschäftshauses gewohnt.
Die Wohnung bestand aus zwei hintereinander liegenden Zimmern, das eine sechs, das andere vier Matten groß. Im Erdgeschoss war eine Kneipe. Ein paar Schritte weiter, und man war in der Stadt. Die Stadt lag am Meer. Ich habe Ewigkeiten damit zugebracht, bleischwarzen Wellenbergen dabei zuzusehen, wie sie heranrauschen und an den grauen Wellenbrechern zerschellen. Bei Einbruch der Dunkelheit füllten sich die Straßen, in denen man überall die feuchte Luft des Meeres und die rauen Wellen spürte, mit randalierenden Betrunkenen. Oft sah ich welche am Straßenrand oder an Gebäuden hocken. Geschrei und Prügeleien waren an der Tagesordnung. Einmal landete sogar ein Fahrrad vor meinen Füßen, das jemand auf die Straße geschleudert hatte. Die Hunde, die hier und da herumstreunten, setzten Babyhunde in die Welt, die bald ihrerseits hier und da herumstreunten und Babyhunde in die Welt setzten. In dieser Wohnung wohnten wir allerdings nur ein paar Jahre. Kurz nach meiner Einschulung verschwand mein Vater, und Mutter, Makiko und ich zogen zu meiner Großmutter in die Siedlung.
Mein Vater, mit dem ich insgesamt nur knapp sieben Jahre verbracht habe, war so klein, dass ich als Kind schon wusste, dass er klein war. Man hätte ihn für einen Grundschüler halten können.
Oma Komi, meine Großmutter mütterlicherseits, hasste ihn. Er arbeite nicht, läge den lieben langen Tag herum und fiele ihrer Tochter nur zur Last, sagte sie und nannte ihn hinter seinem Rücken »Ratte«. Mit einem gelb verfärbten Unterhemd und langen Unterhosen bekleidet, lag mein Vater von früh bis spät im Bett und sah fern. An seinem Kopfkissen türmten sich Zeitschriften und leere Dosen, die ihm als Aschenbecher dienten, das Zimmer war ständig verqualmt. Jede Bewegung war ihm zu viel; manchmal benutzte er einen Handspiegel, um zu uns herüberzusehen, so faul war er. Wenn er gut gelaunt war, erzählte er schon mal einen Witz, aber im Grunde war er ein schweigsamer Mensch, und ich kann mich nicht erinnern, dass er jemals mit uns gespielt oder etwas unternommen hätte. Wenn seine Laune kippte – wir konn- ten schlafen, fernsehen oder auch gar nichts tun –, fing er plötzlich an zu brüllen, und wenn er getrunken hatte, rutschte ihm schon mal die Hand aus. Anfänglich hatte er nur unsere Mutter verprügelt, aber da er unter irgendwelchen Vorwänden zunehmend auch Makiko und mich verdrosch, fürchteten wir diesen kleinen Mann bald mit ganzer Seele.
Eines Tages kam ich von der Schule, und mein Vater war nicht da. Obwohl sich die Wäsche türmte und es im Zimmer so eng und dunkel war wie immer, sah alles, allein weil mein Vater nicht da war, völlig anders aus. Ich schluckte, dann stellte ich mich mitten ins Zimmer und rief. Erst leise, als wollte ich meine Stimmbänder testen, dann laut. Ich brüllte, was mir in den Sinn kam. Niemand war da. Niemand schimpfte. Ich sprang und hüpfte herum. Je mehr ich sprang und hüpfte, desto leichter wurde mir. Plötzlich hatte ich Energie. Der Staub auf dem Fernseher, das schmutzige Geschirr in der Spüle, die Aufkleber am Geschirrschrank, die Kerben am Pfeiler, die zeigten, wie ich gewachsen war – all das schien plötzlich, wie mit Zauberpuder bestäubt, zu strahlen.